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Zum ersten Mai

Kottbusser Damm Ecke Sanderstraße, Berlin-Neukölln, 30. April 2010.

Kottbusser Damm Ecke Sanderstraße

Kottbusser Damm Ecke Sanderstraße, Berlin-Neukölln, 30. April 2011.

Die Pigalle Bar und der Mitte-Mogul

Nein, das hier ist kein Gentrifizierungsblog. Das sollen andere machen. Weil ich aber an dieser Stelle schon zweimal über die Pigalle Bar in meiner Straße in Neukölln berichtete, fühle ich mich ein bisschen in der Informationspflicht. Im letzten Sommer feierte die Pigalle Bar Neueröffnung. Felix Gerhardt, einer der 25 Mitbetreiber, kündigte schon damals, nach mehrmonatigem Umbau des jahrelang leerstehenden Ex-Puffs, an: „Die Bar muss laufen.“ Nun, das tat sie nicht; im Dezember schloss sie wieder ihre Türen. Seitdem wurde da drin wieder fleißig und unter Ausschluss der passierenden Öffentlichkeit gewerkelt. Das jetzige Ergebnis macht anfangs glauben, der Kiez hätte tatsächlich seinen Amüsierbetrieb zurück: geschlossene Fenster und Vorhänge, eine Stahltür zum Vorderraum, zwei dunkelgekleidete Türsteher (siehe Foto). Hinter den nun schallgeschützten Mauern aber verbirgt sich eine neue Bar. Keine gewöhnliche Bar, versteht sich. Sondern eine, die Neukölln bislang in derart stylisher Form nicht hatte. Dunkelbraune Wände, Loungecouches, eine glanzpolierte Theke, ein DJ-Pult mit MacBooks und elektronischer Musik, ein Carlsberg für drei Euro, keine Chance auf Tageslicht. Allein das verspiegelte Bad ist geblieben.

Wie einladend: Dass die neue Pigalle Bar geöffnet hat, sieht man allein an den mißtrauischen Türstehern hinterm Guckloch. Wie zu Puff-Zeiten, vermutlich.

„Das soll hier ein Rückzugsort für die Neuköllner werden“, erklärt einer der Barkeeper das neue Konzept. Welche Neuköllner er damit meint, verrät er nicht. Man darf aber annehmen, dass es sich um jene Neuköllner der zugezogeneren Art handelt* und die ihnen folgenden Touristen. Schließlich ist der neue Betreiber der Pigalle Bar kein anderer als Marcus Trojan. Trojan ist 37 (und, Achtung: gebürtiger Schwabe), betreibt seit 2004 den Weekend-Club am Alexanderplatz und seit November des vergangenen Jahres das „Trust“ in der Torstraße, eine „Kontakt-Bar“. Die Betreiber der Pigalle Bar, einst ein „Amüsierbetrieb mit Anbahnung“, hätten ihm die Übernahme angeboten, er habe angenommen, heißt es. Jetzt, nach der fast heimlichen Wiedereröffnung der Pigalle Bar – man kann ja von draussen außer des neuen Namenschildes mit dem alten Namen darauf nichts sehen oder hören! -, soll sie von Mittwoch bis Sonntag jeden Abend ab 20 Uhr geöffnet haben. Eine Homepage oder irgendeine Art von Werbung gibt es bisher nicht. Soll bestimmt ein Geheimtipp bleiben.

*Disclaimer: Ich selbst wohne auch erst seit Dezember 2009 in Neukölln


Eine Blase für sich

So einfach ist das auch nicht: Jetzt werden die Zugezogenen schon per Steckbrief gesucht
Was wäre Berlin ohne seine Gentrifizierungsdebatten. Drüben beim Medienpiraten diskutierten sie zwischen den Jahren erschöpfend über das gute alte und eventuell nicht mehr so gute neue Prenzlauer Berg, und auch Neukölln lebt ja seit geraumer Zeit von Existenzängsten der zugezogeneren Art. Im Sommer wurde ein ehemaliger Puff in meiner Straße in eine Kneipe umfunktioniert, und jetzt, kaum ein halbes Jahr später, hat die Pigalle Bar nach offenkundigen anhaltenden Anlaufschwierigkeiten und wegen mangelndem Charme, Schaumweinabenden und PR-Veranstaltungen schon wieder geschlossen. Vielleicht machen sie ja wieder einen Puff auf, wahrscheinlicher aber eine neue Bar oder ein Restaurant. Ich werde das noch früh genug in Erfahrung bringen.

