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Weit weg von jeder Homepage

Aus der zitty-Serie “Berliner Internet-Start-ups”: Wie FarFromHomePage das Webbrowsing von seinen festgefahrenen Strukturen erlösen will

Farfromhomepage
Im Philosophiestudium an der FU lernten sie sich kennen, jetzt wollen sie das Internet revolutionieren: FarFromHomePage-Gründer Manuel Scheidegger und Janosch Asen

Der Name ihres Start-ups deutet es schon an: Mit gewöhnlichen Homepages wollen Manuel Scheidegger und Janosch Asen nichts zu tun haben. Feste Strukturen, die immer gleiche Navigation, Serverkosten und viel Speicherplatz – all das wollen sie mit FarFromHomePage über Bord werfen.

Ihr Tool, das die beiden Firmengründer gerne als iMovie für das ganze Web beschreiben, soll ein Hub werden, das sich aus all dem bedient, was das weite bunte Internet zu bieten hat: Ein YouTube-Video hier, ein Soundcloud-Snippet da, eine Bilderfolge dort, eine Facebook-Wall in dieser Ecke, und so weiter. Der Privatuser soll sich so etwa sein eigenes virtuelles Wohnzimmer einrichten, in dem jeder seiner Freunde und Bekannten vorbeikommen und jeden Tag was anderes erleben kann; Unternehmen können ihr Portfolio, ihre Leistungen oder ihre Ambitionen interaktiv präsentieren. Ein Museum kann zum Beispiel zu einem virtuellen Streifzug laden, den es in der Realität so nie geben würde – auf einer Homepage, die keine ist.

Weil die Dateien alle irgendwo öffentlich im Netz rumliegen, hostet FarFromHomePage nichts selbst. Und genau darin stecken Chance und rechtliche Crux gleichermaßen: Wie beim US-Bilderdienst Pinterest machen sich dort User für ihre Zwecke Daten zu eigen, an denen sie die Rechte streng genommen nicht besitzen. Noch ist das eine Grauzone, eben weil FarFromHomePage ja nichts klaut oder klauen lässt, sondern bloß verlinkt – das YouTube-Video etwa liegt weiterhin auf den Google-Servern. Es müsse juristisch geklärt werden, ob ein neues Werk vorliegt oder nicht, sagte CTO Asen schon im Frühjahr dieses Jahres, ein paar Monate, nach dem er und CEO Scheidegger Ende 2011 die ersten Gehversuche ihres Projektes online stellten und Investoren und Business Angels suchten, die so wie sie an die Idee des „Creative Browsing“ glaubten, um das Internet endlich von seiner Geradlinigkeit zu befreien.

Schwierig werden könnte die rechtliche Gemengelage auch beziehungsweise erst recht, wenn die beiden Firmengründer mit diesen Inhalten Geld verdienen wollen, etwa durch Werbung oder Premiumpakete. Aber wenn es durch diese Probleme nicht zu Fall gebracht wird, könnte FarFromHomePage vieles gleichzeitig werden: ein asynchroner Aggregator für Surfentdeckungen, ein Aufbereiter von Inhalten, ein Tool des neuen Erzählens im Netz.

Farfromhomepage.net

(erschienen in: zitty, 20/2012, 20. September, S. 70)

„Wir wollen der Lonely Planet 2.0 werden“

Aus der zitty-Serie „Berliner Internet-Start-ups“, Folge 7: Wie Gidsy ein virtueller Marktplatz für Aktivitäten werden will

Edial Dekker mag Pilze. Das ist noch keine Geschäftsidee, aber die Suche nach Experten, die ihm zeigen, wo er in seiner neuen Wahlheimat mehr über seine Lieblingszutat erfährt und findet, ließ dem gelernten Koch keine Ruhe. Seit zweieinhalb Jahren lebt der 27-jährige Niederländer in Berlin, gründete dort mit seinem Bruder Floris das Designstudio „Your Neighbours“ und arbeitete unter anderem für Kunden wie Etsy.com. So einen Kunst- und Handwerks-Marktplatz müsste es doch auch für Spezialisten geben, die ihre Ortskenntnisse und Fähigkeiten mit Suchenden teilen möchten, dachte Dekker also im Sommer 2011. Ein paar Wochen später waren seine bisherigen Kunden aufgegeben, Gidsy.com gemeinsam mit seinem Bruder und dem Österreicher Philipp Wassibauer gegründet und Investoren gefunden, im November ging die Seite online.

