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40 Jahre Wanderfreunde

Aus Stefan Niggemeiers gerne bespielter Rubrik „Original und Kopie“, oder: „Pressemitteilungen und Lokaljournalismus. Eine Symbiose.“ Obwohl ich in Wahrheit noch gar nicht weiß, ob es sich bei der Grundlage der bis auf die letzten zwei Sätze fast identischen Texte wirklich um eine Pressemitteilung der Wanderfreunde Nieukerk handelt oder ob die Rheinische Post und das Anzeigenblatt Niederrhein Nachrichten längst eine Mantelredaktion gebildet haben, möchte ich sagen: Die faulen Redakteure machen nicht mal mehr vor meiner Oma halt.

"Freude an der Geselligkeit": Niederrhein Nachrichten, 8. Dezember 2011 (Klick zur Vergrößerung)

Auf einer Lokalseite namens "Heimatreporter": Rheinische Post, 13. Dezember 2011 (Klick zur Vergrößerung)

Nachtrag: Der Vereinsvorsitzende klärt auf Nachfrage per E-Mail hier in der Kommentarspalte auf.

Hochzeit auf der Putenfarm

Vor ein paar Tagen bekam ich Post vom Niederrhein. Ein Kollege schrieb: „Wie ich bei einem Blick auf deinen Blog festgestellt habe, kommst du ja aus Nieukerk. Ich bin inzwischen bei der Rheinischen Post und sprang auch schon in deiner alten niederrheinischen Heimat herum.“ Natürlich war schon diese Nachricht eine Sensation. Dass jemand dort hingeht, von wo andere kommen. Dass die Geschichten buchstäblich vor der Türe liegen. Dass ich nicht selbst darauf gekommen bin. Ein paar Wochen zuvor aber bekam ich schon einmal Post vom Niederrhein, die mich noch ungleich fröhlicher stimmte – und der ich genau an jenem Tag, da ich besagte E-Mail bekam, nachging: eine Einladung zur Hochzeit auf der Putenfarm in Geldern-Boeckelt. (mehr …)

Zwölf zu Null

Sportplatz „Am Aermen Düwel“, Kerken-Nieukerk, irgendwann in den frühen Neunzigern. Vielleicht waren es auch die späten Achtziger, ich weiß es nicht, ich war ja noch klein. Und bis dahin ein besonders hoffnungsloser Fall innerhalb der Vereinsjugend des TSV Nieukerk. Aber heute sollte alles anders werden, denn heute war das Schlusslicht der E-Jugend zu Gast: SV Lüllingen. Ein Kellerduell der Sonderklasse.

Es war Sommer, es war heiß, ich hatte das gelbe Trikot a.k.a. Leibchen und das blaue Höschen angezogen und die Schuhe geschnürt. Locken und Schnute saßen, ich saß auf der Bank. Alles wie immer. Wir hatten uns Chancen ausgerechnet, und das taten wir nur noch selten. Anpfiff, es ging los, zwei Minuten später: Tor für uns. Von dort an ging alles ganz schnell. Nach dem 3:0 wusste mein Trainer: „Das Ding klaut uns heute keiner“. „Fabian drauf!“, rief er plötzlich, ich traute meinen Ohren kaum. Ich? Fliegender Wechsel? Mit meiner Kondition wie ein Haribobär? Bei diesem Wetter? In meiner Lieblingsposition als Vorstopper (man stört keinen und hat trotzdem das Gefühl, dazu zu gehören) wurde ich eingesetzt, aber die Position war egal. Erstens lief ich eh nicht immer dahin, wo ich sollte, und zweitens hat selbst das dem Gegner keine Chancen eröffnet, Talent spielte keine Rolle. Wenn wir den Ball nur zufällig getroffen haben, trafen sie ihn konsequent nicht. Ich weiß noch, dass ich während dieses Spiels ungefähr sechs Mal im Abseits stand, weil ich die Regel auch nach der dritten Erklärung nicht kapieren wollte. Ich weiß aber auch noch, dass ich im Laufe der nächsten, sagen wir, 20 Minuten Einsatzzeit, TROMMELWIRBEL, drei (in Zahlen: 3) Tore schoß. Ich weiß nicht mehr, wie das passieren konnte. Aber man kann sich anhand allein meiner Abseitsstellungen und Tore ausrechnen, wie viele Chancen wir insgesamt gehabt haben müssen. Viele. Ich erinnere mich auch nicht mehr an Spielminuten, Regelverstöße oder Rufe der aus familiären Gründen treuen Fans am Spielfeldrand. Ich erinnere mich nur noch an den Endstand: 12:0.