In der Zwischenzeit sind hier aber auch andere Dinge passiert. Der verschneite Winter konnte Kreuzkotze nicht von den Dächern schmelzen. Allein die Sanderstraße verzeichnete mit einem „Vintage Coffee & Clothes“-Laden namens Sing Blackbird, dem zu einer Clubbar umfunktionierten Heartbreaker und dem Restaurant Pika Pika gegenüber vom Sanderstüb’l mindestens drei Neueröffnungen. In der Friedelstraße gibt es mit Aapka (vorher: Mona Lisa) und Chelany nun ein indisches und ein pakistanisches Restaurant innerhalb von 200 Metern und einen neuen Galerieraum (Soy Capitan), im richtigen Nord-Neukölln hat Barry Burns von der schottischen Postrockband Mogwai aus dem Donau-Eck den Hipstertreffpunkt „Das Gift“ gemacht. Und in der Hobrechtstraße gibt es jetzt einen Hipstery Store.

„Mit Hipstern hat das nichts zu tun“, sagt der 27-jährige Geschäftsführer Adam Fletcher. Fletcher ist Brite und möchte lieber Dr. Willem genannt werden, und der Laden, für dessen Anmietung er und sein Team die 90-jährige Vermieterin nach eigener Aussage sehr lange überzeugen mussten („Keine Kneipe, keine Spielothek, kein Lärm“), ist Büro sowie Ausstellungs- und Lagerfläche für seinen Mystery Shirt-Onlineversand Hipstery.com. Für die zitty hatte ich mit Fletcher und seinem Kollegen Manuel Meurer/Mad Dog über die Beweggründe zur Geschäftsidee dahinter gesprochen – und am Rande natürlich auch über die Wahl des Viertels.

Hipstery Store, Hobrechtstraße, Neukölln

Adam, Manuel: Warum Neukölln?

Dr. Willem: Wir hatten bereits ein Büro in der Nähe, in der Friedelstraße. Außerdem wohnen Mad Dog und ich am Schlesischen Tor und unser Programmierer in Schöneberg, also suchten wir irgendwas dazwischen. Wir mochten die Gegend und fanden das Objekt, eine bewusste Vorab-Entscheidung für diesen Kiez gab es aber nicht. Außerdem bin ich erst seit März 2010 in Berlin und kenne mich kein Stück aus. Meine Freundin und ich haben uns 35 Wohnungen angesehen, jeweils mit rund 50 Mitbewerbern. Wir hätten also auch ganz woanders landen können. So aber kamen wir an unser erstes Büro in der Friedelstraße und haben dort den Kiez schätzengelernt. Es passierte dort seitdem soviel, wir überlegen bereits, noch näher an unser Büro zu ziehen.

Mad Dog: Hier ist es noch nicht so überflutet von Touristen, Hipsters und Spaniern. Es fühlt sich noch so an wie das frühere, entspannte Kreuzberg.

Dr. Willem: Wenn wir richtig Geld machen wollten, hätten wir den Laden nicht hier eröffnet. Sondern in Mitte. Aber dann müssten wir auch härter arbeiten – worauf wir keine Lust haben!

Mad Dog: Oder auf in den Bergmannkiez. Und dann aber doppelte Miete bezahlen.

Warum heißt das Geschäft dann Hipstery?

Dr. Willem: Auch das war, wie die Idee zum Geschäft an sich, keine bewusste Entscheidung, was jetzt klingen muss, als hätten wir ein Geschäft ohne einen einzigen Gedanken aufgebaut. Ich fuhr mit dem Rad Richtung Kneipe und sprach mit einem Kumpel über die Idee. „Hip“ sollte es sein, im Sinne von alter englischer Hipness, aber auch Mystery musste eine Rolle spielen. Eine hippe Mystery. Hipstery. Als wir in der Bar ankamen, sind wir gleich ins Internet und haben uns die Domain gesichert. Das war im Juni oder Juli 2009 in Leipzig, im August sind wir online gegangen mit der englischen Version. Die deutsche folgte im Mai 2010. In Leipzig gibt es keine Hipsters, da war der Name kein Problem.