Gidsy
Dekker, Dekker, Wassibauer: So sehen sie aus, die Gründer von Gidsy.com

Das Modell hinter Gidsy ist einfach: Orts- und Fachkundige bieten in Führungen oder Workshops ihre Kenntnisse und ihr Können an und setzen Teilnehmerzahl und Preis selber fest. Für fünf Euro zum Beispiel führt Igor S. Berlin-Interessierte durch Coffeeshops und die Geschichte des Kaffees, für 30 Euro gibt Mira O’Brien einen dreistündigen Zeichenkurs; Teilnehmer können im Nachhinein transparent bewerten und kommentieren, wie es ihnen gefallen hat. Für jede Buchung kassiert Gidsy eine zehnprozentige Vermittlungsgebühr. Dass die Leute sich über Gidsy finden, dann aber privat verabreden, kann Dekker nicht ausschließen, baut aber auf den Community-Charakter. Mitmachen und anbieten kann erstmal jeder, der eine real existierende Person und keine Firma ist: „Wir checken nicht alle Angebote gegen, das soll wie Youtube funktionieren“, hofft Dekker.

An Gidsy.com arbeiten in einem versteckten Dachgeschoss-Fabrikloft am Kottbusser Tor zurzeit sechs Mitarbeiter. Ende Januar werden es schon zehn sein, schließlich soll Berlin nur der Anfang gewesen sein. Lokalisierungen für Amsterdam und New York gibt es bereits, San Francisco, London und eine deutschsprachige Version folgen – und dank Facebook, Twitter und Co. soll Gidsy schnell zum Selbstläufer werden: „Wir wollen der Lonely Planet 2.0 werden“, sagt Dekker über seinen Marktplatz für Aktivitäten. Er selbst habe darüber schon Kochkurse angeboten und in seiner eigenen Küche neue Freunde und Rezepte gefunden, sagt er. Und sogar einen regionalen Pilzexperten.

(erschienen in: zitty 2/2012, S. 58)

Die purpurrote Liste

Ist die Demokratie ein überholtes Staatsmodell? An der Humboldt-Universität rufen „Die Monarchisten“ ihr Königreich aus

„Wir vertreten 93 Prozent der Wähler“, erklärt Alexander Klute, nippt an seinem kalten Kaffee und unterdrückt ein Grinsen. „Jeder, der an der Demokratie nicht teilnimmt, ist doch auf unserer Seite.“ Klute sitzt im Uni-Café des Campus Unter Den Linden. Am Mantel trägt er einen kleinen ver.di-Anstecker. Aber der ist wohl eher Tarnung. Klute ist 38, studiert im 30. Semester auf Lehramt und ist einer von derzeit vier aktiven Monarchisten an der Humboldt-Universität zu Berlin.

Als sich die studentische Liste „Die Monarchisten“ im Wintersemester 2006/2007 mit dem Claim „Mehr Absolutismus wagen“ erstmals zu den Wahlen zum 15.Studierendenparlament (kurz:StuPa) aufstellte, waren die Reaktionen ganz nach ihrem Geschmack. „Eine Referentin fragte entgeistert: Sind das jetzt linke Rechte oder rechte Linke?“, erinnert sich Klute. Ihre Spitzenkandidatin Claudia Reggentin, die wirklich so heißt, bezeichnen sie als „ihre Majestät, die Königin“, in Sitzungen erscheinen sie mit grauhaarigen Perücken und fordern die Einführung des Zottelparagraphen („pro Haarwuchs, gegen Wissensvortäuschung durch gute Kleidung. Solidarität mit den Kapitalschwachen!“) oder vergoldeten Mülleimern auf dem Campus. Zu den weiteren Forderungen gehören beispielsweise die Abschaffung von Anwesenheitslisten, die Einrichtung von Raucher-Refugien, der Ausschank von Spätburgunder, die Freiheit von Studiengebühren oder die Ernennung von Hofnarren. „Ein Königreich für Deine Stimme“ versprechen die tiefschwarzen Wahlplakate der Monarchisten in Frakturschrift auf den Fluren der altehrwürdigen Humboldt-Universität im Januar und zitieren Otto von Bismarck: „Revolutionen machen in Preußen nur die Könige“.

Ein Monarchist und seine Königin: Alexander Klute und Claudia Reggentin (© Dirk Hasskarl)

Mit dem Slogan „Wenn schon rot, dann purpurrot! Wählt das Original!“ schicken die Monarchisten bei den diesjährigen Wahlen „ihre Majestät Königin“ Claudia Reggentin als Spitzenkandidatin ins Rennen und gewinnen mit 3,4 Prozent aller abgegebenen Stimmen immerhin zwei von 60 Sitzen im Studierendenparlament. Als stärkste Liste geht die Linke Liste (LiLi) mit 13,5 Prozent der Stimmen hervor. Ein demokratisch erwähltes Königreich liegt noch in weiter Ferne. Von über 32000 Studenten an der Humboldt-Universität nehmen gerade einmal 7,8 Prozent ihr Recht war. Vor drei Jahren lag die Beteiligung bei 6,2 Prozent. „Die Legitimation der Demokratie ist Geschichte“ schlussfolgerten Die Monarchisten und stellten den Antrag, das StuPa durch den Exzellenzwettbewerb „Die HU sucht die Superkönigin“ zu ersetzen.

