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In 100 Jahren Rockmusik

Ein Bein im Grunge, das andere in neuer deutscher Popmusik: Selig galten als hoffnungsvollste deutschsprachige Band der neunziger Jahre – bis ihnen der Erfolg und ihre Egos über den Kopf wuchsen. Seit ihrem letztjährigen Comeback beeilen sich die fünf geläuterten Hamburger trotzdem nicht, keine Zeit zu verlieren. Schließlich „wird Rockmusik auch in 100 Jahren noch da sein“, sagt Sänger Jan Plewka. Eine Bestandsaufnahme.

Christian Neander sitzt auf der Couch und wartet auf seine neuen alten Freunde. Die Haare und Lederjacke offen, das Gesicht glattrasiert. Mit seinem Smartphone sucht er W-Lan und ist ansonsten die Ruhe selbst. Im fürstlichen Kaminzimmer des Münzsalons in Berlin-Mitte residierte der Gitarrist und Songschreiber mit seiner Band Selig schon öfter für Interviews, auch weil es „schön ruhig hier“ ist. In der Selbstbeschreibung des Salons fallen Sätze wie „Modernes Interieur trifft auf nostalgische Substanz“ oder „Funktionales Design integriert sich reibungsfrei in antike Pracht“, sie könnten auch Selig damit meinen. Es ist ein Raum wie eine Band, wie sich in der nächsten Gesprächsstunde herausstellen wird: bedacht, erhaben, ein bisschen von gestern, ein bisschen im heute, in der Mitte angekommen. Heute, elf Jahre nach ihrer einstigen Trennung, geht es um Seligs fünftes Album „Von Ewigkeit zu Ewigkeit“, ihr zweites nach dem letztjährigen Comeback.  Es ist mit Ausnahme des heute verhinderten Bassisten Leo Schmitthals „das erste Interview mit der ganzen Band seit Ewigkeiten“, wie die geschätzten Enddreißiger Jan Plewka (Gesang, Gitarre), Malte Neumann (Keyboards), Stephan „Stoppel“ Eggert (Schlagzeug) feststellen, als sie sich zu Neander setzen. Für andere Bands sind Gesprächskonstellationen nur eine Zeit- und Prioritätenfrage. Für Selig, mit ihren Alben „Selig“ (1994), „Hier“ (1995) und „Blender“ (1997) eine der national erfolgreichsten deutschsprachigen Rockbands der neunziger Jahre, vor allem eine Frage der Egos.

"Modernes Interieur trifft auf nostalgische Substanz": Selig im Jahre 2010 (Foto: Matthias Botor)

Im deutschen Roadmovie „Knocking On Heaven’s Door” gibt es diese eine sentimentale Szene, in der Jan Josef Liefers als krebskranker Rudi Wurlitzer seinen letzten Wunsch beschreibt: „Ich möchte einmal das Meer sehen“. Im gleichen Moment schlagen Selig aus dem Off die Akkorde von Bob Dylans „Knocking On Heaven‘s Door“ an. Das war 1997. Als Selig den Soundtrack zu diesem für sie wie gemachten Film ablieferten, hatten sie den Höhepunkt ihres damaligen Schaffens rückblickend schon hinter sich. Die Singles „Ist es wichtig?“ und „Wenn ich wollte“ rotierten im Radio, auf MTV und landeten auf so verschiedenen Samplern wie „Bravo Hits“ oder „Crossing All Over“, ihre Touren waren ausverkauft. Der Trubel war von Selig nicht anders gewollt. „Wir wollten mit deutschen Texten international klingen. Das war unser großer Anspruch“, erinnert sich Plewka heute daran und hat eine Erklärung für den Erfolg: „Dass im Radio die Red Hot Chili Peppers liefen und danach Selig zeigt, wonach sich die Jugend gesehnt hat. Nach emotionalen Rockbands, die nicht  Die Toten Hosen oder Die Ärzte waren.“

Dieser jeden Moment bevorstehende absolute Durchbruch, der nie eintrat, stieg Selig zu Kopf. Man muss sich nur mal Videos alter Auftritte angucken, zum Beispiel vom Bizarre-Festival 1996, auf dem sie neben anderen deutschen Bands wie Such A Surge, Tocotronic, den Toten Hosen, Rammstein oder Mr. Ed Jumps The Gun auftraten. Mit langen Mähnen und offenen Hemden posen Selig dort, als wären sie die Chili Peppers höchstpersönlich. Plewka, der einzige mit kahlgeschorenem Kopf, kann seine genugtuende Freude kaum verbergen, als er die Herzschmerz-Trennungs-Ballade „Ohne Dich“, ihren bis heute größten Hit, anstimmt, und rund 20.000 Zuschauer an seinen Lippen hängen. Von dort an stand fest: Das hier ist was Großes. Und etwas Gefährliches.
http://www.youtube.com/watch?v=xmRK3NMZO-k
„Vielleicht merkst Du es: Das sind schon große Egos, die ihren Platz brauchen“, erklärt ein entspannter Jan Plewka mit freundlichem Hamburger Dialekt die damalige und heutige Bandsituation, während er sich seine übergroße Reggae-Strickmütze gerade rückt. „Diesen Platz haben wir uns damals gegenseitig nicht mehr eingeräumt. Ich dachte, ich könnte die anderen Typen in der Band alle verändern. Heute respektieren wir uns. Wenn Malte einen Alltag braucht, sage ich nicht mehr, dass er spinnt und ‚doch Künstler sein‘ müsse. Und Malte stört es nicht mehr, dass ich Alltag fürchterlich finde.“

Einen Mindestalltag ohne Selig haben alle fünf Musiker in der Zwischenzeit gefunden und finden müssen. Plewka und Eggert gründeten erst Tempeau, später Zinoba, Neumann tüftelte, Neander schrieb Songs für Echt, Niels Frevert, Cinema Bizarre oder Heinz Rudolf Kunze und gründete die Band Kung-Fu und sein eigenes Studio in Berlin. Familien gründeten sie alle. Die Reunion war neun Jahre so ausgeschlossen wie die Trennung im Rückblick unausweichlich. „Jeder hatte sein eigenes Kraftfeld entwickelt“, sagt Plewka. „Und wenn diese Felder zusammenkamen: Boom.“ Bis, irgendwann im Jahre 2007, Plewka und Eggert bei Neander, Neumann und Schmitthals  anriefen, waren alle mit ihrer neuen Welt zufrieden. Sie trafen sich, redeten fast ein Jahr lang über eine Reunion. „Erst als wir wieder gemeinsam im Proberaum standen, spürte ich, was mir gefehlt hat“, sagt Neander. Und alle legen sie heute einen sehr spürbaren Wert auf ihre neugefundene Balance.

Inszenierung ist die halbe Miete: Christian Neander, Malte Neumann, Jan Plewka, Stephan Eggert, Leo Schmitthals (v.l.)

Jan, über die Zeit vor Eurer Trennung sagtest Du einmal: „Wenn Christian ins Zimmer kam, hatte ich körperliche Schmerzen“. Was denkst Du heute über diese Runde?

Plewka: „Ich bin positiv überrascht. Die Zeit hat uns gut getan. In den vergangenen zehn Jahren haben wir uns selbst gefunden und finden müssen und dabei alle den Traum der Musik über das 27. Lebensjahr hinaus gerettet. Sonst würden wir heute nicht wieder hier sitzen. Am Ende von Selig waren wir nicht wir selbst. Wenn wir heute aus dem Kreis der Band heraustreten, ist jeder Privatperson. Das wussten wir damals nicht besser, weil wir etwas wollten, das wir im Endeffekt auch erreicht haben. Aber die Zeit war abgelaufen.“

Euer Best-Of-Album hieß „Für immer und Selig“, das Comeback „Und Endlich Unendlich“, jetzt titelt Ihr„Von Ewigkeit zu Ewigkeit“. Welches Verhältnis haben Selig zur Zeit?

Neander: „Wir wollen unsere Lebenszeit möglichst bewusst mit Musik und unseren Familien wahrnehmen. Beim Comeback schwang natürlich auch die Ansage „jetzt machen wir für immer Musik“ mit. Das Schöne am Musikmachen ist, dass man sich entfernt und in einer Unendlichkeit bewegt. Bei Liveauftritten löst sich manchmal alles auf. Das ist für mich ein Glücksgefühl. Man beruft sich damit auch auf Ewigkeit.“

Gibt es zeitlose Musik?

Plewka: „Auf jeden Fall. Rocktitel von den Stones, den Beatles, ja, das ist zeitlos. Im Grundgedanken von Rockmusik steckt auch ein sehr spiritueller Wert. Sie kommt vom Blues, der aus der Erde heraus entstand und Urbedürfnisse des Menschen weckt. Akkorde, um weiterzukommen. Ob nun wegen einer Nähe zu Gott,  um Mut zu machen oder eine Erlösungsfantasie frei zu legen. All das ist so bei Rockmusik. Deshalb wird sie auch in 100 Jahren noch da sein.“

Neander: „Es gibt einen Urnenner, der immer wieder auftaucht. Ein Urbedürfnis zu beschreiben wer man ist oder was man ändern will. Diese Urkraft hat Bestand.“

Grunge war auch eine Spielart des Rock. Euer Debüt wurde als deutsche Antwort darauf wahrgenommen.

