Startseite » Tod der Szenepolizei

Tod der Szenepolizei

Das einstige Wunderkind der britischen Dance-Szene meldet sich lautstark zurück: Auf „Invaders Must Die“ erfinden sich The Prodigy nicht neu und trotzen dem Zeitgeist. Frontsau Keith Flint erklärt, warum: „Ich feiere immer noch das Jahr 1990“.

Hach, die goldenen Neunziger. Was waren das für Zeiten: Die Plattenfirmen schmissen ihr Geld noch zum Fenster raus, Musikvideos wurden noch von einer Öffentlichkeit wahrgenommen und waren Teil eines Diskurses über Popmusik, die damals noch Skandale auslöste. Zu keiner anderen Zeit hätte eine Band wie The Prodigy einen derartigen Erfolg feiern können wie damals. Ihre Musik, ein gallekotzender Bastard aus Elektro und Punk, war für einen Mainstream niemals konzipiert – und traf genau deshalb derart ins Mark einer gelangweilten Generation. Diese Londoner Party-Bohème diente dem Video zu The Prodigys “Smack My Bitch Up” ebenso als Blaupause wie der zehn Jahre später verfassten und bitterbösen Musikbusiness-Satire ‘Kill Your Friends‘ von John Niven: Fuffies im Club, Koks auf’m Klo, Saufen ohne Morgen, bumsen bis aufs Blut. Der Hedonismus in den englischen Clubs hatte, wie die Karriere von The Prodigy, seinen Höhepunkt erreicht.

‘Smack My Bitch Up‘, nach ‘Firestarter‘ und ‘Breathe‘ die dritte Single-Auskopplung aus ‘The Fat Of The Land‘, wurde erst zum Soundtrack dieser Ära, dann zu ihrem Abgesang. MTV verbannte das Video aus seinem familienfreundlichen Programm. Das wahre Verdienst von The Prodigy aber war nicht allein, den Zeitgeist zu Grabe zu tragen, der sie als Band erst hervorgebracht hatte. Mit ‘The Fat Of The Land‘, einem der meistverkauftesten britischen Alben der Neunziger, brachten sie den Elektro zu den Massen und revolutionierten den Dancefloor.

Technobeats in Tokio: Keith Flint, Liam Howlett, Maxim Reality (v.l.)

‘Invaders Must Die‘ heißt das neue Album von The Prodigy. Es ist das fünfte in der 19-jährigen Bandgeschichte, zitiert seine Vorgänger nur am Rande und stampft durch die Clubs, als ob es den Bigbeat im Breakbeat gerade erst erfunden hätte. Wer also den Stellenwert von The Prodigy, diesem einstmaligen Phänomen, in der Pop-Geschichte einordnen will, muss wissen, woraus diese Band erwachsen ist.

Im London der späten achtziger Jahre feiert eine Subkultur Hochkultur: Unter der Flagge ‘Acid House‘ belagern DJs leere Warehouses, schmeißen Drogen und Parties. Der Smiley wird zum Symbol einer Rave-Kultur, die statt Gitarren (wie noch die Hippiekultur von 1968) Turntables als ihr Instrument sexueller Befreiung erkennt, sich selbst und ihre neuen technischen Möglichkeiten gerade erst kennen lernt und höchstens erahnt, welch kleine Revolution sie in der Popmusik damit anzetteln würde. In dieser Zeit beginnt auch ein gewisser Liam Howlett, sich an HipHop, Rave und DJing auszuprobieren. Zusammen mit dem Tänzer Keith Flint und dem Sänger Leeroy Thornhill gründet er 1990 The Prodigy. Zwei Jahre später, zu einer Zeit, als Tanzkünstler eigentlich noch keine Alben veröffentlichten, erscheint ihr Debüt namens ‘Experience‘. Weniger in Anlehnung an Jimmy Hendrix, mehr als Momentaufnahme dieser Zeit, der sie schon damals ein Stück voraus waren. The Prodigy, das sind doch diese drei Freaks, mit Piercings, bunten Kontaktlinsen, zuviel Adrenalin und haufenweise Visionen?