3,4 Prozent aller abgegebenen Stimmen konnte die Liste bei den letzten StuPa-Wahlen im Februar auf sich vereinen, dank fehlender Speerklausel haben sie immerhin zwei von 60 Sitzen im Studierendenparlament inne. Als stärkste Fraktion ging die Linke Liste (LiLi) mit 13,5 Prozent der Stimmen hervor. Bloß: Von über 32.000 Studenten an der Humboldt-Universität nahmen gerade einmal 7,8 Prozent ihr Wahlrecht wahr. Vor drei Jahren lag die Beteiligung bei 6,2 Prozent: „Die Legitimation der Demokratie ist Geschichte“, schlussfolgern die Monarchisten. Den Antrag, das StuPa durch den Exzellenzwettbewerb „Die HU sucht die Superkönigin“ zu ersetzen, haben sie bereits gestellt – er kam nicht durch.

Die Wahlbeteiligung ist eines der Lieblingsthemen der Monarchisten – und in dieser Frage wird ihre munter bis alberne Parodie zur beißenden Kritik. Eine „Scheindemokratie“ sei die studentische Selbstverwaltung, meint Alexander Klute. Die Studenten würden vom amtierenden ReferentInnenRat (kurz: RefRat) seiner Universität schlichtweg nicht ausreichend über ihr Wahlrecht informiert, die Bachelor-/Master-Umstellung würde da nur ihr Übriges tun, meint er: „Die Studenten müssen durchstudieren, die haben gar keine Zeit mehr für politisches Engagement.“ Klute schlägt eine schriftliche Wahlbenachrichtigung vor. Zu teuer, kontert der RefRat, der wiederum vom StuPa gewählt wird. „Ach, der RefRat ist ein linker Haufen“, sagt Klute. „Inoffiziell wollen die nur ihre eigene Mehrheit der LiLi nicht verlieren. Ich bin auch links, aber außerdem bin ich für Transparenz.“

Es geht um viel Geld und viel Geklüngel. Von den Semestergebühren der Studenten kassiert und verwaltet der RefRat als Vertretung der Studierendenschaft derzeit zwölf Euro pro Jahr, insgesamt also rund 400.000 Euro. Ein Drittel dieses Haushalts bekommen die Fachschaften, ein Drittel das StuPa, der Rest bleibt beim RefRat. Ein Großteil dieser Gelder ist zweckgebunden, der RefRat finanziert davon unter anderem Sozial-, Bafög-, Ausländer- oder Rechtsberatungsstellen und eine Kita. Die Ausgaben will Klute für alle Studenten offengelegt sehen, schließlich ginge es um ihre Gelder. Eine derartige Transparenz habe es bisher nicht gegeben. „Da wurden auch Fahrten zu G8-Demonstrationen als Bürobedarf deklariert“, sagt er.

Jüngst schrieben sich die Monarchisten noch die Unterstützung eines anderen Gradmessers der Demokratie auf die Wahlplakate: den unabhängigen Journalismus. Mit der Begründung, er finanziere das Projekt, wollte der RefRat Einfluss nehmen auf die redaktionelle Berichterstattung der Studierendenzeitung „UnAufgefordert“ (zitty berichtete). Die Monarchisten schlugen sich auf die Seite der Zeitungsmacher. Schließlich wusste schon Friedrich der Große: „Gazetten dürfet nicht genieret werden“. Auch hier fordert Klute Transparenz. In den Protokollen der entscheidenden Sitzungen wurden nie die vollständigen Namen der Teilnehmer festgehalten, moniert er. Als Entscheidungshilfe zur Wahl aber hätten die Studenten doch ein gutes Recht, zu sehen, welcher ihrer Abgeordneten wofür und wogegen stimmt. Also nahm Klute kurzerhand eine Sitzung auf Tonband auf und veröffentlichte sie auf der Homepage der Monarchisten. Der RefRat schaltete einen Anwalt ein, der Rechtsstreit dauert an. Und wenn die Angelegenheit tatsächlich vor Gericht käme? „Dann müssten sich die Leute auch fragen, warum ich die Sitzung mitgeschnitten habe“, sagt Klute. „Und endlich bekäme die Öffentlichkeit Wind von den Machenschaften des RefRats.“

Bei Hofe wohlgelitten: Alexander von Humboldt, © Heike Zappe

Die Mehrheit der Studenten bekommt von all dem Gerangel nicht viel mit. Ein demokratisch erwähltes Königreich liegt an der Humboldt-Universität noch in weiter Ferne. Aber Klute, der seine E-Mails mit dem Gruß „Lang studiere die Königin!“ unterzeichnet, stört sich daran nicht. Es geht eben um längere Zeiträume. So gesehen wissen Klute und seine Mitstreiter um zwei prominente Förderer – wenn auch nur im Geiste: „Alexander und Wilhelm Humboldt waren eingefleischte Monarchisten. Die hätten uns natürlich unterstützt!“

www.monarchisten-hu.de

(erschienen in: zitty 8/2009, 9. April 2009, Seite 32)