So oder so ähnlich muss es gewesen sein, damals. Ich hätte an diesem Höhepunkt meine Karriere beenden sollen. Stattdessen machte ich noch ein paar Monate als Bankdrücker weiter. Mein erster Trainer „Popo“ Prellwitz meinte es immer gut mit mir, sein Nachfolger Detlef Baumeister auch. Mein Talent konnten sie aber leider nicht schönreden. Ich versuchte es mit Tischtennis. Aber das ist ein anderes Kapitel meiner Dorfjugend. Auch Fotobeweise gibt es von diesem Spiel keine. Hätte mir ja eh niemand geglaubt.


Der Wendler und sein Clan

Das Fernsehjahr 2010 meint es mal wieder gut mit Voyeuren und Geltungssüchtigen: Dieter Bohlen wirbt mit dem Spruch „So singet recht, sonst wird mir schlecht“ für die achte Staffel der Castingshow „Deutschland sucht den Superstar“ (DSDS), Köln-Hürth beherbergt für „Big Brother“ zum zehnten Mal eingesperrte Containerbewohner (Start: 11. Januar, 19 Uhr, RTL 2), bei „Bauer sucht Frau“ wird jetzt geheiratet. Und dann ist da noch eine so genannte Dokumentation über einen Kerl, von dem die Nation wirklich schon lange einmal wissen wollte, wie er hinter verschlossenen Türen so abgeht: Michael Wendler, der egozentrischste Schlagersänger seit der Erfindung des 3/4-Takts, führt in „Der Wendler-Clan“ vor laufenden Kameras den Bau seiner Prachtranch im heimischen Dinslaken, seine ebenso unglaubliche Familie und somit sich selbst vor. Eine Paraderolle.

Der König des Popschlagers

Erst die Dorfdiskos, dann die Aprés Ski-Hallen der Republik – der aufhaltsame Aufstieg des Michael Wendler (37) liest sich wie ein Drehbuch für ein Format, das wie eine Parodie auf „MTV Cribs“ anmutet und in erster Linie unterhalten will: Vor ein paar Jahren noch ist in Dinslaken, einer sonst so tristen Kleinstadt zwischen Ruhrpott und Niederrhein, auf Michael Wendler, diesen Möchtegern-Popstar, niemand gut zu sprechen. Wendler, so heißt es, beauftrage lokale Baufirmen und zahle die Rechnungen nicht. Dann kommen die Kredite und sein größter Hit. „Sie liebt den DJ“, ein Song wie ein Spiegelbild seines Urhebers.

„Der Wendler“, wie er sich selbst liebevoll in der dritten Person nennt, inszeniert sich selbst als sympathischen Self-Made-Man, dem die Frauen und das Glück zu Füßen liegen. Als einer, der es aus eigenem Antrieb geschafft hat. „Der Wendler-Clan“, erklärt Michael Wendler selbst gegenüber Bunte Online, „wird mich von einer persönlichen Seite zeigen, so dass die Menschen zum Beispiel sehen können, dass ich ein großer Familienmensch und bodenständig bin“. In der Sendung sieht man dann seine sehr blonde Ehefrau Claudia, seine Mutter (der Vater wollte nicht), seine Schwiegereltern – und seine Tochter, die wegen maßlosen Ärgers, den sie wegen eines verschütteten Kakao einstecken muss, schon mal in Frage stellt, warum ihre Eltern sie überhaupt bekommen haben. Sie kann einem leidtun.

