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Die Sonate vom guten Menschen

„Ein Schauspieler ist nie so wie er ist“, heißt es in „Das Leben der Anderen“. Als Ulrich Mühe im März 2007 den Oscar für seine Rolle als Stasimitarbeiter entgegennahm, ahnte nur er selbst, dass es um sein eigenes Leben schlechter bestellt war. Porträt eines Schauspielers bis zum Schluss.

Hauptmann Gerd Wiesler – oder buchstäblicher XX-HGW7 – rührt keine Miene. In keiner der unzähligen Nächte, in denen er von einem Dachboden aus den Schriftsteller Georg Dreymann (Sebastian Koch) observiert, 1984 in der DDR. Aber je länger Wiesler zuhört und protokolliert, desto stetiger bröckelt sein selbsterbauter kalter Fels aus Obrigkeitshörigkeit, rigoroser Prinzipientreue und dem Glauben an die Unfehlbarkeit seines Regimes. Der Observierte hingegen ahnt nicht um die Tragweite eines von ihm laut geäußerten Gedankens: „Kann jemand, der diese Musik gehört hat, noch ein schlechter Mensch sein?“ Irgendwann spielt Dreymann jene Sonate vom guten Menschen auf dem Klavier an. Und zwischen all der Dunkelheit, Sterilität und Einsamkeit meint man, zwischen Stasi-Hauptmann Wieslers Kopfhörern eine Träne zu entdecken.

Diese Kernszene aus Florian Henckel von Donnersmarcks Oscar-prämiertem Regiedebüt „Das Leben der Anderen“, das sowohl ein historisches Dokument als auch eine Charakterstudie darstellt, porträtiert Ulrich Mühes Anspruch an und Leistung in seiner Rolle auf bemerkenswerte Art und Weise. „Ich bin dem Regisseur sehr dankbar, dass er dieses Zutrauen hatte, dass ich mit minimalen Mitteln diese zarte Wandlung spielen kann und hier nicht die große Mimikkiste aufgemacht wird.“, sagte er. Wie hier besonders, so glänzte Mühe in der international umstrittenen französisch-deutschen Theaterverfilmung „Der Stellvertreter“ (2002) als SS-Doktor nicht durch große Gesten, sondern durch ungeheures Feingefühl für die innere Zerrissenheit samt ihrer intensiven weil realistischen Umsetzung seines Charakters. Mühe schauspielte nicht mehr als angemessen, setzte Akzente durch Zurückhaltung und präsentierte dadurch seine größte Stärke. Dass diese Züge die Absurdität von starren Ideologien nicht nur trefflich abbilden, sondern auch persiflieren können, stellte der damals 53-jährige Mühe neben Helge Schneider als lebendigem Hitler in Dani Levys „Mein Führer – die wirkliche Wahrheit über Hitler“ Anfang 2007 unter Beweis.

Auf den ersten Blick noch absurder erschien die Paraderolle als Gerd Wiesler hinsichtlich Mühes damaliger Privat-Schlagzeilen: In einem Interview mit Henckel von Donnersmarck zu dessen Buch zum Film beschuldigte Mühe seine Ex-Frau Jenny Gröllmann – mit der er in zweiter Ehe bis 1990 verheiratet war und außerdem die Bühne teilte – selbst, eine IM („inoffizielle Mitarbeiterin“) des Ministeriums für Staatssicherheit gewesen zu sein. Der Rechtsstreit in dieser Sache dauerte lange an; als Hauptmann Wiesler observierte Mühe zwischen Dreymann und dessen Liebe Christa-Maria Sieland (Martina Gedeck) ähnlich Verdächtiges.