Hier in Berlin provoziert er gleich ein ganz bestimmtes Bild im Kopf.

Dr. Willem: Ja, hier in Berlin. Das ging so richtig letztes Jahr los, diese Hipsterwelle, mit entsprechenden Blogs und Büchern dazu. Gentrifizierung und Hipsters, die zwei großen Wörter hier. Wir werden auch ständig gefragt, ob wir ein Service für Hipsters seien.

Mad Dog: Das Wort bekam erst in den letzten fünf Jahren diese negative Konnotation.

Dr. Willem: Das Wort „hip“ mag ich eigentlich sehr gerne. Es kommt, glaube ich, ursprünglich aus den 1940ern. Erst nachdem wir das Geschäft starteten, wandelte sich das Wort wirklich zum Schlechten. Das ist schade. Berlin ist da aber eine Blase für sich.

„Offending the Clientele“, Freies Neukölln, Pannierstraße Ecke Weserstraße

via Mit Vergnügen

Die Berliner Gentrifizierungsdebatten werden weitergehen. Ich mag diese Stadt.

Ein washechter Berliner

Im achso hippen Berlin gilt es ja nicht mehr als allzu hip, über Hipster zu lachen. Zu der Zeit, in der Beobachtungen über solche Szenemenschen noch „unique“ waren und der Trend nach dem Bionade-Biedermeier erst langsam als solcher erkannt wurde, gab es noch gar keinen Namen. Dann sprachen sie alle darüber, erst in Mitte, dann von Prenzlauer Berg bis Neukölln, und man musste sich fragen, ob es diese dann so genannten Hipster selbst waren, die sich hochstilisierten. Übergroße Fensterglasbrillen und Schals, neonfarbene Leggins von American Apparel, V-Ausschnitte bis zum Bauchnabel, T-Shirts mit ironischen und verwaschenen Aufdrucken, gürtelbreit abgeschnittene Jeans, you name it: Die modischen scheinbaren Fehlgriffe sind aus dem Stadtbild nicht mehr wegzudenken, neuerdings gibt es sogar eine kritische Hipster-Vertretung. Eine Parallelgesellschaft schlägt zurück.

Einer von denen: Blogger und Buchautor Wash Echte auf seinem Twitter-Profilbild @washechte

Aber wenn es nur die Äußerlichkeiten wären: „Wahre ‚Hipster‘ würden sich selbst nie so nennen“, sagt Wash Echte. Und dieser Wash Echte, über den ich nur und neuerdings weiß, dass er ein 30-jähriger gebürtiger Europäer mit der Muttersprache Englisch ist, nach dreijährigem Studium in Hongkong 2003 nach Berlin zog, erst in eine WG in Prenzlauer Berg, dann nach Friedrichshain („Leider hat sich die Berliner Elite nach dem Prenzlberg ja Friedrichshain als nächstes Ziel ausgeguckt. Neukölln? Ist sowas von Mainstream. Da wohnen nur noch Anwälte und Zahnärzte. Wedding ist das neue Ding!„), und in einer Firma arbeitet, die mit Internet zu tun hat, er aber dort was „technisch/mathematisches“ und „nichts mit Webdesign“ macht, dieser Wash Echte also muss es wissen: Seit über einem Jahr bloggt er anonym über „Ze Elite Germans“ auf ichwerdeeinberliner.com. Jetzt ist das dazugehörige Buch mit 21 neuen Geschichten und in deutscher Sprache erschienen, und man kann und muss sich und ihm ein paar Fragen stellen. Zum Beispiel: Ist das Thema noch nicht durch? Ist anonymes Bloggen feige? Was hat Berlin-Mitte mit dem Rest von Deutschland zu tun? Für die zitty habe ich mit Wash Echte ein Chatinterview geführt, das ich an dieser Stelle fast ungeschnitten raushaue – und mich freue, endlich einen Grund zu haben, die gesammelten Hipsterlinks zu posten, die ich ja dann irgendwie doch immer lustig fand. (mehr …)