Heute, so ist sich Wendler sicher, sind die Leute neidisch, „weil ich Sachen mache, die in unserer Gesellschaft verpönt sind, nämlich das zu zeigen, was ich mir erarbeitet habe. “ Vor der Baustelle seines zukünftigen Anwesens prangt ein Schild mit der Aufschrift: „Hier baut Michael Wendler – Der ,König des Popschlagers‘ – sein Märchenschloss.” Seinen Drang nach Öffentlichkeit und seine Selbstdarstellung in einer Stadt, die mit Monaco oder Beverly Hills so gar nichts gemein haben will, erklärt der Wendler im Bunte-Interview so: „Gerade in so einer Kleinstadt sollen die Leute sehen, dass man Träume verwirklichen kann.“

„Der Wendler-Clan“ lief seit 3. Januar 2010 jeden Sonntag um 19 Uhr auf SAT.1 und wurde mittlerweile abgesetzt.

(erschienen auf: BRASH.de, 4. Januar 2010)

Kilians auf der Eierwiese in Dinslaken

Der Kühlschrank ist halbvoll

Sie ließen nichts anbrennen: Vor zwei Jahren noch galten die Kilians mit ihrem schmissigen Garagenrock als vorlaute Wunderkinder des deutschen Indierocks. Überraschend geläutert kommt ihr „Kill The Kilians“-Nachfolger „They Are Calling Your Name“ um die Ecke. Folgen Taten auf Worte? Eine Fährtensuche.

Bahnhof Dinslaken. 13 Uhr, ein wolkenverhangener Samstag. Die Züge fahren halbstündlich und in zwei Richtungen, entweder nach Wesel oder nach Duisburg. Fussballfans steigen ein, keiner aus. Hauptbahnhof steht nirgends geschrieben, es gibt ja nur den einen. Alles wie immer, niemand landet zufällig in dieser durchschnittlichen Kleinstadt im nordöstlichen Speckgürtel des Ruhrpotts. Es sei denn, er oder sie ist zu Besuch oder wurde hier geboren. So wie Simon Den Hartog, Trademarkstimme und Songschreiber des Dinslakener Exportschlagers Kilians. Auf dem Bahnhofsvorplatz steht er, Wollmütze und Jacke ins Gesicht gezogen, den Rucksack umgeschnallt. Er könnte abreisen wollen, ist aber gerade angekommen. Aus Köln, mit der Bahn, er wohnt da jetzt, studiert SoWi oder ist zumindest eingeschrieben. „Zuviel Mathematik“. Einen Sänger einer Rockband stellte man sich in seiner Heimat vermutlich anders vor, ein Rockstarleben nicht: Simon krächzt zur Begrüßung, mehr Ränder als Augen. Die Stimme hat er in der Stadt gelassen, dafür ein paar Kratzer, Rückenschmerzen und eine neue Geschichte im Gepäck: Vor zwei Tagen spielten die Kings Of Leon im Palladium. Die Kilians sind Fans und waren da, Simon berichtet vom Konzert. Und von zuviel Bier und Adrenalin. An mehr erinnert er sich kaum. Die Story, die er sich aus den Fetzen dieser Nacht zusammenreimt und nachher seinen Bandkollegen zum Besten geben wird, erzählt man besser nicht. „Wenn das meine Mama erfährt….“.