Neander: „Lustig, in welche Kategorien man damals so gesteckt wurde: „German Grunge“, zum Beispiel. Wenn ‚Selig‘ irgendwo zu zuordnen ist, dann zu den Siebzigern.“

Plewka: „Die Seattle-Jungs hatten damals einen sehr ähnlichen Anspruch wie wir. Sie beherrschten ihre Instrumente, liebten Blues und Jimi Hendrix, haben den Big Muff vor den Verstärker gespannt und die Bluesakkorde auf ihre Art und Weise übertragen. Von Grunge wussten wir aber nichts. Nirvana spielte damals in der Hamburger Markthalle, als wir im Studio waren – und wir sind nicht hingegangen. Unser Produzent kam an: ‚Alter, ich hab da Hippies gesehen, ein Wahnsinnskonzert! Lange Haare, zerrissene Hosen!‘ Und wir nur: ‚Aha‘, und haben weiter unsere Schlaghosen getragen und wollten aussehen wie Deep Purple!“

„Von Ewigkeit zu Ewigkeit“ wurde im Februar dieses Jahres geschrieben und aufgenommen. Es ist lauter und noch spielfreudiger als sein Vorgänger und schlägt wieder die Brücke zwischen Seligs zwei größten Talenten, zwischen bedachtem Songwriting und muckendem Jamrock. Es geht ums „Du“, ums „Früher“, um abgehobene Überheblichkeiten und somit immer auch um sich selbst. Der Titeltrack ist die erste Single und am ehesten das, was als Ballade durchgehen könnte. „Die unzähligen Auftritte im letzten Jahr gaben uns eine sichere Gewissheit, dass wir gut sind und unsere Reunion richtig war“, erklärt Neander noch die zügige Entstehung der Platte und die eigene Souveränität. Die wird sich auch im Oktober zeigen: Selig treten bei Stefan Raabs Bundesvisionsongcontest für ihre Heimat Hamburg auf. „Die Macher sind alte Schulfreunde von uns“, sagt Eggert und freut sich ein bisschen. „Bisher haben wir immer abgelehnt, aber schließlich sind wir ja keine Angsthasen. Für andere größere Bands ist das eine Statusfrage. Was nicht der Sieg ist, bedeutet abgeschmiert.“ Und wenn Selig, die Geläuterten, nicht den Titel holen? „Wird es trotzdem ein Spaß gewesen sein. Wir machen so oder so nur einmal mit!“

Heimat: www.selig.eu

(erschienen in: unclesally*s, Oktober 2010, Titel)

Nachtrag: Beim Bundesvisionsongcontest am 1. Oktober 2010 landeten Selig auf dem achten Platz. Sieger wurden Unheilig, gefolgt von Silly und Ich & Ich.

Die Kinder fressen ihre Revolution

Das britische Graffiti-Phantom Banksy gilt als Popstar unter den Straßenkünstlern. Jetzt könnte ihm der größtmögliche Hoax der popmodernen Kunstgeschichte gelungen sein: die Film-Dokumentation „Exit Through The Gift Shop“.

Banksy ist ein Popstar, der keiner ist. Sein Werk steht vor dem Künstler, aber das nur, weil eben jener Künstler als Phantom die Öffentlichkeit meidet – und sich dadurch zu einem Popstar stilisiert, wie es Popstars seit Jahren nicht mehr gibt: Er inszeniert eine größtmögliche Unnahbarkeit. Banksy ist mit seinen via Schablone gesprühten Scherenschnitt-Graffiti, von Ratten bis zu knutschenden Polizisten, von Los Angeles bis Palästina, längst selbst eine Marke geworden. Er weiß das natürlich ebenfalls, und so wirft auch sein neuester Streich, der Film „Exit Through The Gift  Shop“, mehr Fragen als Antworten auf. Er ist eine Dokumentation, die vielleicht keine ist.

„Das hier ist eine Dokumentation über einen, der versucht, über mich eine Dokumentation zu drehen“, erklärt ein im Dunkel sitzender und vermummter Banksy zu Beginn. Er meint Thierry Guetta, einen Filmnerd aus Frankreich, dessen Cousin sich als Street Artist „Space Invader“ entpuppt. Als Kameramann rutscht der so faszinierte Guetta Ende der Neunziger in die noch junge Szene, die die größte Gegenbewegung seit Punk werden sollte. In seiner Heimat Los Angeles trifft er den Sprayer Shepard Fairey, hört von Banksy und will den Star der entdeckten Subkultur vor die Kamera bekommen. Ihm gelingt das Unwahrscheinliche, er dreht einen Film, Banksy findet ihn schrottig und schickt Guetta mit ein paar warmen Worten weg. Mit fatalen Folgen: Von Banksy motiviert macht Thierry Guetta sich als „Mr. Brainwash“ auf, der Größte zu werden und vermischt fortan Kunst und Kommerz, wie es vor ihm keiner tat. Er kopiert die ohnehin schon als Kopien angelegten Werke seiner Vorbilder, „er macht sie wirklich bedeutungslos“ (Banksy über Guetta). Guetta will sich selbst ein Denkmal zimmern – und hämmert so den Sargnagel auf das, was ihn inspirierte. Street Art wird bei Sothebys und Co. gehandelt. Die Subkultur ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen und im gleichen Moment tot. Plötzlich kommt man nur noch durch den Souvenirladen raus.

Ob Grungemusik, Skateboarding oder Street Art: „Exit Through The Gift Shop“ ist eine Parabel auf alle Bewegungen, die in Nischen heranwuchsen und vom Mainstream vereinnahmt wurden. Und deshalb ist es egal, ob das, was diese Dokumentation zeigt – der Aufstieg und Fall der Street Art und des Thierry Guetta – der Wahrheit entspricht oder nicht: Ein unterhaltsamer „Behind The Scenes“-Kommentar von Banksy zur Lage der Nation und ein Paradebeispiel viralen Marketings ist es allemal. Und falls Guetta selbst tatsächlich eine Erfindung von Banksy sein sollte, wäre er mehr als nur ein Popstar. Er wäre ein anonymes Genie.

(erschienen in: unclesally*s, Oktober 2010)

Dein Herz schlägt schneller

Jetzt ist es raus: „Quicken The Heart“ heißt Maximo Parks dritte rockgewordene Liebeserklärung an ihre Heimat Newcastle und die Menschlichkeit da draußen. Frontbarde Paul Smith will damit nicht mehr viel verändern – nur das Leben der Anderen in drei Minuten. Die Zeit läuft.

Sonne in LA statt Regen in Newcastle: Maximo Park
Um seinen Mitteilungsdrang zu stillen, muss heute niemand mehr Popalben aufnehmen: „Gruseliger Traum diese Nacht – in letzter Minute sollte ich in einem Wohltätigkeitsboxkampf gegen Morrissey antreten, der seit Monaten dafür trainierte. L“ heißt es übersetzt im Twitter-Account von Maximo Park am 11. April 2009. Die Nachricht am Tag davor fällt kürzer und reflektierter aus: „To Romanticise is not to Mythologise. P“. L steht für Lukas. Wenn Lukas Wooller nicht gerade davon träumt, von Englands altehrwürdigster Indierock-Ikone eins auf die Zwölf zu bekommen, spielt er Keyboard bei Maximo Park, Newcastles größtem Exportschlager seit dem Fussballverein Newcastle United und dem süffigen Newcastle Brown Ale. P steht für seinen Kumpel Paul. Paul Smith singt in dieser größtmöglichen Lokalband, die sich als erste Band der zweiten britischen New New Wave-Welle aufmachte, ihre Stadt in die Welt zu tragen. Und er, Paul, der Romantiker, tut das mit einer Inbrunst, die an Bestimmung grenzt.

Eigentlich, so will es die Legende, wollte er nie Sänger einer Band werden. Gemeinsame Bekannte aber gabelten diesen stimmlich durchschnittlich talentierten Kunststudenten vor fünf Jahren in einer Karaoke-Bar auf und schleppten ihn zu Duncan Lloyd (Gitarre), Archis Tiku (Bass), Tom English (Schlagzeug) und Lukas Wooller in den Proberaum. Zack, da hatten sie ihren agilen Frontpoeten, den sie suchten. Seitdem verbindet Smith auf seiner künstlerischen Projektionsfläche namens Maximo Park, benannt nach einem öffentlichen Platz in Havanna, seine Liebe zum Pop mit seinem ungebrochenen Interesse an Literatur, Straßenlyrik, Kulturgeschichte und der Wiederkehr vergangener Epochen im Jetzt. Wenn er twitternd feststellt, dass Romantisierung nicht der Mythologisierung gleicht, dann gleicht das in Wahrheit einer Mahnung an sich selbst, zwischen all den besungenen Allgemeinplätzen über die Liebe und die Mädchen das Besondere nie zu vergessen. Maximo Parks Twitter-Impressionen mögen nur ein verschwindend kleiner Ausschnitt ihres Alltags sein. Aber sie unterstreichen den musikalischen Ansatz ihrer Verfasser: Maximo Park messen sich mit den Großen ihrer Zunft und bedienen sich dazu an den Mitteln, die ihnen ihre Beobachtungsgabe zur Verfügung stellt und die die letzten 20 Jahre Popgeschichte zu dem gemacht haben, was sie ist: eine Ansammlung von persönlichen Geschichten, Liebesschwüren oder Versagungen, von Tagträumen, eine große Referenz auf die unerträgliche und allgegenwärtige Leichtigkeit des Seins. Maximo Park betreten zu einer Zeit die Popbühne, da sie mit ihren Ambitionen nicht alleine dastehen. Diese Zeit aber hat den anhaltenden Erfolg von diesen fünf Kerlen aus Newcastle überhaupt erst möglich gemacht.