Die Blütezeit und den schnellen Zerfall der damaligen DDR erlebte Mühe, der sich – ohne selbst im zu scharfen Fokus der Stasi gestanden zu haben – maßgeblich an öffentlichen Diskussionen diesbezüglich beteiligte, prägend mit. Nach einer Lehre als Baufacharbeiter und seiner anschließenden schauspielerischen Ausbildung an der Leipziger Theaterhochschule „Hans-Otto“ holte Heiner Müller ihn vom Städtischen Theater Chemnitz (damals Karl-Marx-Stadt) 1983 als MacBeth an die Berliner Volksbühne. Seitdem überzeugte Mühe unter anderem als Ensemblemitglied beim Deutschen Theater sowie nach der Wende auf den Salzburger Festspielen oder am Burgtheater Wien. Vielleicht ist seine Öffnung zum Fernsehen und Kino schon seit Mitte der Achtziger neben der Suche nach neuen Herausforderungen auch dem politischen Wandel zuzuschreiben. Mühe kommentierte einst: „In der DDR habe ich eine ganz andere Art von Theater gemacht, die von einer unglaublichen Wichtigkeit bestimmt war. Damals hockten die Leute in der Vorstellung vorne auf der Stuhlkante. Heute sitzen sie nach hinten zurückgelehnt meist mit vollem Bauch. Und das bestimmt eben auch die Art der Rezeption. Das kann man bedauern, aber das ist eben so wie es ist.“ Gut heißt Mühe die DDR-Zeiten deshalb natürlich noch lange nicht. Obwohl der im sächsischen Grimma Geborene schon 1986 in „Das Spinnennetz“ des Schweizer Filmregisseurs Bernhard Wicki im Film auf sich aufmerksam machte, habe er erst im Nachhinein begriffen, wie unfrei er in seiner Entfaltung eigentlich gewesen sei.

So zeigt sich in der Rückbetrachtung schon 1991 die ungewollte Affinität zur satirischen Spielerei mit polarisierenden Regime-Nachlässen und deren Wirkungsfeld auf das kulturelle Gedächtnis: In Helmut Dietls „Schtonk“ mimte Mühe neben Uwe Ochsenknecht, Götz George, Harald Juhnke und Veronica Ferres den gutgläubigen Verlagsleiter Dr. Wieland, der die unwissentlich gefälschten Hitler-Tagebücher im „HHpress“ veröffentlichen lässt. Im Jahre 2000 war er gar als Goebbels-Double im Fernsehfilm „Goebbels und Geduldig“ zu sehen. Dass er auch anders konnte, bewiesen Neben- und Hauptrollen in so verschiedenen Filmen wie „Rennschwein Rudi Rüssel“ (1996) bis zum herrlich-bitterbösen und für den Zuschauer schmerzhaften „Funny Games“ (1997).

Ulrich Mühe inszenierte seine zahlreichen Rollen – 2007 konnte er auf über 50 Stück aus Film und Bühne zurückblicken – nicht aber sich selbst. Das ist noch etwas Positives, das er aus DDR-Zeiten mitgenommen hatte: „Wichtig ist, Person und Rolle zu trennen – man darf sich nicht auffressen lassen. Das ist manchmal nicht ganz einfach. (…) In der DDR war die Figur wichtig, die man spielte, nicht der eigene Marktwert. Diese Erfahrung schützt mich noch heute.“ So war sein Privatleben sein Privatleben, das er so unsichtbar wie möglich hielt. Fünf Kinder aus drei Ehen, aber bis auf den aktuellen Prozess mit Gröllmann fand seine Person samt Umfeld nie in Klatschpressen oder abseits seiner jeweiligen Projekte statt. In dieser Professionalität konnte er trotz der optischen Ähnlichkeit als das Gegenteil eines Heiner Lauterbachs herhalten.

Ulrich Mühe war mit der Schauspielerin Susanne Lothar verheiratet, die zusammen mit ihm zuletzt in „Der Stellvertreter“ in einer Nebenrolle zu sehen war. Beide lebten mit den gemeinsamen Kindern Marie und Jacob in Berlin. Seit 1997 dürfte er der breiteren Masse als Gerichtsmediziner Dr. Robert Keelmaar aus der ZDF-Serie „Der letzte Zeuge“ ein bekanntes Gesicht gewesen sein. Hier dann auch mal ohne seinen favorisierten Mitspieler Ulrich Turkur, der neben Mühe zuletzt als Wieslers Vorgesetzter Anton Grubitz oder als Hauptdarsteller Kurt Gerstein in „Der Stellvertreter“ glänzte. Beide ergänzten sich in ihrem emphatischen Wesen nur zu gut.