Hinter all diesen Wänden

Die Vormieterin hatte uns gewarnt. Als ob da oben Terroristen wohnen würden, mindestens aber professionelle Mobber. Gezieltes Trampeln. Abrichtung des Kindes. Unerträglicher Lärm. Kein Schlaf. Sonst sei alles wunderbar, die Aussicht, der Balkon, der Innenhof, das Licht. Aber diese Nachbarn! Am Morgen nach unserer ersten Nacht hörte ich den Wecker, vor dem wir auch gewarnt wurden. Um 6:30 Uhr. Es war ein Handy. Vibrationsalarm, auf dem Dielenboden. Seitdem nicht wieder. Ja, das Kind rennt, weil es ein Kind ist, zwei Jahre alt, und weil Kinder rennen. Manchmal hat sie, es ist ein Mädchen, der ich auch im Treppenhaus schon ein paar Mal „Hallo“ sagte, Kinderfreunde zu Besuch, dann spielen sie Ball, kegeln oder rücken Möbel. Oder, wahrscheinlicher, rennen einfach nur. Sie tun das aber nie nachts. Und sie sind keine Terroristen.

Seit ein paar Monaten wohnt eine Etage tiefer ein Baby, das nachts um 2 schreit. Nicht laut, vielleicht dringt Lärm in Altbauten aber auch nur nach unten, nicht nach oben. Es stört jedenfalls nicht, es beruhigt manchmal sogar. Dass da kleines Leben ist. Und selbst wenn es stören würde: ich könnte es dem Baby bestimmt nie ins Gesicht sagen. Ich habe es ja noch nicht einmal gesehen, so wie ich den Großteil der Parteien in diesem Vorderhaus nur mit Fantasie ihrer Wohnung zuordnen könnte. Vom Hinterhaus ganz zu schweigen.

Neulich erzählte der Heizungsinstallateur während der Jahreswartung von diesen anderen Parteien. Er fragte, wie es sich hier lebe. Gut, sagte ich, das bisschen Gepolter hin und wieder sei für Altbauten und Kinder sicher ganz normal, zumindest kein Problem. Sind ja Familienwohnungen hier, wie könnte man sich da beschweren. Ganz unten, sagte er, im Erdgeschoss, das sei zum Beispiel eine WG, eigentlich, im Moment wohne nur eine junge Frau darin. Soviel weiß, nein, ahne ich auch; kaum mehr. Die frühstücken da manchmal vor ihrem Fenster auf der Straße, und ich muss mich fast zwingen, das nicht zu freizügig und hippieesk zu finden, den heimlichen Spießer in mir im Zaum zu halten. Ja, Neukölln, aber das ist doch keine Wagenburg hier!

Außer mit dem immer freundlichen Hausmeister, der seit über 40 Jahren hier wohnt, und den Eltern des Mädchens von oben habe ich mit niemandem mehr als zwei Sätze gewechselt. Dafür kenne ich ihre W-Lan-Namen: julisander, mausi, pfifferling, RoteCeci, schnuppe, WLAN, zum Beispiel. Die direkten Nachbarn, mit ihrer Wohnungstür gleich neben unserer, habe ich Freitagabend zum ersten Mal gehört. Sie hörten „Bring mich nach Hause“, das neue Album von Wir Sind Helden. Fünfmal hintereinander.

Gegenüber, auf der anderen Straßenseite, steht ein weißes Pferd im Wohnzimmer. Ich wundere mich schon länger darüber, möchte das aber eigentlich gar nicht sagen, weil ich auch immer sage, dass doch keiner von der anderen Straßenseite in unsere Wohnung gucken könnte oder wollte. Aber du und ich und jeder, der in einer Stadt wie Berlin wohnt, weiß es ja besser: In Großstädten und Großstadtwohnungen gibt es immer was zu sehen und zu hören. In der Popmusik werden Lieder darüber geschrieben; ich habe das schon auf dem Dorf lernen müssen: dass die Geschichten hinter den fremden Gardinen erst beginnen und das Kennen davor endet.

(Andere Nachbars-Geschichten zum lesen oder selbst aufschreiben: wecanhearyou.tumblr.com)

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Basteln gegen die Gentrifizierung

Pannierstraße, Berlin-Neukölln.

Weserstraße, Berlin-Neukölln.
(vgl. Simon-Dach-Straße, Berlin-Friedrichshain)

(Oder, wie die Kiezzeitung Reuter. zum verwandten Thema Migration titelte: „Wenn Du neu bist, aber gleich dazu gehörst. Wenn Du schon immer da warst, aber lieber weiter ziehst.“)