„In unseren Songs steckt unser Leben!“ (Paul Smith)

„Hey Paul, sieh mal hier: Starsailor haben ein neues Album! Bizarr…“. Lukas Wooller sitzt unter goldverziertem Stuck und Wandmalereien im königlich restaurierten Flügelzimmer eines Berliner Hotels und blättert in der aktuellen unclesally*s-Ausgabe. Er trägt ein weißes Micky Maus-T-Shirt, Smith seine obligatorische Hutmode über nackenlangen schwarzen Haaren. Obwohl oder vielleicht weil sie schon den ganzen Tag über „Quicken The Heart“, ihr drittes und in Los Angeles aufgenommenes Album, sprechen, sind beide in bester Laune und gewohnt mitteilungsbedürftig. Sie grinsen in einer Tour, wie kleine Jungs, die sehr wohl wissen, was für ein Segen es ist, so zu leben wie gerade jetzt. Mit der gesamten Band waren sie vor zwei Wochen erst in der Stadt, gaben im Kreuzberger Lido die weltweite Livepremiere ihrer neuen Songs. „The Kids Are Sick Again“, die erste Single, war einer der eingängigsten davon. Smith, dieses Duracell-Häschen des Britpops, gab alles, wie immer. Er kann nicht anders. Auf Anhieb aber zündeten die neuen Lieder kaum, sie tun es auch auf dem Album lange nicht. Es fehlt die unbedingte Hetze nach der Hookline, der bittersüße Zuckerguss, der fast jeden Song auf „A Certain Trigger“ und viele von „Our Earthly Pleasures“ zu einem Disco- und Autofahrgaranten machte. Maximo Park haben 2009 keine Hitsingle-Kollektion aufgenommen, sondern ein Rockalbum.

„Heute morgen fragte uns jemand, ob wir nur noch Alben machen, um auf Tour zu gehen und Geld zu verdienen“, erinnert sich Lukas und legt wieder sein schelmisches Grinsen auf. „Was für eine schreckliche Vorstellung.“ „Wir alle haben unsere musikalischen Spielflächen. In unserer Musik mit Maximo Park aber stecken unsere Leben“, sagt Paul vollkommen unironisch und führt den Gedanken aus. „Würde ich es wegen der Kohle machen, hätte ich mir längst einen einfacheren Job gesucht. Wir opfern uns jeden Abend auf Tour auf, das sind wir uns und den Fans schuldig.“ Natürlich, sagen beide, war die Grundmotivation zur Bandgründung, es besser zu machen als alle anderen da draußen; sie ist es bis heute geblieben. „Als wir damals in Newcastle Musik mit unseren Freunden machten, waren wir inspiriert von Bands wie Pavement“, erinnert sich Lukas an die Anfangstage seiner Band. „Dann gehst du in den Pub und triffst Leute, die in ihren Lederjacken herumstehen und ernsthaft denken, Oasis machen herausragende Musik. Und du denkst dir: Da steckt doch viel mehr in Popmusik als das. Wir wollten den Leuten zeigen, dass es auch Echtes gibt von dort, wo wir herkommen. Die Menschen in Newcastle wollten lieber jemand anderes sein.“ „Aus Manchester wollten sie sein!“ wirft Paul, der nicht länger als zehn Sekunden nichts sagen kann, ein. „Und wir dachten uns: warum nicht du selbst sein?“ fährt Lukas fort. „Daher kommen Maximo Park. Wir wollten uns auf eine ehrliche Art und Weise selbst ausdrücken und ohne Klischees direkt mit den Leuten kommunizieren. So war es schon immer, so ist es immer noch.“

„Ich will kein medioker Mensch sein“ (Paul Smith)

Als Maximo Park im Frühjahr 2005 ihr Debüt „A Certain Trigger“ veröffentlichen, ist die Indie-Jugend eigentlich längst gesättigt. Der Erfolg der Strokes aus New York hatte seit 2001 auch den Gitarrenrock der Insel befeuert. Die Presse feiert 2004 Franz Ferdinands Debütalbum als Speerspitze einer New New Wave-Welle, die nach Joy Division auch lebensbejahendere Bands der Achtziger wie die Gang Of Four für sich wiederentdeckt hatte. Davor und danach machen sich unzählige, darunter auch unzählige gute, britische Bands auf, es ihnen gleich zu tun. Dieses Fahrwasser also spült auch Maximo Park mit nach oben, weil sie dem kommerziellen Erfolg nicht hinterher hecheln, ihr Dasein als getriebene, aber bodenständige Künstler in den Vordergrund stellen und auch darüber hinaus vieles richtiger als andere machen: Seit ihrer ersten Single „The Coast Is Always Changing“ haftet jedem ihrer Songs ein unverkennbarer Trademark-Sound an. Lloyds Gitarrenarbeit hat die Hooklines für sich gepachtet; Woollers Purzelbäume auf dem omnipräsenten Keyboard, die in schlechteren Bands mit schlechteren Songs längst die Grenze zum Unerträglichen überschritten hätten, werden von der knackigen Rhythmus-Fraktion im Zaum gehalten; Smiths unkitschige Liebeslyrics kommen mit betont eigenem nordenglischen Akzent um die Straßenecke. Auch abseits der Musik kreieren Maximo Park sich eine Corporate Identity: Ihre Alben und Singles bemühen eine wiederkehrende Weiß-Rot-Ästhetik, auf dem Cover von „A Certain Trigger“ tanzt sich ein stilisierter Paul als Symbol seiner unbändigen Bühnenagilität in Ekstase. Vielleicht fällt er auch im nächsten Moment um. Das „i“ im Bandnamen schreibt sich als sogenannter Heavy Metal-Umlaut (im Englischen: „röck döts“) mit zwei Punkten, wie man es sonst nur von Hardlinern wie Mötley Crüe oder Motörhead kennt. Das Ungewöhnliche im Gewöhnlichen, wie die Musik von Maximo Park im Indierock der Nuller Jahre. Limitieren diese selbst gesetzten Marken nicht eine Band, die sich auf ihrem dritten Album vom Image lossagen müsste, auf ewig zum Erfüllungsgehilfen vergangener Jugendträume degradiert zu werden?

Paul: „Nicht wirklich. „Quicken The Heart“ hat von seinen Vorgängern gelernt und kreiert etwas Neues. Uns ist bewusst, dass wir limitiert sind in dem, was wir tun. Ich kann nur auf eine Handvoll verschiedene Arten singen, das klingt alles nach mir. Wir alle haben unsere Herangehensweisen. Aber was wir auch versuchen, es kommt immer auf die alles entscheidende Frage zurück: „Ist das ein guter Popsong?“ Außerhalb dessen wollen wir gar nichts. Das ist die Schönheit eines Popsongs: Innerhalb von drei Minuten kannst du soviel behandeln. Du kannst Ideen aus der Avantgarde stehlen und sie in den Mainstream schmuggeln. Für mich klingt das neue Album definitiv wie eine neue Version von uns. Ich fühle mich nicht eingeschränkt, weil ich weiß: falls wir beginnen, uns zu wiederholen, hören wir einfach auf.“

Würdet Ihr selbst merken, wenn es soweit ist?

Paul: „Ich hoffe doch! Wir Fünf sind sehr selbstkritisch. Ich frage mich ständig: Ist das relevant für andere Leute? Ich rede jetzt über den Auswahlprozess der Songs, nicht das Songwriting selbst. Mit Maximo Park haben wir diese Qualitätskontrolle. Wir verstoßen gegen den Mainstream, von dem wir ein Teil sind. Ich möchte nicht wie eine dieser Bands klingen, die im Radio laufen, wie alle anderen klingen und es nur wegen der Kohle tun. Für drei Minuten möchte ich das Leben der Leute ändern! Das ist ambitioniert, aber nur so will ich an unsere Musik herangehen. Ob unsere Songs das Potential dazu haben, fühle ich, bevor wir sie veröffentlichen. Falls wir diese Begeisterung schon in uns nicht finden, hören wir auf. Ich will keine mediokre Person in einer mediokren Band sein.“