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Der Provokateur

In den letzten Jahren der DDR reizte Jörg Prüße das Regime bis aufs Blut – indem er seinen Kunden „antisozialistische Frisuren“ verpasste. 20 Jahre nach dem Mauerfall erinnert er sich

Das Licht geht aus, „The War“ von Bruce Springsteen tönt durch die Messehalle. Schüsse, Gefechtsdonner, Handgranaten. Models in NVA-Uniformen marschieren auf das Publikum zu, tragen im Schwarzlicht leuchtende Gasmasken im Gesicht und Panzer, Flugzeuge und Kriegsschiffe auf dem Kopf. Plötzlich stoppt die Musik, Finale: die Models kämpfen, sich der Maskerade zu entledigen. Als Sowjetpräsident Michael Gorbatschow verkleidet betritt Jörg Prüße die Bühne – und befreit die jungen Frauen von ihren Kriegsgerätschaften.

„Auch als Friseur konntest du dir Gedanken machen und gegen das Regime protestieren“, erinnert sich Prüße über 20 Jahre nach dem Mauerfall an seine skandalträchtige Abrüstungsshow auf der „Messe der Meister von Morgen“. Er sitzt im Geschäft seines Sohnes, „John’s ARTiger Frisiersalon“ in Prenzlauer Berg. Prüße ist mittlerweile 58 Jahre und immer noch ein bunter Hund. Er trägt Laufschuhe und Jeans, Lederjacke und Hut, blättert durch alte Zeitungsartikel, erzählt einer Kundin amüsiert von der angeblichen Bisexualität, die in seinen Stasi-Akten vermerkt war. Jahrelang reizte Prüße in der DDR die Funktionäre und den Sicherheitsapparat bis aufs Blut – trotzdem oder gerade deswegen war der Friseurmeister aus Prenzlauer Berg ein Star in einem Regime, das jede Form von Individualismus unterdrücken wollte. Er fiel auf in einer grauen Republik, in der sich niemand etwas trauen durfte.

Ende 1980 eröffnet „Jörgs Frisierstübchen“ in der Greifswalder Straße. Prüße, im väterlichen Salon in Stralsund quasi aufgewachsen, lebt zu diesem Zeitpunkt bereits seit elf Jahren in Ost-Berlin und tobt sich aus. Er ging zur Armee, wurde Diplom-Ingenieur, lernte Arzthelfer, trat in TV-Shows auf. Er musste das alles ausprobieren, sagt er, „um zu merken, dass ich wirklich Friseur werden will.“ Schnell mausert sich der Laden zum Geheimtipp – die unkonventionellen Frisuren grenzen an offene Regimekritik. „Wenn wir damals Haare färbten, war das ein unvorstellbarer Protest. Ich musste zum Ministerium, weil die jugendlichen Kunden wegen roter oder blauer Haare von der Schule geflogen sind“, erinnert er sich an die alte Zeit in seinem ersten Salon, diesem „Sammelbecken der bunten Hunde“. Gabi, Amanda, Mike, jeder Mitarbeiter war ein Original, bei Prüße konnten sie es sein. Frank Schäfer fällt ihm zuerst ein, „den kannte zu Ostzeiten jeder“. Schäfer war tätowiert, frisierte auf Rollschuhen. Prüße ließ ihn machen.

Sein Team sorgte besonders wegen seines künstlerischen Selbstverständnisses für Aufsehen. Jeden Donnerstag war Shownacht, Prüße stylte die Besucher, es gab Live-Musik und immer viel zu trinken. Der Salon wird zum Anlaufpunkt für Punks und Bohemians – aber bald auch für Kunden aus der Politik und sogar aus West-Berlin. Zum Beispiel Frau N., die gerne mal den „Spiegel“ und andere Westzeitungen im Salon liegen ließ. Weil Frau N. „eine nicht unbedeutende Mitarbeiterin der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik“ war, ließ der rasch informierte Abschnittsbevollmächtigte den Vorfall durchgehen.

Weil er eine öffentliche Person war, konnte sich Prüße einiges erlauben – die Aufmerksamkeit schützte ihn. Aber immer öfter provozierte er die Auseinandersetzung mit dem Regime auf der größeren Bühne. Er wollte nicht bloß Haare schneiden, sondern Entertainer sein und entwickelte eine eigene Schaufrisiershow namens „Chic und Choc mit Jörg“. Ein Scout von Vidal Sassoon sah eine seiner ersten Shows in Ost-Berlin und holte ihn, den Exoten, nach Paris. Ein Beamter des Ministeriums für Kultur ließ sich mit harter Währung schmieren, stufte Prüße als Unterhaltungskünstler ein. Mittlerweile musste er selbst an Narrenfreiheit glauben. Von Rostock bis Dresden schnitt er Haare mit Samuraischwertern, präsentierte Intimfrisuren in Schwarz-Rot-Gold. Bei der Premiere seiner Abrüstungsshow, dem Gipfel der Gratwanderung zwischen Kunst und Protest, saß Konrad Naumann im Publikum. Naumann war erster Sekretär der SED-Bezirksleitung Berlin, seine Frau Vera Oelschlegel Schauspielerin und längst Kundin von Prüße. Ihr verdankte er auch seinen Lada, während andere Ostbürger noch auf ihren Trabant warteten.