Kilians
Stolz auf ihre Heimat. Die Kilians aus Dinslaken
Die Touren, die Parties, das plötzliche Interesse an ihnen, die ihre Band genau wegen diesen Vorzügen und als Flucht aus der heimischen Langeweile gründeten – das ging alles sehr schnell für Simon und die vier anderen Kilians Michael „Mika“ Schürmann (Schlagzeug), Dominic Lorberg (Gitarre), Arne Schult (Gitarre) und Gordian Scholz (Bass). Vor rund vier Jahren gründeten sie, damals nur Schulbekannte, The Rivets und nannten sich noch vor den ersten Schulkonzerten in The Kilians um, nach dem Kilian in Carl Zuckmayers „Der Hauptmann von Köpenick“. Simon war zu dieser Zeit 16 Jahre alt, die anderen Jungs kaum älter. Nur Gordian war schon 23. Auf der Eierwiese, einem kaputten Stück Rasen gleich neben dem Gustav-Heinemann-Schulzentrum in Dinslaken traf man sich früher. Erst Fussball spielen. Dann rauchen, trinken, abhängen. Simon versuchte sich damals noch am Schlagzeug, schrieb an einem solcher Abende mit einem Kumpel und einer Gitarre „Fight The Start“, den ersten Song der Kilians. Dann türmen sich die Wendepunkte im Leben fünf Heranwachsender: Abitur, Führerschein, vier stürmische, vor abgeklärter Lässigkeit nur so strotzende Songs auf einer Demo-EP namens „Fight The Start“ und ein jubelnder Empfänger namens Thees Uhlmann. Der Tomte-Sänger sorgte für den nötigen Hype, nahm die Kilians unter seine Fittiche und ins Vorprogramm der „Buchstaben Über Der Stadt“-Tour. Von dort an ging alles noch schneller. Uhlmanns Label Grand Hotel Van Cleef sah bei sich nicht die notwendigen Kapazitäten, die Kilians seien für Größeres bestimmt. Milchkannen bespielten sie nur kurz, enterten erst Festivals auf dem Busdach eines Energydrink-Sponsors und unterschrieben dann einen Plattendeal bei Universal. Schnell musste es gehen, der Auftrieb durfte nicht abebben. Ihr juveniles Debüt „Kill The Kilians“ mutete wie ein zusammengezimmerter Schnellschuss aus erprobten Hits und neuen, durch die Bank schmissigen Songs an und fing deshalb diese Sturm und Drang-Phase auf, die in der Band und um sie herum vorherrschte. Das war 2007, die Presse bemühte sich wahlweise an Uhlmanns Hype-Vokabular, an nahe liegenden Verweisen auf The Strokes, Mando Diao, die grassierende Retro- und Garagenrock-Welle und kam besonders um die Herkunft und das Alter der Kilians – das „The“ im Namen hatten sie mittlerweile gestrichen – nicht umhin. Klar, die Vergleiche könnten schlechter sein, die ihnen zukommende Aufmerksamkeit auch. Und Simon relativiert zufrieden: „Die Eigenständigkeit wurde uns trotz aller Strokes-Verweise nie abgesprochen.“ Direkt oder indirekt aber waren sich, uns eingeschlossen, in ihren fragwürdigen Respektsbekundungen alle einig: „Gut – für eine deutsche und so junge Band…“

„I’m so proud of my hometown“ („Hometown“)

Eben darin aber liegt Fluch und Segen für die Kilians. Natürlich wird man einerseits keiner Band gerecht, wenn man sie auf ihre Herkunft und ihr Alter reduziert. Andererseits wäre „Kill The Kilians“, wären seine Urheber Mitte 30 und aus New York, zwar immer noch ein Sammelbecken der Ohrwürmer – aber gleichzeitig nicht mehr als eine Fußnote des Indierocks der Nuller Jahre. Wenn nun aber fünf Jungs aus einem bis dato unbefleckten Ort der Popgeschichte auf Anhieb so ein Debüt raushauen, zwei Jahre später ein lupenreines Radiopop-Album namens „They Are Calling Your Name“ nachlegen und im Opener „I’m so proud of my hometown“ singen, darf und muss man schon mal genauer hinsehen.