Nur Mittelmaß waren Maximo Park bisher nie, ihr Streben nach dem perfekten Popsong in drei Minuten ist ihnen bis heute in jeder Sekunde anzuhören. „Quicken The Heart“ aber will mehr sein als ein Sammelbecken von zwölf Ohrwürmern und ist selbst das erst auf den dritten Blick. Der Opener „Wraithlike“ (frei übersetzt: gespenstisch) wurde vorab zum kostenlosen Download ins Netz gestellt und könnte die Fährte nicht falscher legen: „ Here’s a song that finally you can understand, a minor statement meant to counteract the plan, a list of wraith-like things, that quicken the heart“ singt Smith ungewohnt düster. Klingt so der Soundtrack dieses Frühlings? Ja. „Du kannst zu allen Songs tanzen, obwohl sie keine Tanzsongs sind. Wenn du sie in einem Nachtclub hörst, kannst du mit deinem Kopf dazu nicken“, entwarnt Smith vorsichtig – und soll natürlich Recht behalten. Zum ersten Mal haben Maximo Park ein Album aufgenommen, das sich Zeit lässt, sich keine Zeit zu lassen. „Time Is Overrated“, eine andere Zeile eines an starken Zeilen nicht armen Albums, war ebenfalls als Titel im Rennen. „Es zählt der Moment und nicht die Frage, ob du etwas lieber zu dieser oder jener Zeit tun solltest“, erklärt Smith. Der endgültige Titel blieb bis zuletzt ungewiss. Maximo Park veröffentlichten ihn auf ihrer Homepage, also dort, wo sie twittern und mit ihren Fans auch abseits des Promokarussells der Musikindustrie in Kontakt treten. Die Zeile „Quicken The Heart“ summiert das Grundgefühl der zwölf neuen Songs so, wie es schon die Titel der ersten beiden Alben von Maximo Park ihrerzeit taten. „Die Platte kann dein Herz rasend machen“, glaubt Smith. „Sie ist wie etwas, das zurückkehrt, dich zu jagen, nachdem jemand gegangen ist. Es klingt vermutlich primitiv, das so zu benennen. Aber unser Hauptantrieb lässt sich auf diese Formel runterbrechen: Alles, was uns zu unserer Musik bewegt, ist all das, was dein Herz schneller schlagen lässt.“

Bier für die Flaneure des Indierocks

Die Kunst, die Smith und Maximo Park vor fünf Jahren als die ihre entdeckten, haben sie sich bis heute bewahrt: Sie erkennen das Besondere im Allgemeinen und die Welt als keine Selbstverständlichkeit. Sie führen sich das jeden Tag vor Augen; in ihren Tweets, Songs und Alben auch ihrer Anhängerschaft. „Let’s Get Clinical“ ist vielleicht das chirurgische und lyrische Herzstück eines dritten Albums, das sich selbst nur langsam zur Herzensangelegenheit entwickelt. „I want to map your body out, inch by inch, head to toe“ singt Paul Smith und ist sich der polarisierenden Nebenwirkung seiner Texte in jeder Sekunde bewusst: „All unsere Songs behandeln Details, die andere Leute sich nicht rauspicken würden. Weil sie es nicht interessant genug finden oder so noch nicht darüber nachgedacht haben. Wir wollen eine kleine Geschichte erzählen und durch eine nachvollziehbare Sprache den Leuten erlauben, hereinzutreten. Sie sollen sagen können: „Das ist auch mein Leben, ja“.“

Bei anderen Bands scheppern solche Zeilen mit solchen Umschreibungen haarscharf am Schlager vorbei. Bei Maximo Park gehören sie zum romantischen Selbstbildnis. Smith findet die Erkenntnis „bare ankles used to mean adventure, and with you they still do“ romantischer als die tausendste Beschreibung eines schönen Gesichts. „Romantik ist mehr als physische Liebe“, erkennt er und vergleicht sie mit dem Leben, das er einatmet, bis seine Songs ausgeatmet werden: „Du läufst die Straße herunter, lässt dich von den Dingen inspirieren und suchst nach Schönheit. Ob es nun ein Gebäude von Le Corbussier ist, aus der Ära des Barocks oder aus der Moderne stammt: Die Welt ist voll von diesen Dingen, die jede Zeitperiode zurückgelassen hat. Die Liebe einer Person kannst du anwenden auf diese Umwelt, in der du dich befindest. Es hilft dir, dich an die andere Liebe zu erinnern, und es gibt deinem Leben eine Bedeutung: Du läufst nicht nur die Straße runter, du tust etwas Bedeutungsvolles.“ Frank Zappa sprach einst den oft zitierten Satz: „Über Musik schreiben ist wie zu Architektur tanzen.“ Paul Smith schreibt Musik darüber, wie er zu Architektur tanzt. Er flaniert durch die Straßen Englands und die Weltgeschichte, absorbiert dieses Erleben mit allen Poren und ist sich im Klaren: Der Weg ist sein Ziel. „Baudelaire nannte das den Versuch, dem alltäglichen Leben Poesie zu geben“, schwärmt Smith, dieser Flaneur des Indierocks, über seine lyrischen Vorbilder. Im selben Moment beginnen Selbst- und Fremdwahrnehmung dieser Band sich auf wundersame Weise zu decken. Auch die Auseinandersetzung mit Maximo Parks Musik gleicht einer Entdeckungsreise in scheinbar so bekanntem Terrain.

Ihre Heimat Newcastle haben Maximo Park auf diese Weise schon oft durchwandert. Entwachsen sind sie, die plötzlichen Popstars, ihr nicht. Im Gegenteil: Anlässlich eines diesjährigen Homecoming-Gigs vor 12 000 Daheimgebliebenen hat Newcastle Brown Ale eine Limited Edition ihres Bieres auf den Markt gebracht: Maximo Brown Ale. Paul freut sich darüber genauso wie über sein Privileg, mit der Band die ganze Welt bereisen zu können:

„Vorher hatten sie nur eine Limited Edition hergestellt: Für Alan Shearer, als er als Spieler bei Newcastle United in den Ruhestand ging! Dabei trinke ich noch nicht einmal Bier.“

Lukas: „Ich trinke Bier. Und es war uns eine Ehre, auf so einer Flasche drauf zu sein. Es gibt nicht viele davon. Wenn du also eine in die Finger kriegst, behalte sie – sie ist eine Menge wert, bestimmt 50 p.“

Paul: „75 p!“

www.maximopark.com

(erschienen in: unclesally*s 5/2009)

zur gedruckten Version

Krise? Zeitgeist!

Punk? Pop? Mittelfinger? Durch ihre siebte Platte „Gute Aussicht“ rumpeln Muff Potter so disharmonisch wie noch nie, so angepisst klangen sie zuletzt auf „Bordsteinkantengeschichten“. Mit dem Wechsel vom Majorlabel zu Huck’s Plattenkiste habe das nichts zu tun, erklärt Sänger Nagel. Mit einer Krise schon.

Eigentlich wollten Muff Potter ja eine Pause machen. Ende 2007, nach der Tour zu „Steady Fremdkörper“, ihrem zweiten Album für Universal und sechsten seit der Bandgründung 1993 in Münster. Diese Pause aber währte nur kurz: Sänger Nagel zog mit seinem Debütroman auf Lesetour, Gitarrist Dennis produzierte und veröffentlichte Ghost Of Tom Joad und Myagi, Bassist Shredder widmete sich seinem Job als Schreiner, Nachbar und Drummer Brami putzte Fenster für Omas und spielte die Hauptrolle in einem No Budget-Film. Bis plötzlich ihr 15-jähriges Bandjubiläum vor der Türe stand – und kurz darauf, im vergangenen Herbst, Nagel selbst, mit haufenweise neuen Ideen. Muff Potter bezogen ein Haus im Emsland, schrieben neun Songs in fünf Tagen, spielten Universal erste Hörproben vor. „Da war deren Entscheidung wohl längst gefallen“, vermutet die Band. „Gute Aussicht“ aber musste raus, Nagel brannte es unter den Fingern. Er war dieses Mal der Hauptantrieb, den drei anderen erschien das anfangs ein wenig voreilig. Andere Labels bekundeten Interesse, die gegenwärtige Musikindustrie aber war Muff Potter zu wackelig. Also zurück zum bandeigenen Label „Huck’s Plattenkiste“. Das bedeutete Arbeit: alte Strukturen mussten neu belebt, bezahlbare und altbekannte Promo- und Bookingagenturen überzeugt, ein neuer Vertrieb gefunden werden. Alles aus eigener Vorkasse. Jetzt heißt es wieder mehr denn je: Touren – die einzig nennenswerte Einnahmequelle für Bands jedweder Größenordnung.

Berlin-Neukölln. Nagels Küchentisch zieren Platzdeckchen mit dem Boxermotiv seiner Band. Ein Relikt aus alten Tagen, ein Symbol ihres Durchhaltevermögens. Nagel quetscht eine Zitrone aus. Er ist froh, dass die Wahl der Plattenfirma noch nie Einfluss auf Muff Potters Musik hatte. „Wir haben immer die Platten gemacht, die wir gerade machen wollten. Manchmal haben wir es zu 80 Prozent geschafft, manchmal zu 100 Prozent. Bei der „Von Wegen“ waren es 100 Prozent, bei „Gute Aussicht“ auch. Bei den anderen wäre im Nachhinein noch ein bisschen Luft nach oben gewesen.“ „Gute Aussicht“, ein Mittelfinger gegen Radiotauglichkeit und Melodieversoffenheit, entstand über einen komprimierten und intensiven Zeitraum, „deshalb haben die Songs so eine Wucht, eine Lebendigkeit. Die Live-Einspielung tut da nur ihr Übriges.“ Die schlägt fast teurer zu Buche als reguläre Studioaufenthalte, schließlich brauchten Muff Potter plötzlich „24 statt zwei“ ordentliche Mikrofone, auch Haus- und Hof-Produzent Nikolai Potthoff (Tomtes Live-Bassist) und der neue Engineer Torsten Otto mussten irgendwie bezahlt werden.