Von jetzt an schien es nur noch eine Frage der Zeit, bis Prüße von der Bühne verschwinden musste. Die Berliner Friseurinnung attestierte ihm einen antisozialistischen Frisurenstil und distanzierte sich nach der Abrüstungsshow ganz von ihm. Prüße war das egal. Dann aber, während einer weiteren „Chic und Choc“-Show in der Berliner Kongreßhalle am Alex, stürmte ein Trupp der Bereitschaftspolizei auf die Bühne, nahm Prüßes Leute fest. Die Stasi legte ihm die Ausreise nahe – ein unerhofftes Privileg für jeden anderen Ostbürger. Aber Prüße wollte nicht. Also häuften sich die Repressalien, Steine flogen durch die Fenster von „Jörgs Frisierstübchen“. Prüßes Team ließ sich nicht unterkriegen, bemalt die Steine und lässt sie als Kunstwerk liegen. „Der Letzte macht das Licht aus“ war ihr Running Gag. Dann fiel die Mauer.

"Früher war ich ein Casanova": Jörg Prüße über die Entstehung seiner Biografie "Haarscharf - Geständnisse"„Wir waren uns einig“, sagt Prüße und rührt in seinem Milchkaffee, „hätten die uns verhaftet, dann sollte das so sein.“ Er nimmt seine mittlerweile elf Jahre alte Biografie „Haarscharf – Geständnisse“ zur Hand, sieht sich auf dem Cover und lacht auf: „Mensch, hab mich ja kaum verändert seitdem!“ Die Glatze ist geblieben, der Schnurrbart ist jetzt ab. Auch die unzähligen Frauengeschichten während der Frisiertouren, von denen seine Frau in dem Buch erfuhr, sind Vergangenheit, die Ehe hat es überstanden. Die Aufmerksamkeit hat er immer genossen, er genießt sie auch heute noch. „Natürlich habe ich das Buch auch wegen meiner Profilneurose geschrieben. Nach der Wende aber wollte mir jeder Wessi erzählen, wie wir im Osten gelebt haben. Denen wollte ich zeigen, dass nicht alles scheiße war.“

Je näher das wiedervereinigte Deutschland zusammenrückte, desto ruhiger wurde es um Prüße. Nach der Wende tingelte er durch Talkshows und eröffnete „Jörgs Frisiercabinet“. Sogar Lothar de Maizière, der letzte DDR-Ministerpräsident, ließ sich die Haare schneiden, weil seine Frau Ilse ihn mitbrachte. Von 1997 an schmiss das Ehepaar Prüße jeden Donnerstag Clubshows im neuen Domizil am Ostbahnhof, das sie bis 2005 betrieben. Heute, an der Danziger Straße, ist es ruhiger, obwohl der Laden besser läuft. Auf Show und Livemusik verzichten Prüße und sein Sohn inzwischen ganz. Wahrscheinlich würden sie damit auch kaum noch auffallen. Bunte Hunde gibt es in Berlin schließlich längst überall.

(erschienen in: zitty, Februar 2009)

Die Frau von der Bank

Sie pflanzte Rosen und kümmerte sich um die Nachbarn: Edith Heller wohnt seit 44 Jahren im Hansaviertel und kennt dort jeden

Ihre linke Hand hält sich am Geländer fest, die rechte versteckt sich in der Tasche ihrer roten Sommerjacke. „Ich bin ’ne Blumentante!“, sagt Edith Heller und zupft an einer der farbigen Blüten im Kasten. In braunem Rock, hellgrüner Bluse und Netzpantoffeln mit goldfarbenen Pailletten steht die 72-Jährige auf ihrem großen Balkon, atmet schwer und freut sich über ihre Stiefmütterchen und Geranien. Ein bisschen stolz ist sie auch, während sie von ihrem einzigen Hobby erzählt. „78 Balkons“, sagen zu ihr die Leute, „und keiner sonst hat Blumen!“

Seit 44 Jahren wohnt Edith Heller in ihrer 68-Quadrameter-Wohnung im ersten Stock des langgestreckten Scheibenhauses von Oscar Niemeyer. Alleine war sie nie. Ihr Mann starb vor acht Jahren, aber Klaus, ihr jüngster Sohn, wohnt bei ihr und pflegt sie. Bis sie vor elf Jahren in Rente ging, hat sich Edith Heller um Haus und Garten gekümmert. „Mein Mann und ich, wir haben hier alles bepflanzt. Auch die Rosenbüsche da unten. Nur die Dornenhecke“, sie zeigt auf die weitläufige Wiese an der Altonaer Straße, „die hamse wieder weg jemacht.“ Für die Geschichte des Hansaviertels hatte sie sich nie interessiert, von der Internationalen Bauausstellung kaum etwas mitbekommen. „Suchen wir uns ’ne Hauswartsstelle“, sagte Edith Heller 1963 zu ihrem Mann. Und im Niemeyer-Haus brauchten sie gerade jemanden.