Auf dem Gelände des Gasthofs „Zum Grunewald“, an einer Landstraße draußen in Oberlohberg, versteckt sich das Hauptquartier der Kilians. Die Zeche in Lohberg steht schon lange still. Mikas Vater betreibt das alte Hotel und hat ihnen in einer alten Scheune Platz für einen Proberaum verschafft, eine viertel Stunde Autofahrt vom Bahnhof entfernt. „Wenn ein Ort in Dinslaken Bedeutung für uns hat, dann der hier“, kommentieren die Jungs ihr karges Domizil und das Lieblings-Sujet der Journalisten. Mika selbst wohnt noch im Anbau seiner Eltern, will später studieren. Für alle aber gilt: Band first. Dominic wohnt um die Ecke Dominik wohnt drei Kilometer weiter, will vielleicht zum Wintersemester ein Studium beginnen. Gordian schiebt in Bochum seine Diplomarbeit in Psychologie vor sich her, Arne wohnt in Hünxe und ist an der Uni Duisburg-Essen eingeschrieben. Und Simon macht Köln und sich selbst unsicher, wenn gerade mal keine Tour ansteht. Er fasst das so zusammen: „2007 haben wir jeden dritten Tag ein Konzert gespielt. Zu jedem gehört ein Tag Nachbereitung. Macht: Zwei Drittel des Jahres unterwegs, ein Drittel frei.“ „So eine Band ist auch ein Arbeitsverhältnis“, sagt Dominic. „Drei Wochen Spontanurlaub oder mal den Jakobsweg gehen – no way. Wir müssen abrufbar sein.“

Zwei Stunden und eine Currywurst später. Die Kilians flanieren durch ihre Stadt. Fußgängerzone, Marktplatz, Kirche, Einzelhandel, Dorfkneipen. Schon oft sollten sie erzählen, wie sie hier geprägt wurden. Sie spielen das leidige Spiel mit. Besser in Erinnerungen über Proberäume und Besäufnisse schwelgen als gar nichts zu sagen. Mitnehmen was kommt, wie auf Tour. Simon, dieser Johnny Borrell des deutschen Indierocks, gibt auch abseits der Bühne die Rampensau, sprach eben noch zwei türkische Jugendliche an der Ecke an, was sie an ihrer Stadt so geil finden. „Meine Homies“, antwortet einer. In anderen Worten sagen das auch die Kilians. Aber mit der Musik habe das nichts zu tun. Womit denn dann? „In diesem Hamburg-Song von Tomte singt Thees, dass die Stadt ihn zum Mann gemacht hat. Das möchte ich über Dinslaken nicht so sagen!“, sagt Simon. „Aber es hat mich geformt. Meine alten Freunde sind hier, meine Familie. Darum geht es doch nach der Schule: die Leute gehen weg, wollen raus, verabschieden sich. „Hometown“ sagt: Ich bin nicht stolz auf Dinslaken, weil es Dinslaken ist. Ich bin kein Lokalpatriot. Aber ich bin hier groß geworden. Niemand muss stolz auf seine Herkunft sein. Verleugnen aber kann man sie auch nicht.“

Und nach uns U2

„Ficken? Tackern!“ Drei Wochen vorher, Berlin. Promotag. Die Kilians fläzen sich in der sterilen Interviewlounge im achten Stock ihrer Plattenfirma. Gute Aussicht, hier über den Dächern der Stadt. Den spätpubertierenden Schlachtplan, den einer von den fünf Kilians an das Whiteboard gemarkert hat und der an der Kreidetafel im Proberaum auch als Arbeitstitel ihres neuen Albums herhält, müssen Außenstehende nicht verstehen. So läuft das mit gruppeninternen Running Gags, und die Kilians haben einige davon am Start. „Ach, das hat sich irgendwann verselbständigt“, kichert die eine Hälfte der Band, während die anderen sich die erste von unzähligen Zigaretten der kommenden Stunde drehen. Simon ist auch hier Rädelsführer, Interviewanlass ist „They Are Calling Your Name“, das zweite Album der Kilians. Den jetzigen Titel kann die Band selbst nicht eindeutig erklären, auch der habe sich irgendwann verselbständigt. Im Gespräch geht es aber vor allem um das Tourleben und was es mit einer Band anstellt, die in einer vergleichsweise ereignisarmen Kleinstadt aufgewachsen ist. Arne bestätigt: „Auf unserer ersten Tour mit Tomte haben wir jeden Kühlschrank leergemacht“.