Schon mit dem Nachfolger ‘Music For The Jilted Generation‘ schießen sie in den britischen Charts von 0 auf Platz 1. Singles wie ‘No Good‘, die Jahre vorher nur in dunklen Clubs funktioniert hätten, stürmen die Dorfdiskotheken. In Deutschland, der anderen Rave-Hochburg, verbucht die Love Parade Besucherrekorde, Sven Väth, Westbam oder gar Marusha erreichen bisher unereichte Hörerschaften. Und noch eine andere Sparte elektronischer Tanzmusik erfreut sich fragwürdiger Beliebtheit: Eurodance-Acts wie Snap, Two Unlimited, Magic Affair und Konsorten nutzen die Welle, die The Prodigy lostraten, um mit austauschbarem Kirmes-Trash ein paar Maxi-Singles zu verkaufen – mit ebenso fragwürdigem Erfolg.

Schon vor der Veröffentlichung des innig erwarteten ‘The Fat Of The Land‘ zählen The Prodigy neben den Chemical Brothers zur Speerspitze einer Rave-Techno-Kultur, die ihre Utopien vom Cyberspace nicht mehr nur träumt, sondern in ihrer Musik lebt: Die Zukunft, die für jeden Elektro-Tüftler eine bessere sein musste, ist plötzlich da. Mit elektronischem Equipment setzen The Prodigy ein Gefühl um, für das Nirvana noch eine Gitarre und vier Akkorde reichten: Wut. ‘The Fat Of The Land“ erscheint, und plötzlich schmückten Howlett, Flint, Thornhill und MC Keith Palmer a.k.a. Maxim Reality auch die Cover einschlägiger Rock-Gazetten. Zu ‘Firestarter‘ gehen selbst die Menschen tanzen, für die elektronische Musik bisher ein Buch in einer fremden Sprache war. Alle können oder wollen sie sich einigen auf diesen im Mainstream bis dato so unerhörten Sound, ein Sound wie ein Mittelfinger. Nur The Prodigy selbst nicht. Nach exzessiven Touren wird es still um die Band. Palmer, Thornhill und Flint versuchen sich an Solokarrieren. Erst sieben Jahre nach ‘The Fat Of The Land‘ erscheint mit ‘Always Outnumbered, Never Outgunned‘ ein Comeback-Album, das keines ist: Für diese einst so wahnsinnige Band will sich außerhalb der einschlägigen Clubs niemand mehr so Recht begeistern, außer die Band selbst:

Immer noch in Tokio: The Prodigy

War „Always Outnumbered, Never Outgunned“ eine Katharsis für Euch? Ein Album, das so passieren musste, aber kein weiteres Mal?

Liam Howlett: Ja. Ich fühlte mich, als hätte ich Keith und Maxim ausgesondert. Totaler Quatsch, im Nachhinein. Unter keinen Umständen wollten wir „Fat Of The Land“ Teil Zwei aufnehmen. Die Plattenfirma fand diesen Ansatz sehr mutig von uns. Wir steckten in einem Tief, die Kommunikation lief nicht. Wir mussten diese Platte machen, um die Band auf Neustart zu bringen. Darauf konnten wir wieder aufbauen. Hätten wir „Always Outnumbered, Never Outgunned“ nicht gemacht, gäbe es heute auch kein „Invaders Must Die“.

Maxim Reality: In den Jahren 2002 und 2003 tourten wir sehr exzessiv und brauchten danach eine Pause. An dem Punkt aber gerieten wir unter den Druck, ein neues Album zu machen, was, wie Liam sagte, eben kein „Fat Of The Land“ Teil Zwei werden sollte.

Howlett: Es war kein Spinner-Album wie „Paul’s Boutique“ von den Beastie Boys. Obwohl: Jede Band, die vier oder fünf Alben macht, hat eines dabei, das eher schräg ist.

Keith Flint: Wenn du Teil von The Prodigy bist, dann bist du eben „Always Outnumbered“. Die Leute mussten diese Platte entdecken, wir schmissen sie ihnen nicht so ins Gesicht wie „The Fat Of The Land“. Ich mag das. Alle großen Bands haben so ein Album. Die Platte war für die Öffentlichkeit und die Presse verwirrender als für uns. Das Gefühl, dass man es auf uns abgesehen hatte, war neu.

Howlett: Daher kommt ja auch der neue Titel „Invaders Must Die“.

Flint: Wir waren wie eine Gang, zu der die Leute keinen Zugang fanden, aber wollten. Wie du da sitzt, könntest du Liam fragen: „Warum hast du Maxim nicht aufs Album genommen?“ Es grassierte eine Paranoia um uns herum. Wir fühlten uns wie unter Invasion. Bis jemand sagte, dass diese Eindringlinge sterben müssen!