Eine wie auch immer geartete Krise aber beeinflusste nicht allein die wirtschaftlichen Nebenschauplätze der Musik. Die entstand bei Muff Potter nie im luftleeren Raum, sie reagierte auf ihre jeweilige Umgebung. Nagel und Dennis wohnen seit zwei Jahren in Berlin, der Stadt also, die sich selbst als „arm aber sexy“ empfindet. Das eingefangene Gefühl aber ist umgreifender. Eine Rhetorik der Angst macht sich in den Köpfen breit, Antworten auf einfache Fragen lauten heute „Danke, gut – aber…“. Niemand weiß, wie lange noch. „Gute Aussicht“ verzichtet auf Liebeslieder und bedient sich dieses Zeitgeistes, in dem es keine klaren Aussagen gibt. „Der schönste Platz ist immer an der Hypotheke“ kläfft Nagel in der ersten Single „Blitzkredit Bop“ und geht noch weiter: „Ich möchte 2009 die Platte hören, die den Nerv der Zeit mehr als „Gute Aussicht“ trifft.“ So wie Unternehmen und Einzelkarrieren der Reihe nach zusammenbrechen, so wenig traut man sich eine Schadenfreude. Man könnte ja der Nächste sein. Diese Unsicherheit, dieses daraus entstehende Gefühl ist allgegenwärtig, diese Wiedersprüchlichkeit bestimmt auch „Gute Aussicht“, sagt Nagel, aus dessen Feder diesmal alle zwölf Songs stammen: „Wahrscheinlich ist es leider eine zeitlose Platte“ – er betont das „leider“ – „weil nächstes Jahr nicht wieder alles oben auf sein wird.“

„Die Party ist vorbei – lass uns tanzen“ („Die Party ist vorbei“)

Aus jeder Krise resultiert naturgemäß eine Chance. So wie Muff Potter sich mit ihrem neuen Album auf das Wesentliche zurückbesinnen (Spielfreude, Punkrock, ihre Umgebung), so trennt sich in der Musikbranche die Spreu vom Weizen. Muff Potter schielten noch nie auf schnelle Hits, „wir sind ja froh, überhaupt Geld damit zu verdienen.“ Seit 15 Jahren liefern sie Qualität ab, das goutieren auch die Fans. „Die Chance gerade ist, dass Inhalte wieder mehr wahrgenommen werden“, hofft Nagel. „Wir sind von so einer Krise weniger stark betroffen als ein „Vanity Fair“-Magazin, wo man einfach sagen kann: das war scheiße, das hat nicht funktioniert, weg vom Fenster, der Nächste bitte.“

Dieses Punkrock-Dasein ist Muff Potter in all den Jahren trotz Majorlabel-Ausflügen nicht verloren gegangen. Im Gegenteil, es spendete ihnen die nötige Puste. Der Niedergang vermeintlich sicherer Karrieren bestätigt sie in ihrem Weg, sagt auch Nagel: „Eigentlich finde ich es ja immer gut, wenn Sachen kaputt gehen. Ich habe nichts gelernt, Karrierismus war Muff Potter schon immer fremd. Wenn nun ein Schema F nicht mehr funktioniert, gleicht das einer Befreiung: ich muss über dieses Schema also nicht mehr nachdenken und kann einfach machen.“ Zum Beispiel eine Platte schreiben, die wütend klingt, weil die Welt wütend ist. Nagel und Muff Potter selbst könnte es ja schlechter gehen: „Ich bin mit mir im Reinen, mache gute Sachen und kann davon leben. Im Umfeld meiner Mutter werden alle arbeitslos, niemand hält einen Job sein Leben lang. So kapiert sie endlich auch, dass ich mein Talent nicht vergeude.“

www.muffpotter.net

(erschienen in: unclesally*s 5/2009)

Kilians auf der Eierwiese in Dinslaken

Der Kühlschrank ist halbvoll

Sie ließen nichts anbrennen: Vor zwei Jahren noch galten die Kilians mit ihrem schmissigen Garagenrock als vorlaute Wunderkinder des deutschen Indierocks. Überraschend geläutert kommt ihr „Kill The Kilians“-Nachfolger „They Are Calling Your Name“ um die Ecke. Folgen Taten auf Worte? Eine Fährtensuche.

Bahnhof Dinslaken. 13 Uhr, ein wolkenverhangener Samstag. Die Züge fahren halbstündlich und in zwei Richtungen, entweder nach Wesel oder nach Duisburg. Fussballfans steigen ein, keiner aus. Hauptbahnhof steht nirgends geschrieben, es gibt ja nur den einen. Alles wie immer, niemand landet zufällig in dieser durchschnittlichen Kleinstadt im nordöstlichen Speckgürtel des Ruhrpotts. Es sei denn, er oder sie ist zu Besuch oder wurde hier geboren. So wie Simon Den Hartog, Trademarkstimme und Songschreiber des Dinslakener Exportschlagers Kilians. Auf dem Bahnhofsvorplatz steht er, Wollmütze und Jacke ins Gesicht gezogen, den Rucksack umgeschnallt. Er könnte abreisen wollen, ist aber gerade angekommen. Aus Köln, mit der Bahn, er wohnt da jetzt, studiert SoWi oder ist zumindest eingeschrieben. „Zuviel Mathematik“. Einen Sänger einer Rockband stellte man sich in seiner Heimat vermutlich anders vor, ein Rockstarleben nicht: Simon krächzt zur Begrüßung, mehr Ränder als Augen. Die Stimme hat er in der Stadt gelassen, dafür ein paar Kratzer, Rückenschmerzen und eine neue Geschichte im Gepäck: Vor zwei Tagen spielten die Kings Of Leon im Palladium. Die Kilians sind Fans und waren da, Simon berichtet vom Konzert. Und von zuviel Bier und Adrenalin. An mehr erinnert er sich kaum. Die Story, die er sich aus den Fetzen dieser Nacht zusammenreimt und nachher seinen Bandkollegen zum Besten geben wird, erzählt man besser nicht. „Wenn das meine Mama erfährt….“.

Kilians
Stolz auf ihre Heimat. Die Kilians aus Dinslaken
Die Touren, die Parties, das plötzliche Interesse an ihnen, die ihre Band genau wegen diesen Vorzügen und als Flucht aus der heimischen Langeweile gründeten – das ging alles sehr schnell für Simon und die vier anderen Kilians Michael „Mika“ Schürmann (Schlagzeug), Dominic Lorberg (Gitarre), Arne Schult (Gitarre) und Gordian Scholz (Bass). Vor rund vier Jahren gründeten sie, damals nur Schulbekannte, The Rivets und nannten sich noch vor den ersten Schulkonzerten in The Kilians um, nach dem Kilian in Carl Zuckmayers „Der Hauptmann von Köpenick“. Simon war zu dieser Zeit 16 Jahre alt, die anderen Jungs kaum älter. Nur Gordian war schon 23. Auf der Eierwiese, einem kaputten Stück Rasen gleich neben dem Gustav-Heinemann-Schulzentrum in Dinslaken traf man sich früher. Erst Fussball spielen. Dann rauchen, trinken, abhängen. Simon versuchte sich damals noch am Schlagzeug, schrieb an einem solcher Abende mit einem Kumpel und einer Gitarre „Fight The Start“, den ersten Song der Kilians. Dann türmen sich die Wendepunkte im Leben fünf Heranwachsender: Abitur, Führerschein, vier stürmische, vor abgeklärter Lässigkeit nur so strotzende Songs auf einer Demo-EP namens „Fight The Start“ und ein jubelnder Empfänger namens Thees Uhlmann. Der Tomte-Sänger sorgte für den nötigen Hype, nahm die Kilians unter seine Fittiche und ins Vorprogramm der „Buchstaben Über Der Stadt“-Tour. Von dort an ging alles noch schneller. Uhlmanns Label Grand Hotel Van Cleef sah bei sich nicht die notwendigen Kapazitäten, die Kilians seien für Größeres bestimmt. Milchkannen bespielten sie nur kurz, enterten erst Festivals auf dem Busdach eines Energydrink-Sponsors und unterschrieben dann einen Plattendeal bei Universal. Schnell musste es gehen, der Auftrieb durfte nicht abebben. Ihr juveniles Debüt „Kill The Kilians“ mutete wie ein zusammengezimmerter Schnellschuss aus erprobten Hits und neuen, durch die Bank schmissigen Songs an und fing deshalb diese Sturm und Drang-Phase auf, die in der Band und um sie herum vorherrschte. Das war 2007, die Presse bemühte sich wahlweise an Uhlmanns Hype-Vokabular, an nahe liegenden Verweisen auf The Strokes, Mando Diao, die grassierende Retro- und Garagenrock-Welle und kam besonders um die Herkunft und das Alter der Kilians – das „The“ im Namen hatten sie mittlerweile gestrichen – nicht umhin. Klar, die Vergleiche könnten schlechter sein, die ihnen zukommende Aufmerksamkeit auch. Und Simon relativiert zufrieden: „Die Eigenständigkeit wurde uns trotz aller Strokes-Verweise nie abgesprochen.“ Direkt oder indirekt aber waren sich, uns eingeschlossen, in ihren fragwürdigen Respektsbekundungen alle einig: „Gut – für eine deutsche und so junge Band…“

„I’m so proud of my hometown“ („Hometown“)

Eben darin aber liegt Fluch und Segen für die Kilians. Natürlich wird man einerseits keiner Band gerecht, wenn man sie auf ihre Herkunft und ihr Alter reduziert. Andererseits wäre „Kill The Kilians“, wären seine Urheber Mitte 30 und aus New York, zwar immer noch ein Sammelbecken der Ohrwürmer – aber gleichzeitig nicht mehr als eine Fußnote des Indierocks der Nuller Jahre. Wenn nun aber fünf Jungs aus einem bis dato unbefleckten Ort der Popgeschichte auf Anhieb so ein Debüt raushauen, zwei Jahre später ein lupenreines Radiopop-Album namens „They Are Calling Your Name“ nachlegen und im Opener „I’m so proud of my hometown“ singen, darf und muss man schon mal genauer hinsehen.