Kilians auf der Eierwiese in Dinslaken
Rauchen, saufen, Fußball spielen: Die Kilians auf der Eierwiese. Da traf sich die Dorfjugend.
Simon: „Anfangs haben wir das durchgezogen: 100 Prozent auf der Bühne, 100 Prozent dahinter. Das kommt auch immer noch vor, wenn wir zuviel Zeit haben, zu früh mit dem Trinken anfangen, uns selbst abfeiern und ich Schwachsinn daherrede. Das macht der Körper aber nicht ewig mit. Ich kann mich nicht mehr jeden Tag darüber freuen, dass es umsonst Bier gibt. Die Band ist auch der Job. Man kann das aber Leuten schwer vermitteln, die es nicht selber machen.“

Dominik: „Und mit denen, die es machen, braucht man nicht mehr drüber reden.“

Zum Beispiel mit Thees, Eurem prominenten und mutmaßlichen Entdecker.

Arne: „Ach, Thees hat uns sicher nicht geschadet. Aber er ist ja auch kein Meinungsführer, kein Noel Gallagher oder so.“

Simon: „Abseits unseres Dinslakener Umfelds war er einer der ersten, der uns Selbstvertrauen zugesprochen hat. Wir hatten Glück, dass uns jemand die Türen geöffnet hat. Den Rest aber machen wir selber, in Zukunft auch.“

Vor vier Jahren noch habt Ihr in der Schulaula gespielt, heute als Vorband von Mando Diao oder den Babyshambles. Hebt man da ab?

Simon: „Mir geht’s nicht darum, wer nach uns spielt, sondern um unsere Show. Da könnten auch U2 nach uns kommen. Ich freue mich darüber, denke aber eher: „Geil, dann haben wir ein volles Haus und können abliefern.“ Außerdem sind solche Shows ja nicht die Regel, am nächsten Abend spielen wir dann wieder auf einem Münsteraner Hinterhof. Und das genauso gerne.“

Solche Shows dürften nach „They Are Calling Your Name“ weniger werden. Die neun neuen, zwischen Tour und Studio im vergangenen Herbst geschriebenen Songs klingen so retro, wie es damals zum Debüt immer hieß. Verzerrte Gitarren und Uptempo-Hits wie „Fight The Start“ oder die letzte Single „When Will I Ever Get Home“ sucht man vergebens. Es dominieren von der Akustikgitarre ausgehende Songwriterstücke, die Simon zuletzt mit Simon Frontzek, dem neuen Tomte-Keyboarder, als „Simon & Simon“ ausprobiert hat. Er selbst beschreibt den geläuterten Sound so: „Wir haben die Songs im Proberaum geschrieben. Wenn sie dort funktionieren, dann tun sie es auch im Club und im Stadion. So sollte die Platte klingen. Der Sound ist klarer, der Gesang nimmt einen anderen Wert ein. Es klingt nach Kilians.“ Es müsste schon mit dem Teufel zu gehen, ging die Karriere der Kilians hernach rückwärts Richtung Schuppen. Um als alternative Boygroup positioniert zu werden, sind die Jungs zu verschlafen und zu versoffen. Das Label aber hat trotzdem vorgesorgt: Als Radioversion wurde die fluffige Frühlingssingle „Said And Done“ mit Streichern beladen, das dazugehörige Video wurde in den Bergen Spaniens gedreht und inszeniert die Kilians als pathetische Rockband, die sie nicht sind.