Zuletzt inszenierte Mühe sich sogar selbst. Zum 75. Geburtstag seines engen Freundes und Begleiters Heiner Müller feierte er sein Regiedebüt mit Müllers „Auftrag“ und der 83-jährigen Grande Dame des Berliner Schauspiels, Inge Keller, als „neue Liebe“. Sein facettenreiches Schaffen wurde immer wieder durch diverse Auszeichnungen honoriert. So erntete Mühe für seine Werke bisher „Die große Klappe“, den Kritikerpreis der Berliner Zeitung, die Helene-Weigel-Medaille, den Bayerischen Filmpreis, den Deutschen Darstellerpreis der Film- und Fernsehregisseure, den Gertrud-Eysold-Ring, einen Bambi, die Kainz-Medaille, den „Telestar“ und den „BZ“ Kulturpreis. Für „Das Leben der Anderen“ erhielt er 2006 den Deutschen Filmpreis und abermals den Bayrischen Filmpreis als „Bester Hauptdarsteller“. Seinen Gesundheitszustand verheimlichte er der Öffentlichkeit bis zuletzt: Als „Das Leben der Anderen“ im März 2007 als bester nicht-englischsprachiger Film einen Oscar gewinnt, ist Ulrich Mühe bereits schwer krank. In seinem Sommerhaus in Walbeck bei Helmstedt erliegt er am 22. Juli desselben Jahres im Alter von 54 Jahren seinem Magenkrebs-Leiden.

„Der Dichter ist der Ingenieur der Seele“ heißt es in Mühes größtem Film, das habe laut Minister Hempf zumindest mal ein großer Sozialist gesagt. Und der nicht mehr ganz so systemtreue Hauptmann Wiesler entgegnet im allmählichen Zuge der Vermenschlichung seiner selbst der ahnungslos Observierten auf ihr abwinkendes „Ein Schauspieler ist nie so, wie er ist“ ein Hoffnung spendendes: „Sie doch.“ Darauf sie: „Und Sie sind ein guter Mensch.“ Mit dem Klang der Sonate im Ohr ließ er sich von den Künstlern, deren Feind er war, andere, neue Seiten des Lebens zeigen. Und wäre von seinem Darsteller vielleicht ähnlich erreicht worden: Ulrich Mühe zeigt diese verschiedenen Seiten seinem Publikum, ohne die Kunst hinten anzustellen. Mühe, der einstige Profil-Schauspieler des feinfühligen Volkes.

Ein Gedanke zu ”Die Sonate vom guten Menschen

  1. Was für ein Film…!
    Man muss hunderte Filme schauen, um eine Perle zu finden, diesen einen Film, der einen Unterschied macht, der so viel mehr ist als all die anderen, der etwas in den Menschen bewirkt, sie berührt, zum Nachdenken anregt, etwas dauerhaftes hinterlässt und auch die Gesellschaft in gewisser Weise zu beeinflussen mag.
    Es braucht keinen weiteren Lobgesang auf den Film, die Dramaturgie, die Geschichte, die Schauspieler, auf das einfliesen lassen von einem der schönsten Brecht Gedichte als eine Schlüsselszene, die Tiefgründigkeit in der Offenlegung einer DDR Welt, wie es sie nun mal gab und viele in den Abgrund gezogen hat.
    Ja, „der Dichter ist der Ingenieur der Seele“ und die Dummheit das Attribut der Obrigkeit. Siehe die Stasi, die Herren Trump, Bolsonaro und Höcke. Dummheit ist allgegenwärtig und die Kunst hilft dabei Ihr einen Spiegel vorzuhalten.

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