Die Nachbarn kennen Edith Heller auch von ihrem Lieblingsort: Im Sommer sitzt sie gern auf der Parkbank am kleinen Spielplatz vor der Akademie der Künste, allein oder mit anderen Familien, um zu erzählen. „Über Edith kann ich nur Gutes sagen. Sie ist immer hilfsbereit und höflich“, sagt ihre langjährige Nachbarin Sabine Krüger aus Aufgang Vier, „rund um die Bartningallee kennen sie viele“. „Ich bin ja ein bunter Hund hier“, sagt Edith Heller und lacht. Früher ging sie mit ihren Söhnen und später mit ihrer Enkelin zum Spielplatz. „Das war wie eine große Familie, alle kannten sich von dort“, sagt sie, geht langsam vom Balkon zurück in ihre Wohnung und setzt sich auf die dunkelblaue Couch.

Edith Heller hat ihr Leben lang gearbeitet. Zehn Jahre hatte sie neben ihrem Job im Niemeyer-Haus eine Putzstelle im Rathaus Tiergarten, wollte von ihrem Mann unabhängig sein. Als Schülerin bekochte sie ihre Familie und die Nachbarskinder, in ihrem Heimatdorf in Mecklenburg-Vorpommern. Als 19-Jährige packte sie 1954 das Nötigste zusammen und reiste zu Verwandten nach Westberlin, „bei uns gabs ja keene Arbeit mehr“. Dort lernte sie 1960 ihren Mann kennen. Ein Jahr darauf heirateten sie, später kamen drei Söhne. Während sie erzählt, stützt Edith Heller sich auf ihr geschwollenes Bein. Seit drei Jahren leidet sie an Krebs. „Hellerchen, lass dir dat machen!“, zitiert sie ihren Hausarzt, lacht wieder und haut mit der linken Hand auf den Tisch, so, wie andere sich auf die Schenkel klopfen.

Im Hansaviertel lebt Edith Heller immer noch gern – „so viele gute Erinnerungen“ habe sie. In den Sechzigern wohnten hier, „trotz des sozialen Wohnungsbaus“, viele Anwälte, Doktoren, Architekten, „alles nette Leute, keiner war hochnäsig!“. Das Grün, die Spielplätze, die freien Flächen, die Gemeinschaft, der Supermarkt Bolle – an nichts habe es gefehlt.

Etwas Unschönes fällt ihr doch noch ein. „Oben, in dem schon immer ungenutzten Gesellschaftsraum, da konnten die Kinder ja eigentlich gut spielen. Aber ich musste das verbieten, weil der damalige Besitzer Holzmann das so vorschrieb. Da gab es wohl Beschwerden.“ Die Hauswartin Edith Heller war „eigentlich immer die gute Seele hier im Haus“, sagt Christiane Wolff, eine andere Nachbarin aus Aufgang Acht.

Seit die meisten Wohnungen privaten Eigentümern gehörten, findet Edith Heller, trügen viele Bewohner ihre Nase doch etwas höher, obwohl sie ja noch immer nett seien. Wenigstens die Dealer, die schonmal vor ihrem Haus Rauschgift unter den Steinen zwischenlagerten, seien kaum noch da. Und ein schlechtes Gewissen hat sie, in einem anderen Viertel in einem günstigeren Supermarkt einzukaufen, „weil die Rente doch so knapp is‘ und die Miete nicht ganz billig“. Fast 600 Euro zahlt sie warm. Aber wegziehen? „Nich für Jeld und jute Worte!“

Edith Heller fährt sich durchs dunkelgraue Haar, schaut am großen neuen Fernseher, an den alten Möbeln vorbei, blickt aus dem großen Fenster und lächelt zufrieden. Nur an ihrem Lieblingsplatz war sie wegen ihrer Krankheit schon lange nicht mehr. „Am Spielplatz“, sagt Edith Heller, „da läuft der Film meines Lebens nochmal ab“.

(erschienen in: die tageszeitung, 09. November 2007, Sonderbeilage „50 Jahre Hansaviertel Berlin“)

Die Sonate vom guten Menschen

„Ein Schauspieler ist nie so wie er ist“, heißt es in „Das Leben der Anderen“. Als Ulrich Mühe im März 2007 den Oscar für seine Rolle als Stasimitarbeiter entgegennahm, ahnte nur er selbst, dass es um sein eigenes Leben schlechter bestellt war. Porträt eines Schauspielers bis zum Schluss.