Dominic: „Wir müssen uns eingestehen, dass das Label mehr Ahnung hat, wie Dinge funktionieren. Aber wir sagen sofort nein, wenn uns Entscheidungen komplett wiedersprechen, finden einen Kompromiss oder kippen es. Wir versuchen, uns treu zu bleiben.“

Simon: „Wegen der Streicher gab es Streit. Klar sollte man so etwas einmal aufnehmen, aber dort hörte man uns als Band nicht mehr so raus, fanden wir. An dem Punk hatten wir uns aber bereits eingestanden, „Said And Done“ als Single auskoppeln zu wollen. Deshalb zwei Versionen. Wenn uns über die Radioversion Leute kennenlernen, stelle ich das nicht weiter in Frage, dann ist die Sache abgehakt. Denn involviert waren wir immer. Und Streit ist immer konstruktiv.“

Ein Sprichwort besagt: „Man kann den Jungen aus dem Dorf, niemals aber das Dorf aus dem Jungen bekommen.“ Die Kilians halten als quicklebendiger Beweis dafür her. Simon, Arne, Dominic, Gordian und Mika einigte nicht der unbedingte Wille zur Musik, würden sie ihre gegenwärtigen Chancen nicht nutzen – Nebenschauplätze inklusive. Sie aber nehmen all das mit offenen Armen war, was da kommen mag, finden gemeinsam mit ihrem Publikum zu ihrer ihnen angemessenen musikalischen Spielfläche, kurzum: Die Kilians werden mit sich selbst erwachsen. Aber auch das können die Jungs selbst viel pointierter sagen:

In einem Wort: Was bedeutet für Euch die Kilians 2009?

Gordian: „Die Kilians sind mein Leben im Moment.“

Simon: „Ein Wort!“

Mika: „Alltag.“

Arne: „Ungeschminkt.“

Dominic: „Geile Zeit.“

Simon: „Ehe!“

(erschienen in: unclesally*s 04/2009)

Kerken sollte man sich merken

Dörfer kennt man in der Regel nur, wenn man in ihnen oder ihrer Umgebung aufgewachsen ist. Mit Kerken aber ist das anders, „Kerken sollte man sich merken“. Nur: Warum eigentlich?

Eyller Straße, Ecke Flieder
In Kerken-Nieukerk ist die Welt noch in Ordnung. Am linken Niederrhein, näher an Holland als am Ruhrpott, lebt und stirbt dieses Dorf vor sich hin, in Kerken-Nieukerk sind alle miteinander verwandt. Und diejenigen, die es aller Wahrscheinlichkeit nach noch nicht sind, die sorgen wahrscheinlich gerade dafür. In Nieukerk nämlich wird Geselligkeit noch groß geschrieben. Taufe, Kommunion, Firmung, Ferienlager, Landjugend, Lehre – Bauer oder Banker -, Ehe, Eigenheim, Partei, Verbeamtung, Riesterrente, Tod – der Lebenslauf eines durchschnittlichen Nieukerkers wäre schnell erzählt, kämen nicht noch unzählige als Verpflichtungen, Hobbies und Lebensaufgaben getarnte Balzrituale dazwischen: Schützenfeste, Rosen kränzen, Frühschoppen, Scheunenfeten, Babypinkeln, Kegelclub, Freiwillige Feuerwehr, Karnevalsumzüge oder Sonntags die erste Mannschaft aufm Platz. Man lebt fürs Wochenende, man genügt sich selbst. Zeit zum Denken bleibt da wenig, aber wozu auch, man hat doch alles, man kennt doch jeden!