„Invaders Must Die“ beginnt mit dem Titeltrack und der wiederkehrenden Zeile „We are The Prodigy“. Der Sound ist von der ersten Sekunde Euer bekannter Trademark-Sound. Wie macht Ihr das?

Howlett: Das ist das, was wir als Band tun können. Wir können kein Dubstep, wir können kein Drum’n’Bass. Das können die anderen, wir können das hier. Mit „Invaders Must Die“ wollten wir wieder ein Statement abliefern und sagen: Wir sind The Prodigy! Wir sind zurück (reißt den Arm in die Luft)! Der Rest des Albums folgt dem ersten Track, der instrumental ist und sagt: Wir sind keine Band des Wortes, wir sind eine Musik-Band. Die Musik ist so wichtig wie die Texte.

Flint: Ich weiß genau, was Liam meint: Wir sind keine Band im traditionellen Sinne. Wenn ein Track rockt, dann soll er das tun, ob mit oder ohne Worte. So funktionieren wir.

Maxim: Die Vocals sind ein Geräusch, ein Teil dieses Albums.

Ein anderer gewichtiger Teil des Albums ist Euer Gespür für Melodien. Habt Ihr das über die Jahre entwickeln können?

Howlett: Das war zumindest eines unsere Ziele. Musikalisch sollte die Platte mehr Tiefe aufweisen. Je mehr die Musik sich bewegt, desto mehr Platz finden auch die Vocals. Jeder Track wurde um ein Riff, um einen Groove herum gebaut. In der Vergangenheit lief das linearer ab.

Flint: Der Schreibprozess begann zu relaxt. Da dauerte es, bis wir unseren Fokus fanden.

Howlett: Wir gingen ins Studio wie drei kleine Kinder: „Wir machen ein Album, yeah!“. Ich versuchte, die Kontrolle zu übernehmen, die Ideen zu bündeln und zu Ende zu denken. In drei Monaten hatten wir 30 Ideen – da fällt es schwer, sich zu erinnern…

Flint: Gute Tracks vergisst du nicht – dachten wir!

Howlett: Als wir dann endlich konzentriert von 8.00 bis 24.00 Uhr in ein neues Studio gingen und uns nicht aus den Augen ließen, wurde es endlich ernsthafter. Wir machten uns einen Zeitplan und merkten, dass wir den Scheiß hier wirklich machen wollten.

Auf dem Song „Run With The Wolves“ spielt Dave Grohl Schlagzeug. Wie kam es zu dieser Zusammenarbeit?

Howlett: Wir tourten mit den Foo Fighters und umgekehrt, wir kennen uns seit zehn Jahren.

Flint: Dave schrieb uns eine E-Mail: „Unsere Tour ist vorbei, ich bin Drummer und will Schlagzeug zu spielen – was sollen wir da tun?“ „Wir beenden gerade die Aufnahmen für unser Album“, antworteten wir. Er schickte uns dann eine Festplatte: vier Stunden voller Dave Grohl-Drumming, massive Energie, toller Sound – das inspirierte uns zu „Run With The Wolves“. Wir verheirateten einen unserer noch offenen Gesangsparts mit den Teilen, die Liam aus Daves Drums gebastelt hatte. Das schickten wir uns hin und her. Einen großen Rock’n’Roll-Moment gab es also nicht, wir hingen nicht im Studio ab und tranken Tequila.

Howlett: Das hab ich ohnehin schon lange nicht mehr gemacht! Die meisten Kollaborationen laufen mittlerweile über diesen Weg.

Flint: Jetzt ist Dave auf dem Album und wir sind stolz. Er ist ein großer Kopf, war Teil von Nirvana. Ich respektiere ihn wirklich.

Howlett: Somit gehört diese Geschichte zu unserem Album dazu. Wir passen aber auf, dass die Personen nicht wichtiger werden als die Musik. Aus diesem Grund haben wir keine Gesangskollaborationen auf der Platte.

Flint: Dave nahmen wir, weil wir wussten: Das Ergebnis wird ein neuer cooler The Prodigy-Track. Nicht, weil er Dave Grohl ist.

Seit bald 20 Jahren seid Ihr nun als Band unterwegs. Liam, hattest Du ein Bandkonzept im Kopf, als Du mit dem Schreiben anfingst?

Howlett: Ich hätte auch ein Soloalbum machen können.