Auf dem Gelände des Gasthofs „Zum Grunewald“, an einer Landstraße draußen in Oberlohberg, versteckt sich das Hauptquartier der Kilians. Die Zeche in Lohberg steht schon lange still. Mikas Vater betreibt das alte Hotel und hat ihnen in einer alten Scheune Platz für einen Proberaum verschafft, eine viertel Stunde Autofahrt vom Bahnhof entfernt. „Wenn ein Ort in Dinslaken Bedeutung für uns hat, dann der hier“, kommentieren die Jungs ihr karges Domizil und das Lieblings-Sujet der Journalisten. Mika selbst wohnt noch im Anbau seiner Eltern, will später studieren. Für alle aber gilt: Band first. Dominic wohnt um die Ecke Dominik wohnt drei Kilometer weiter, will vielleicht zum Wintersemester ein Studium beginnen. Gordian schiebt in Bochum seine Diplomarbeit in Psychologie vor sich her, Arne wohnt in Hünxe und ist an der Uni Duisburg-Essen eingeschrieben. Und Simon macht Köln und sich selbst unsicher, wenn gerade mal keine Tour ansteht. Er fasst das so zusammen: „2007 haben wir jeden dritten Tag ein Konzert gespielt. Zu jedem gehört ein Tag Nachbereitung. Macht: Zwei Drittel des Jahres unterwegs, ein Drittel frei.“ „So eine Band ist auch ein Arbeitsverhältnis“, sagt Dominic. „Drei Wochen Spontanurlaub oder mal den Jakobsweg gehen – no way. Wir müssen abrufbar sein.“

Zwei Stunden und eine Currywurst später. Die Kilians flanieren durch ihre Stadt. Fußgängerzone, Marktplatz, Kirche, Einzelhandel, Dorfkneipen. Schon oft sollten sie erzählen, wie sie hier geprägt wurden. Sie spielen das leidige Spiel mit. Besser in Erinnerungen über Proberäume und Besäufnisse schwelgen als gar nichts zu sagen. Mitnehmen was kommt, wie auf Tour. Simon, dieser Johnny Borrell des deutschen Indierocks, gibt auch abseits der Bühne die Rampensau, sprach eben noch zwei türkische Jugendliche an der Ecke an, was sie an ihrer Stadt so geil finden. „Meine Homies“, antwortet einer. In anderen Worten sagen das auch die Kilians. Aber mit der Musik habe das nichts zu tun. Womit denn dann? „In diesem Hamburg-Song von Tomte singt Thees, dass die Stadt ihn zum Mann gemacht hat. Das möchte ich über Dinslaken nicht so sagen!“, sagt Simon. „Aber es hat mich geformt. Meine alten Freunde sind hier, meine Familie. Darum geht es doch nach der Schule: die Leute gehen weg, wollen raus, verabschieden sich. „Hometown“ sagt: Ich bin nicht stolz auf Dinslaken, weil es Dinslaken ist. Ich bin kein Lokalpatriot. Aber ich bin hier groß geworden. Niemand muss stolz auf seine Herkunft sein. Verleugnen aber kann man sie auch nicht.“

Und nach uns U2

„Ficken? Tackern!“ Drei Wochen vorher, Berlin. Promotag. Die Kilians fläzen sich in der sterilen Interviewlounge im achten Stock ihrer Plattenfirma. Gute Aussicht, hier über den Dächern der Stadt. Den spätpubertierenden Schlachtplan, den einer von den fünf Kilians an das Whiteboard gemarkert hat und der an der Kreidetafel im Proberaum auch als Arbeitstitel ihres neuen Albums herhält, müssen Außenstehende nicht verstehen. So läuft das mit gruppeninternen Running Gags, und die Kilians haben einige davon am Start. „Ach, das hat sich irgendwann verselbständigt“, kichert die eine Hälfte der Band, während die anderen sich die erste von unzähligen Zigaretten der kommenden Stunde drehen. Simon ist auch hier Rädelsführer, Interviewanlass ist „They Are Calling Your Name“, das zweite Album der Kilians. Den jetzigen Titel kann die Band selbst nicht eindeutig erklären, auch der habe sich irgendwann verselbständigt. Im Gespräch geht es aber vor allem um das Tourleben und was es mit einer Band anstellt, die in einer vergleichsweise ereignisarmen Kleinstadt aufgewachsen ist. Arne bestätigt: „Auf unserer ersten Tour mit Tomte haben wir jeden Kühlschrank leergemacht“.

Kilians auf der Eierwiese in Dinslaken
Rauchen, saufen, Fußball spielen: Die Kilians auf der Eierwiese. Da traf sich die Dorfjugend.
Simon: „Anfangs haben wir das durchgezogen: 100 Prozent auf der Bühne, 100 Prozent dahinter. Das kommt auch immer noch vor, wenn wir zuviel Zeit haben, zu früh mit dem Trinken anfangen, uns selbst abfeiern und ich Schwachsinn daherrede. Das macht der Körper aber nicht ewig mit. Ich kann mich nicht mehr jeden Tag darüber freuen, dass es umsonst Bier gibt. Die Band ist auch der Job. Man kann das aber Leuten schwer vermitteln, die es nicht selber machen.“

Dominik: „Und mit denen, die es machen, braucht man nicht mehr drüber reden.“

Zum Beispiel mit Thees, Eurem prominenten und mutmaßlichen Entdecker.

Arne: „Ach, Thees hat uns sicher nicht geschadet. Aber er ist ja auch kein Meinungsführer, kein Noel Gallagher oder so.“

Simon: „Abseits unseres Dinslakener Umfelds war er einer der ersten, der uns Selbstvertrauen zugesprochen hat. Wir hatten Glück, dass uns jemand die Türen geöffnet hat. Den Rest aber machen wir selber, in Zukunft auch.“

Vor vier Jahren noch habt Ihr in der Schulaula gespielt, heute als Vorband von Mando Diao oder den Babyshambles. Hebt man da ab?

Simon: „Mir geht’s nicht darum, wer nach uns spielt, sondern um unsere Show. Da könnten auch U2 nach uns kommen. Ich freue mich darüber, denke aber eher: „Geil, dann haben wir ein volles Haus und können abliefern.“ Außerdem sind solche Shows ja nicht die Regel, am nächsten Abend spielen wir dann wieder auf einem Münsteraner Hinterhof. Und das genauso gerne.“

Solche Shows dürften nach „They Are Calling Your Name“ weniger werden. Die neun neuen, zwischen Tour und Studio im vergangenen Herbst geschriebenen Songs klingen so retro, wie es damals zum Debüt immer hieß. Verzerrte Gitarren und Uptempo-Hits wie „Fight The Start“ oder die letzte Single „When Will I Ever Get Home“ sucht man vergebens. Es dominieren von der Akustikgitarre ausgehende Songwriterstücke, die Simon zuletzt mit Simon Frontzek, dem neuen Tomte-Keyboarder, als „Simon & Simon“ ausprobiert hat. Er selbst beschreibt den geläuterten Sound so: „Wir haben die Songs im Proberaum geschrieben. Wenn sie dort funktionieren, dann tun sie es auch im Club und im Stadion. So sollte die Platte klingen. Der Sound ist klarer, der Gesang nimmt einen anderen Wert ein. Es klingt nach Kilians.“ Es müsste schon mit dem Teufel zu gehen, ging die Karriere der Kilians hernach rückwärts Richtung Schuppen. Um als alternative Boygroup positioniert zu werden, sind die Jungs zu verschlafen und zu versoffen. Das Label aber hat trotzdem vorgesorgt: Als Radioversion wurde die fluffige Frühlingssingle „Said And Done“ mit Streichern beladen, das dazugehörige Video wurde in den Bergen Spaniens gedreht und inszeniert die Kilians als pathetische Rockband, die sie nicht sind.