Hauptmann Gerd Wiesler – oder buchstäblicher XX-HGW7 – rührt keine Miene. In keiner der unzähligen Nächte, in denen er von einem Dachboden aus den Schriftsteller Georg Dreymann (Sebastian Koch) observiert, 1984 in der DDR. Aber je länger Wiesler zuhört und protokolliert, desto stetiger bröckelt sein selbsterbauter kalter Fels aus Obrigkeitshörigkeit, rigoroser Prinzipientreue und dem Glauben an die Unfehlbarkeit seines Regimes. Der Observierte hingegen ahnt nicht um die Tragweite eines von ihm laut geäußerten Gedankens: „Kann jemand, der diese Musik gehört hat, noch ein schlechter Mensch sein?“ Irgendwann spielt Dreymann jene Sonate vom guten Menschen auf dem Klavier an. Und zwischen all der Dunkelheit, Sterilität und Einsamkeit meint man, zwischen Stasi-Hauptmann Wieslers Kopfhörern eine Träne zu entdecken.

Diese Kernszene aus Florian Henckel von Donnersmarcks Oscar-prämiertem Regiedebüt „Das Leben der Anderen“, das sowohl ein historisches Dokument als auch eine Charakterstudie darstellt, porträtiert Ulrich Mühes Anspruch an und Leistung in seiner Rolle auf bemerkenswerte Art und Weise. „Ich bin dem Regisseur sehr dankbar, dass er dieses Zutrauen hatte, dass ich mit minimalen Mitteln diese zarte Wandlung spielen kann und hier nicht die große Mimikkiste aufgemacht wird.“, sagte er. Wie hier besonders, so glänzte Mühe in der international umstrittenen französisch-deutschen Theaterverfilmung „Der Stellvertreter“ (2002) als SS-Doktor nicht durch große Gesten, sondern durch ungeheures Feingefühl für die innere Zerrissenheit samt ihrer intensiven weil realistischen Umsetzung seines Charakters. Mühe schauspielte nicht mehr als angemessen, setzte Akzente durch Zurückhaltung und präsentierte dadurch seine größte Stärke. Dass diese Züge die Absurdität von starren Ideologien nicht nur trefflich abbilden, sondern auch persiflieren können, stellte der damals 53-jährige Mühe neben Helge Schneider als lebendigem Hitler in Dani Levys „Mein Führer – die wirkliche Wahrheit über Hitler“ Anfang 2007 unter Beweis.

Auf den ersten Blick noch absurder erschien die Paraderolle als Gerd Wiesler hinsichtlich Mühes damaliger Privat-Schlagzeilen: In einem Interview mit Henckel von Donnersmarck zu dessen Buch zum Film beschuldigte Mühe seine Ex-Frau Jenny Gröllmann – mit der er in zweiter Ehe bis 1990 verheiratet war und außerdem die Bühne teilte – selbst, eine IM („inoffizielle Mitarbeiterin“) des Ministeriums für Staatssicherheit gewesen zu sein. Der Rechtsstreit in dieser Sache dauerte lange an; als Hauptmann Wiesler observierte Mühe zwischen Dreymann und dessen Liebe Christa-Maria Sieland (Martina Gedeck) ähnlich Verdächtiges.

Die Blütezeit und den schnellen Zerfall der damaligen DDR erlebte Mühe, der sich – ohne selbst im zu scharfen Fokus der Stasi gestanden zu haben – maßgeblich an öffentlichen Diskussionen diesbezüglich beteiligte, prägend mit. Nach einer Lehre als Baufacharbeiter und seiner anschließenden schauspielerischen Ausbildung an der Leipziger Theaterhochschule „Hans-Otto“ holte Heiner Müller ihn vom Städtischen Theater Chemnitz (damals Karl-Marx-Stadt) 1983 als MacBeth an die Berliner Volksbühne. Seitdem überzeugte Mühe unter anderem als Ensemblemitglied beim Deutschen Theater sowie nach der Wende auf den Salzburger Festspielen oder am Burgtheater Wien. Vielleicht ist seine Öffnung zum Fernsehen und Kino schon seit Mitte der Achtziger neben der Suche nach neuen Herausforderungen auch dem politischen Wandel zuzuschreiben. Mühe kommentierte einst: „In der DDR habe ich eine ganz andere Art von Theater gemacht, die von einer unglaublichen Wichtigkeit bestimmt war. Damals hockten die Leute in der Vorstellung vorne auf der Stuhlkante. Heute sitzen sie nach hinten zurückgelehnt meist mit vollem Bauch. Und das bestimmt eben auch die Art der Rezeption. Das kann man bedauern, aber das ist eben so wie es ist.“ Gut heißt Mühe die DDR-Zeiten deshalb natürlich noch lange nicht. Obwohl der im sächsischen Grimma Geborene schon 1986 in „Das Spinnennetz“ des Schweizer Filmregisseurs Bernhard Wicki im Film auf sich aufmerksam machte, habe er erst im Nachhinein begriffen, wie unfrei er in seiner Entfaltung eigentlich gewesen sei.