Flint (grinst): Wolltest Du nicht die HipHop-Kultur revolutionieren?

Howlett: Ich habe mich hin und wieder am HipHop versucht. Dann aber entdeckte ich die Rave-Szene und traf Euch beide beziehungsweise diesen anderen Typen!

Flint: Den Plattendeal hatte Liam ja schon. Wir wollten nur abhängen und so ein Teil davon sein.

Howlett: Leeroy und Keith sagten: „Wir lieben Deine Musik. Die Bands da oben auf der Bühne – das sollten wir sein!“ Da gab es dieses Festival in London, `90 oder ´91. Alle großen DJs legten dort auf. Ich sagte mir: Wenn wir da spielen, haben wir es geschafft! Was soll ich sagen, so kam es dann. Fünf Monate später spielten wir dort. Uff!

Und 15 Jahre später küren Euch die Kollegen vom Q Magazin zu den fünf einflussreichsten britischen Bands der Neunziger.

Flint: Ich lese die Presse nicht. Liam tut es, Maxim überfliegt sie.

Howlett: Ich bleibe gerne wütend. Und wenn ich die Presse lese, werde ich wütend. Ich finde immer etwas, das ich nicht mag. Deshalb mache ich Musik. Wäre ich fröhlich, ich würde keine Musik schreiben. Es ist niemals alles gut, überall steckt etwas Negatives drin.

Eure Musik wurzelt in den späten Achtzigern und frühen Neunzigen. Glorifiziert Ihr diese Zeit im Nachhinein, würdet Ihr gar gerne dorthin zurück?

Flint: Ich fühlte mich niemals mehr derart Teil einer Szene wie damals. Die Musik, die Menschen, der Spaß, nie liebte ich etwas mehr. Diese Zeit kann man nicht zurückholen. Ich hoffe aber, dass andere Leute heute noch dieses Gefühl erleben dürfen, in einer Szene, die ihnen wahr und schön erscheint, ihre Nächte und ihre Tage so wichtig und großartig vorkommen wie mir damals. Wenn etwas so underground ist, dass die Journalisten nicht wissen, wie sie es nennen sollen, wo sie es finden, wie es passiert, wenn sie sich fragen: Was ist das für eine Musik? Wer macht die? Und wo? Wenn etwas unberührbar und unentdeckt scheint – all das ist für mich ein Zauber. Das kannst du nicht kreieren, das passiert auf natürlichem Wege. Und ich hoffe, dass gerade irgendwo so etwas gedeiht. Deutschland war für uns der einzige andere Ort, der eine Rave-Szene hatte – und immer noch hat!

Howlett: Wir kamen nach Deutschland, als… Wann fiel die Mauer? ´91?

1989.

Howlett: ´89. Wir waren ´91 hier, ich erinnere mich: Berlin war der erste Ort in Deutschland, den wir überhaupt besuchten. Von dort an kamen wir jedes Jahr, spielten auf der Mayday und anderen Raves. Deutschland hat die tollsten Locations dafür.

Flint: Gerade im Osten. Die Menschen verließen die alten Fabriken und Lagerhallen, und jeder aus dem Westen schmiss dort seine Parties. So funktionierte die englische Raveszene: Finde ein Gebäude, stopf ein Soundsystem rein und feiere eine Party, bis die Polizei dich wieder raus schmeißt! Das war Punkrock!

Geht Ihr in England immer noch auf Rave-Parties?

Howlett: Es gibt keine mehr. Die Raves heute sind anders. Die Musik ist nicht mehr mein Fall.

Und Ihr wollt trotzdem noch als The Prodigy weitermachen?

Flint: Als ich damals meinen Freunden erzählte, dass ich diesen Kerl namens Liam getroffen habe, der geile Songs macht, zu denen ich performen werde, und dass da auch noch dieser Maxim mit seinen Vocals am Start war, ich also eine coole Band gründete, klopften sie mir alle auf die Schulter und freuten sich für mich: „Super, das wird ein tolles Jahr werden für dich, genieße es!“ Wir hangelten uns von Gig zu Gig, nie weiter. Tja, dieses Jahr erlebe ich immer noch. Ich sehe zu, die jeweils nächste Show zu rocken, mit diesen beiden Typen hier geil abzuliefern. Das ist unsere Philosophie. Ende der Geschichte.

www.theprodigy.com

(erschienen in: unclesallys*s 03/2009, Titel)

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert


*

Zurück nach oben