Dominic: „Wir müssen uns eingestehen, dass das Label mehr Ahnung hat, wie Dinge funktionieren. Aber wir sagen sofort nein, wenn uns Entscheidungen komplett wiedersprechen, finden einen Kompromiss oder kippen es. Wir versuchen, uns treu zu bleiben.“

Simon: „Wegen der Streicher gab es Streit. Klar sollte man so etwas einmal aufnehmen, aber dort hörte man uns als Band nicht mehr so raus, fanden wir. An dem Punk hatten wir uns aber bereits eingestanden, „Said And Done“ als Single auskoppeln zu wollen. Deshalb zwei Versionen. Wenn uns über die Radioversion Leute kennenlernen, stelle ich das nicht weiter in Frage, dann ist die Sache abgehakt. Denn involviert waren wir immer. Und Streit ist immer konstruktiv.“

Ein Sprichwort besagt: „Man kann den Jungen aus dem Dorf, niemals aber das Dorf aus dem Jungen bekommen.“ Die Kilians halten als quicklebendiger Beweis dafür her. Simon, Arne, Dominic, Gordian und Mika einigte nicht der unbedingte Wille zur Musik, würden sie ihre gegenwärtigen Chancen nicht nutzen – Nebenschauplätze inklusive. Sie aber nehmen all das mit offenen Armen war, was da kommen mag, finden gemeinsam mit ihrem Publikum zu ihrer ihnen angemessenen musikalischen Spielfläche, kurzum: Die Kilians werden mit sich selbst erwachsen. Aber auch das können die Jungs selbst viel pointierter sagen:

In einem Wort: Was bedeutet für Euch die Kilians 2009?

Gordian: „Die Kilians sind mein Leben im Moment.“

Simon: „Ein Wort!“

Mika: „Alltag.“

Arne: „Ungeschminkt.“

Dominic: „Geile Zeit.“

Simon: „Ehe!“

(erschienen in: unclesally*s 04/2009)

Tod der Szenepolizei

Das einstige Wunderkind der britischen Dance-Szene meldet sich lautstark zurück: Auf „Invaders Must Die“ erfinden sich The Prodigy nicht neu und trotzen dem Zeitgeist. Frontsau Keith Flint erklärt, warum: „Ich feiere immer noch das Jahr 1990“.

Hach, die goldenen Neunziger. Was waren das für Zeiten: Die Plattenfirmen schmissen ihr Geld noch zum Fenster raus, Musikvideos wurden noch von einer Öffentlichkeit wahrgenommen und waren Teil eines Diskurses über Popmusik, die damals noch Skandale auslöste. Zu keiner anderen Zeit hätte eine Band wie The Prodigy einen derartigen Erfolg feiern können wie damals. Ihre Musik, ein gallekotzender Bastard aus Elektro und Punk, war für einen Mainstream niemals konzipiert – und traf genau deshalb derart ins Mark einer gelangweilten Generation. Diese Londoner Party-Bohème diente dem Video zu The Prodigys “Smack My Bitch Up” ebenso als Blaupause wie der zehn Jahre später verfassten und bitterbösen Musikbusiness-Satire ‘Kill Your Friends‘ von John Niven: Fuffies im Club, Koks auf’m Klo, Saufen ohne Morgen, bumsen bis aufs Blut. Der Hedonismus in den englischen Clubs hatte, wie die Karriere von The Prodigy, seinen Höhepunkt erreicht.

‘Smack My Bitch Up‘, nach ‘Firestarter‘ und ‘Breathe‘ die dritte Single-Auskopplung aus ‘The Fat Of The Land‘, wurde erst zum Soundtrack dieser Ära, dann zu ihrem Abgesang. MTV verbannte das Video aus seinem familienfreundlichen Programm. Das wahre Verdienst von The Prodigy aber war nicht allein, den Zeitgeist zu Grabe zu tragen, der sie als Band erst hervorgebracht hatte. Mit ‘The Fat Of The Land‘, einem der meistverkauftesten britischen Alben der Neunziger, brachten sie den Elektro zu den Massen und revolutionierten den Dancefloor.

Technobeats in Tokio: Keith Flint, Liam Howlett, Maxim Reality (v.l.)

‘Invaders Must Die‘ heißt das neue Album von The Prodigy. Es ist das fünfte in der 19-jährigen Bandgeschichte, zitiert seine Vorgänger nur am Rande und stampft durch die Clubs, als ob es den Bigbeat im Breakbeat gerade erst erfunden hätte. Wer also den Stellenwert von The Prodigy, diesem einstmaligen Phänomen, in der Pop-Geschichte einordnen will, muss wissen, woraus diese Band erwachsen ist.

Im London der späten achtziger Jahre feiert eine Subkultur Hochkultur: Unter der Flagge ‘Acid House‘ belagern DJs leere Warehouses, schmeißen Drogen und Parties. Der Smiley wird zum Symbol einer Rave-Kultur, die statt Gitarren (wie noch die Hippiekultur von 1968) Turntables als ihr Instrument sexueller Befreiung erkennt, sich selbst und ihre neuen technischen Möglichkeiten gerade erst kennen lernt und höchstens erahnt, welch kleine Revolution sie in der Popmusik damit anzetteln würde. In dieser Zeit beginnt auch ein gewisser Liam Howlett, sich an HipHop, Rave und DJing auszuprobieren. Zusammen mit dem Tänzer Keith Flint und dem Sänger Leeroy Thornhill gründet er 1990 The Prodigy. Zwei Jahre später, zu einer Zeit, als Tanzkünstler eigentlich noch keine Alben veröffentlichten, erscheint ihr Debüt namens ‘Experience‘. Weniger in Anlehnung an Jimmy Hendrix, mehr als Momentaufnahme dieser Zeit, der sie schon damals ein Stück voraus waren. The Prodigy, das sind doch diese drei Freaks, mit Piercings, bunten Kontaktlinsen, zuviel Adrenalin und haufenweise Visionen?

Schon mit dem Nachfolger ‘Music For The Jilted Generation‘ schießen sie in den britischen Charts von 0 auf Platz 1. Singles wie ‘No Good‘, die Jahre vorher nur in dunklen Clubs funktioniert hätten, stürmen die Dorfdiskotheken. In Deutschland, der anderen Rave-Hochburg, verbucht die Love Parade Besucherrekorde, Sven Väth, Westbam oder gar Marusha erreichen bisher unereichte Hörerschaften. Und noch eine andere Sparte elektronischer Tanzmusik erfreut sich fragwürdiger Beliebtheit: Eurodance-Acts wie Snap, Two Unlimited, Magic Affair und Konsorten nutzen die Welle, die The Prodigy lostraten, um mit austauschbarem Kirmes-Trash ein paar Maxi-Singles zu verkaufen – mit ebenso fragwürdigem Erfolg.

Schon vor der Veröffentlichung des innig erwarteten ‘The Fat Of The Land‘ zählen The Prodigy neben den Chemical Brothers zur Speerspitze einer Rave-Techno-Kultur, die ihre Utopien vom Cyberspace nicht mehr nur träumt, sondern in ihrer Musik lebt: Die Zukunft, die für jeden Elektro-Tüftler eine bessere sein musste, ist plötzlich da. Mit elektronischem Equipment setzen The Prodigy ein Gefühl um, für das Nirvana noch eine Gitarre und vier Akkorde reichten: Wut. ‘The Fat Of The Land“ erscheint, und plötzlich schmückten Howlett, Flint, Thornhill und MC Keith Palmer a.k.a. Maxim Reality auch die Cover einschlägiger Rock-Gazetten. Zu ‘Firestarter‘ gehen selbst die Menschen tanzen, für die elektronische Musik bisher ein Buch in einer fremden Sprache war. Alle können oder wollen sie sich einigen auf diesen im Mainstream bis dato so unerhörten Sound, ein Sound wie ein Mittelfinger. Nur The Prodigy selbst nicht. Nach exzessiven Touren wird es still um die Band. Palmer, Thornhill und Flint versuchen sich an Solokarrieren. Erst sieben Jahre nach ‘The Fat Of The Land‘ erscheint mit ‘Always Outnumbered, Never Outgunned‘ ein Comeback-Album, das keines ist: Für diese einst so wahnsinnige Band will sich außerhalb der einschlägigen Clubs niemand mehr so Recht begeistern, außer die Band selbst:

Immer noch in Tokio: The Prodigy

War „Always Outnumbered, Never Outgunned“ eine Katharsis für Euch? Ein Album, das so passieren musste, aber kein weiteres Mal?

Liam Howlett: Ja. Ich fühlte mich, als hätte ich Keith und Maxim ausgesondert. Totaler Quatsch, im Nachhinein. Unter keinen Umständen wollten wir „Fat Of The Land“ Teil Zwei aufnehmen. Die Plattenfirma fand diesen Ansatz sehr mutig von uns. Wir steckten in einem Tief, die Kommunikation lief nicht. Wir mussten diese Platte machen, um die Band auf Neustart zu bringen. Darauf konnten wir wieder aufbauen. Hätten wir „Always Outnumbered, Never Outgunned“ nicht gemacht, gäbe es heute auch kein „Invaders Must Die“.

Maxim Reality: In den Jahren 2002 und 2003 tourten wir sehr exzessiv und brauchten danach eine Pause. An dem Punkt aber gerieten wir unter den Druck, ein neues Album zu machen, was, wie Liam sagte, eben kein „Fat Of The Land“ Teil Zwei werden sollte.

Howlett: Es war kein Spinner-Album wie „Paul’s Boutique“ von den Beastie Boys. Obwohl: Jede Band, die vier oder fünf Alben macht, hat eines dabei, das eher schräg ist.

Keith Flint: Wenn du Teil von The Prodigy bist, dann bist du eben „Always Outnumbered“. Die Leute mussten diese Platte entdecken, wir schmissen sie ihnen nicht so ins Gesicht wie „The Fat Of The Land“. Ich mag das. Alle großen Bands haben so ein Album. Die Platte war für die Öffentlichkeit und die Presse verwirrender als für uns. Das Gefühl, dass man es auf uns abgesehen hatte, war neu.