Diese familiäre Geselligkeit, dieses Streben nach Ringelpiez ist nicht nur gesellschaftlich anerkannt, sondern strengstens erwünscht. Freiwillige Abstinenz von Dorf- oder Nachbarschaftsfesten wird mit sozialer Ächtung bestraft, vom Fernbleiben katholischer Feierlichkeiten der Pfarrgemeinde St. Dionysius mal ganz zu schweigen. Ein Dorfgespräch beginnt unter der älteren Generation meist mit der wertfreien Frage „Hässe all gehüert?“, wahlweise an der Kasse oder nach der Messe. Es geht dann um die Trennung von Teuwens Willi und dem seine Erika , „Wat die all häät metgemaacht!“. Ja, „dä Will, dä kaan enne Stierwel uuet!“. Bei der Dorfjugend dreht sich anfangs alles um den Suff am Samstag auf der Parkbank, später darum, wer schon mit wem welche Körperflüssigkeiten und wer gern würde oder sollte und wer doch lieber Fussballspielen geht. Die Auswahl bleibt begrenzt, da ist es nur eine Frage der Zeit, bis man bei seiner Cousine zweiten Grades angekommen ist.

Asylantencontainer und Zeugen Jehovas

Manchmal ziehen auch Leute zu, meist aus den umliegenden Gemeinden Hartefeld, Sevelen, Vernum, Wachtendonk oder gar Issum, Geldern oder Straelen. Denn das Einzugsgebiet Nieukerk hat neben seiner verkehrsfreundlichen Lage gleich an der B9 zwischen Kleve und Krefeld allerhand zu bieten: eine Grundschule, einen Park, ein Altersheim, einen Friedhof, einen Bahnhof, vier Kindergärten, zwei Marktplätze, fünf Supermärkte (!), fünf Kneipen und eben eine Kirche. Nein, sogar zwei, aber die evangelische fristet ein nettes Nischendasein in der rund 5000 Einwohner-starken CDU-Hochburg. Doch als Außenstehender hat man es nicht leicht, Teil dieser eingeschworenen Gemeinde zu werden. Dafür kennen sich die Nieukerker untereinander zu gut. Und wenn sie es selbst schon nicht tun sollten, ist das noch ein Grund mehr, dem gemeinen Städter besser nicht über den Weg zu trauen. Womöglich hat der noch studiert, wer weiß! Die ständig wachsende Zahl der Neubausiedlungen in und um Nieukerk kann also nur drei Gründe haben: Entweder ist die Toleranz gegenüber Fremden gestiegen – am Asylantencontainer neben dem Sportplatz stört sich nach 15 Jahren schließlich auch keiner mehr -, oder die Emigranten rotten sich zusammen. Oder die Kinder wohnen nicht mehr bis 40 bei Mama und Papa.

Ein dunkler Punkt (außer den Zeugen Jehovas) sollte dennoch nicht verschwiegen werden: Wer Nieukerk sagt, der sagt auch Aldekerk. Eine lang gehegte symbiotische Feindschaft. Beide Dörfer gehören zur insgesamt über 13000 Anwohner zählenden Gemeinde Kerken und leiten sich aus der plattdeutschen, der holländischen Nachbarsprache entlehnten Bezeichnung für alte Kirche und neue Kirche ab – natürlich ist Nieukerk trotzdem zuerst dagewesen. Der Legende nach wurde Aldekerk auf einer Müllkippe erbaut – so zumindest erzählt man sich in Nieukerk. In den kleineren Bauernschaften, hier: Ortsteilen, namens Eyll, Winternam, Baersdonk, Stenden („die längste Dorfstraße Nordrhein-Westfalens!“), Poelyck, Kengen oder Rahm schert man sich einen Dreck darum und fröhnt seinem ureigenem Lokalpatriotismus: „Eyller sind geiler!“

Man sollte die Kirche im Dorf lassen, heißt es im Volksmund. Der durchschnittliche reisemüde Nieukerker findet seinen Seelenfrieden, wenn dem wahrhaftig so geschieht: „Ich fahr nur so weit weg, wie ich den Zwiebelturm noch sehen kann!“ In Nieukerk ist die Kirche das Dorf, und weil die Gemeinde Kerken um ihre Alleinstellungsmerkmale weiß, ziert ihr Logo neben dem Abbild zweier Kirchen eine invitatio ad offerendum: „Kerken – sollte man sich merken.“