So zeigt sich in der Rückbetrachtung schon 1991 die ungewollte Affinität zur satirischen Spielerei mit polarisierenden Regime-Nachlässen und deren Wirkungsfeld auf das kulturelle Gedächtnis: In Helmut Dietls „Schtonk“ mimte Mühe neben Uwe Ochsenknecht, Götz George, Harald Juhnke und Veronica Ferres den gutgläubigen Verlagsleiter Dr. Wieland, der die unwissentlich gefälschten Hitler-Tagebücher im „HHpress“ veröffentlichen lässt. Im Jahre 2000 war er gar als Goebbels-Double im Fernsehfilm „Goebbels und Geduldig“ zu sehen. Dass er auch anders konnte, bewiesen Neben- und Hauptrollen in so verschiedenen Filmen wie „Rennschwein Rudi Rüssel“ (1996) bis zum herrlich-bitterbösen und für den Zuschauer schmerzhaften „Funny Games“ (1997).

Ulrich Mühe inszenierte seine zahlreichen Rollen – 2007 konnte er auf über 50 Stück aus Film und Bühne zurückblicken – nicht aber sich selbst. Das ist noch etwas Positives, das er aus DDR-Zeiten mitgenommen hatte: „Wichtig ist, Person und Rolle zu trennen – man darf sich nicht auffressen lassen. Das ist manchmal nicht ganz einfach. (…) In der DDR war die Figur wichtig, die man spielte, nicht der eigene Marktwert. Diese Erfahrung schützt mich noch heute.“ So war sein Privatleben sein Privatleben, das er so unsichtbar wie möglich hielt. Fünf Kinder aus drei Ehen, aber bis auf den aktuellen Prozess mit Gröllmann fand seine Person samt Umfeld nie in Klatschpressen oder abseits seiner jeweiligen Projekte statt. In dieser Professionalität konnte er trotz der optischen Ähnlichkeit als das Gegenteil eines Heiner Lauterbachs herhalten.

Ulrich Mühe war mit der Schauspielerin Susanne Lothar verheiratet, die zusammen mit ihm zuletzt in „Der Stellvertreter“ in einer Nebenrolle zu sehen war. Beide lebten mit den gemeinsamen Kindern Marie und Jacob in Berlin. Seit 1997 dürfte er der breiteren Masse als Gerichtsmediziner Dr. Robert Keelmaar aus der ZDF-Serie „Der letzte Zeuge“ ein bekanntes Gesicht gewesen sein. Hier dann auch mal ohne seinen favorisierten Mitspieler Ulrich Turkur, der neben Mühe zuletzt als Wieslers Vorgesetzter Anton Grubitz oder als Hauptdarsteller Kurt Gerstein in „Der Stellvertreter“ glänzte. Beide ergänzten sich in ihrem emphatischen Wesen nur zu gut.

Zuletzt inszenierte Mühe sich sogar selbst. Zum 75. Geburtstag seines engen Freundes und Begleiters Heiner Müller feierte er sein Regiedebüt mit Müllers „Auftrag“ und der 83-jährigen Grande Dame des Berliner Schauspiels, Inge Keller, als „neue Liebe“. Sein facettenreiches Schaffen wurde immer wieder durch diverse Auszeichnungen honoriert. So erntete Mühe für seine Werke bisher „Die große Klappe“, den Kritikerpreis der Berliner Zeitung, die Helene-Weigel-Medaille, den Bayerischen Filmpreis, den Deutschen Darstellerpreis der Film- und Fernsehregisseure, den Gertrud-Eysold-Ring, einen Bambi, die Kainz-Medaille, den „Telestar“ und den „BZ“ Kulturpreis. Für „Das Leben der Anderen“ erhielt er 2006 den Deutschen Filmpreis und abermals den Bayrischen Filmpreis als „Bester Hauptdarsteller“. Seinen Gesundheitszustand verheimlichte er der Öffentlichkeit bis zuletzt: Als „Das Leben der Anderen“ im März 2007 als bester nicht-englischsprachiger Film einen Oscar gewinnt, ist Ulrich Mühe bereits schwer krank. In seinem Sommerhaus in Walbeck bei Helmstedt erliegt er am 22. Juli desselben Jahres im Alter von 54 Jahren seinem Magenkrebs-Leiden.

„Der Dichter ist der Ingenieur der Seele“ heißt es in Mühes größtem Film, das habe laut Minister Hempf zumindest mal ein großer Sozialist gesagt. Und der nicht mehr ganz so systemtreue Hauptmann Wiesler entgegnet im allmählichen Zuge der Vermenschlichung seiner selbst der ahnungslos Observierten auf ihr abwinkendes „Ein Schauspieler ist nie so, wie er ist“ ein Hoffnung spendendes: „Sie doch.“ Darauf sie: „Und Sie sind ein guter Mensch.“ Mit dem Klang der Sonate im Ohr ließ er sich von den Künstlern, deren Feind er war, andere, neue Seiten des Lebens zeigen. Und wäre von seinem Darsteller vielleicht ähnlich erreicht worden: Ulrich Mühe zeigt diese verschiedenen Seiten seinem Publikum, ohne die Kunst hinten anzustellen. Mühe, der einstige Profil-Schauspieler des feinfühligen Volkes.