Howlett: Daher kommt ja auch der neue Titel „Invaders Must Die“.

Flint: Wir waren wie eine Gang, zu der die Leute keinen Zugang fanden, aber wollten. Wie du da sitzt, könntest du Liam fragen: „Warum hast du Maxim nicht aufs Album genommen?“ Es grassierte eine Paranoia um uns herum. Wir fühlten uns wie unter Invasion. Bis jemand sagte, dass diese Eindringlinge sterben müssen!

„Invaders Must Die“ beginnt mit dem Titeltrack und der wiederkehrenden Zeile „We are The Prodigy“. Der Sound ist von der ersten Sekunde Euer bekannter Trademark-Sound. Wie macht Ihr das?

Howlett: Das ist das, was wir als Band tun können. Wir können kein Dubstep, wir können kein Drum’n’Bass. Das können die anderen, wir können das hier. Mit „Invaders Must Die“ wollten wir wieder ein Statement abliefern und sagen: Wir sind The Prodigy! Wir sind zurück (reißt den Arm in die Luft)! Der Rest des Albums folgt dem ersten Track, der instrumental ist und sagt: Wir sind keine Band des Wortes, wir sind eine Musik-Band. Die Musik ist so wichtig wie die Texte.

Flint: Ich weiß genau, was Liam meint: Wir sind keine Band im traditionellen Sinne. Wenn ein Track rockt, dann soll er das tun, ob mit oder ohne Worte. So funktionieren wir.

Maxim: Die Vocals sind ein Geräusch, ein Teil dieses Albums.

Ein anderer gewichtiger Teil des Albums ist Euer Gespür für Melodien. Habt Ihr das über die Jahre entwickeln können?

Howlett: Das war zumindest eines unsere Ziele. Musikalisch sollte die Platte mehr Tiefe aufweisen. Je mehr die Musik sich bewegt, desto mehr Platz finden auch die Vocals. Jeder Track wurde um ein Riff, um einen Groove herum gebaut. In der Vergangenheit lief das linearer ab.

Flint: Der Schreibprozess begann zu relaxt. Da dauerte es, bis wir unseren Fokus fanden.

Howlett: Wir gingen ins Studio wie drei kleine Kinder: „Wir machen ein Album, yeah!“. Ich versuchte, die Kontrolle zu übernehmen, die Ideen zu bündeln und zu Ende zu denken. In drei Monaten hatten wir 30 Ideen – da fällt es schwer, sich zu erinnern…

Flint: Gute Tracks vergisst du nicht – dachten wir!

Howlett: Als wir dann endlich konzentriert von 8.00 bis 24.00 Uhr in ein neues Studio gingen und uns nicht aus den Augen ließen, wurde es endlich ernsthafter. Wir machten uns einen Zeitplan und merkten, dass wir den Scheiß hier wirklich machen wollten.

Auf dem Song „Run With The Wolves“ spielt Dave Grohl Schlagzeug. Wie kam es zu dieser Zusammenarbeit?

Howlett: Wir tourten mit den Foo Fighters und umgekehrt, wir kennen uns seit zehn Jahren.

Flint: Dave schrieb uns eine E-Mail: „Unsere Tour ist vorbei, ich bin Drummer und will Schlagzeug zu spielen – was sollen wir da tun?“ „Wir beenden gerade die Aufnahmen für unser Album“, antworteten wir. Er schickte uns dann eine Festplatte: vier Stunden voller Dave Grohl-Drumming, massive Energie, toller Sound – das inspirierte uns zu „Run With The Wolves“. Wir verheirateten einen unserer noch offenen Gesangsparts mit den Teilen, die Liam aus Daves Drums gebastelt hatte. Das schickten wir uns hin und her. Einen großen Rock’n’Roll-Moment gab es also nicht, wir hingen nicht im Studio ab und tranken Tequila.

Howlett: Das hab ich ohnehin schon lange nicht mehr gemacht! Die meisten Kollaborationen laufen mittlerweile über diesen Weg.

Flint: Jetzt ist Dave auf dem Album und wir sind stolz. Er ist ein großer Kopf, war Teil von Nirvana. Ich respektiere ihn wirklich.

Howlett: Somit gehört diese Geschichte zu unserem Album dazu. Wir passen aber auf, dass die Personen nicht wichtiger werden als die Musik. Aus diesem Grund haben wir keine Gesangskollaborationen auf der Platte.

Flint: Dave nahmen wir, weil wir wussten: Das Ergebnis wird ein neuer cooler The Prodigy-Track. Nicht, weil er Dave Grohl ist.

Seit bald 20 Jahren seid Ihr nun als Band unterwegs. Liam, hattest Du ein Bandkonzept im Kopf, als Du mit dem Schreiben anfingst?

Howlett: Ich hätte auch ein Soloalbum machen können.

Flint (grinst): Wolltest Du nicht die HipHop-Kultur revolutionieren?

Howlett: Ich habe mich hin und wieder am HipHop versucht. Dann aber entdeckte ich die Rave-Szene und traf Euch beide beziehungsweise diesen anderen Typen!

Flint: Den Plattendeal hatte Liam ja schon. Wir wollten nur abhängen und so ein Teil davon sein.

Howlett: Leeroy und Keith sagten: „Wir lieben Deine Musik. Die Bands da oben auf der Bühne – das sollten wir sein!“ Da gab es dieses Festival in London, `90 oder ´91. Alle großen DJs legten dort auf. Ich sagte mir: Wenn wir da spielen, haben wir es geschafft! Was soll ich sagen, so kam es dann. Fünf Monate später spielten wir dort. Uff!

Und 15 Jahre später küren Euch die Kollegen vom Q Magazin zu den fünf einflussreichsten britischen Bands der Neunziger.

Flint: Ich lese die Presse nicht. Liam tut es, Maxim überfliegt sie.

Howlett: Ich bleibe gerne wütend. Und wenn ich die Presse lese, werde ich wütend. Ich finde immer etwas, das ich nicht mag. Deshalb mache ich Musik. Wäre ich fröhlich, ich würde keine Musik schreiben. Es ist niemals alles gut, überall steckt etwas Negatives drin.

Eure Musik wurzelt in den späten Achtzigern und frühen Neunzigen. Glorifiziert Ihr diese Zeit im Nachhinein, würdet Ihr gar gerne dorthin zurück?

Flint: Ich fühlte mich niemals mehr derart Teil einer Szene wie damals. Die Musik, die Menschen, der Spaß, nie liebte ich etwas mehr. Diese Zeit kann man nicht zurückholen. Ich hoffe aber, dass andere Leute heute noch dieses Gefühl erleben dürfen, in einer Szene, die ihnen wahr und schön erscheint, ihre Nächte und ihre Tage so wichtig und großartig vorkommen wie mir damals. Wenn etwas so underground ist, dass die Journalisten nicht wissen, wie sie es nennen sollen, wo sie es finden, wie es passiert, wenn sie sich fragen: Was ist das für eine Musik? Wer macht die? Und wo? Wenn etwas unberührbar und unentdeckt scheint – all das ist für mich ein Zauber. Das kannst du nicht kreieren, das passiert auf natürlichem Wege. Und ich hoffe, dass gerade irgendwo so etwas gedeiht. Deutschland war für uns der einzige andere Ort, der eine Rave-Szene hatte – und immer noch hat!

Howlett: Wir kamen nach Deutschland, als… Wann fiel die Mauer? ´91?

1989.

Howlett: ´89. Wir waren ´91 hier, ich erinnere mich: Berlin war der erste Ort in Deutschland, den wir überhaupt besuchten. Von dort an kamen wir jedes Jahr, spielten auf der Mayday und anderen Raves. Deutschland hat die tollsten Locations dafür.

Flint: Gerade im Osten. Die Menschen verließen die alten Fabriken und Lagerhallen, und jeder aus dem Westen schmiss dort seine Parties. So funktionierte die englische Raveszene: Finde ein Gebäude, stopf ein Soundsystem rein und feiere eine Party, bis die Polizei dich wieder raus schmeißt! Das war Punkrock!

Geht Ihr in England immer noch auf Rave-Parties?

Howlett: Es gibt keine mehr. Die Raves heute sind anders. Die Musik ist nicht mehr mein Fall.

Und Ihr wollt trotzdem noch als The Prodigy weitermachen?

Flint: Als ich damals meinen Freunden erzählte, dass ich diesen Kerl namens Liam getroffen habe, der geile Songs macht, zu denen ich performen werde, und dass da auch noch dieser Maxim mit seinen Vocals am Start war, ich also eine coole Band gründete, klopften sie mir alle auf die Schulter und freuten sich für mich: „Super, das wird ein tolles Jahr werden für dich, genieße es!“ Wir hangelten uns von Gig zu Gig, nie weiter. Tja, dieses Jahr erlebe ich immer noch. Ich sehe zu, die jeweils nächste Show zu rocken, mit diesen beiden Typen hier geil abzuliefern. Das ist unsere Philosophie. Ende der Geschichte.

www.theprodigy.com

(erschienen in: unclesallys*s 03/2009, Titel)