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„Jerusalem ist wie ein Drahtseilakt“

Vier Menschen über die Rolle von Krieg in ihrem Leben: Ian „Kobi“ Cooper (35) ist selbständiger Touristenführer in Israel.

Touristenführer Ian "Kobi" Cooper  in Israel
"This is me standing in a kiwi field holding a Katyusha rocket which was fired by Hizbullah at Northern Israel"

OPAK: Kobi, was fällt Ihnen zuerst ein, wenn Sie an Ihren Job denken?

Ian „Kobi“ Cooper: Es ist eine wunderbare Chance, draußen zu sein und Leute aus der ganzen Welt zu treffen. Ich will sie inspirieren und selbst etwas dazu lernen.

Sie haben einen Abschluss in Geschichte sowie International and Jewish Studies. Warum darf man in Israel nicht schon als Student Touristengruppen führen?

Im Gegensatz zu den meisten anderen Orten ruft dieses Land bei allen Menschen ein Gefühl von Zugehörigkeit hervor, es berührt ihre Seelen. Die Geschichten, die hier im „Heiligen Land“ in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft passieren, sind Teil unserer Identitäten, ob wir das nun bemerken oder nicht. Deshalb muss ein Touristenführer seine Kunden sehr vorsichtig und fachkundig durch diese Erfahrungen lotsen. Außerdem treffen hier in diesem Bauchnabel der Welt so viele verschiedene Religionen, Königreiche, geographische Zonen und Politik aufeinander. Um der Aufgabe dieser Vermittlung gewachsen zu sein, muss man Erfahrung und Wissen mitbringen. Ich bekomme täglich mehr Fragen gestellt als ich jemals auf all meinen Reisen selbst gestellt habe. Das ist eine große Verantwortung, da will das Land im Dienste aller sicherstellen, dass der Touristenführer damit umgehen kann. Das ist wie mit dem deutschen Bier: Es gibt eine große Verantwortung gegenüber der Öffentlichkeit, das bestmögliche Produkt zu machen – darum gibt es die Reinheitsgesetze. Das respektiere ich.

Was war Ihr bisher schrägstes Erlebnis als Touristenführer?

Hier in Jerusalem passieren andauernd schräge Dinge. Das Jerusalem-Syndrom ist eine sehr bekannte Erkrankung. Besucher fantasieren plötzlich, sie seien der Messias oder eine andere religiöse oder historische Figur. Wir haben ein ganzes Krankenhaus, das sich um solche Fälle kümmert. Ein anderes Mal sah ich, wie sich ein Mann am Toten Meer nackt auszog und sich mit einem neuen Schwimmanzug aus Schlamm bekleidete. Das war wie ein Autounfall: schrecklich, aber du kannst nicht weggucken – bis sie ihn mitnahmen.

Hatten Sie jemals Angst?

Nicht wirklich. Israel ist ein sehr sicheres Land, Gewaltverbrechen gibt es fast keine. Kleine Kinder laufen alleine durch die Straßen, junge Leute feiern bis in die Morgenstunden. Wie jedes Land haben auch wir Ecken, in denen es nicht hundertprozentig sicher ist, aber das ist es nirgendwo. Natürlich wünsche ich mir, dass alle Menschen lernen würden, ihre Probleme durch Diskussion und Kompromisse statt mit Steinen, Pistolen oder Bomben zu lösen.

Entgegen seines Namens ist Jerusalem eine Stadt des Krieges, oder?

Das ist schon lustig: eine Stadt, die „Stadt des Friedens“ genannt wird, wurde in ihrer Geschichte bisher 38-mal erobert. Es gibt Leute, die sagen, dass Yerushalayim – der hebräische Name der Stadt – „They will see peace“ bedeutet. Andere sagen, es bedeutet „They will shoot peace“. Sogar die Täler die die Altstadt umgeben heißen “Valley of Gehenna” (Hölle) und Kidron/Yehoshafat – wo du in den Himmel kommst, wenn du ein guter Junge oder ein gutes Mädchen warst. Jerusalem ist eine Stadt, die einen Drahtseilakt zwischen Himmel und Hölle, Krieg und Frieden, Ost und West und so weiter balanciert. Ein ganz schöner Ritt.

www.tourguideofisrael.com

(erschienen in: OPAK #9, „Krieg“, Juli 2011)

„Als alter Preuße interessiert mich unsere Geschichte“

Vier Menschen über die Rolle von Krieg in ihrem Leben: Joachim Brauer stellt als Reenacter mit der Kurmärkischen Landwehr e.V. das preußische Leben nach.

Kurmärkische Landwehr e.V.
Kameras gab es damals offenbar schon: Joachim Brauer (3. v. r.) und seine Landwehr

OPAK: Herr Brauer, Ihr Hobby ist außergewöhnlich: Sie spielen einen Teil der Befreiungskriege 1813-1815 nach.

Joachim Brauer: Das ist nur eine Facette. Wir stellen die napoleonische Ära dar, da ist der Befreiungskrieg zwischen Preußen und Frankreich 1813-1815 zwangsläufig dabei. Wir wollen aber die damalige Zeit mit all ihren Lebensbereichen so originalgetreu wie möglich nacherleben.

Warum diese Ära? Sie hätten sich doch auch eine ganz andere Epoche aussuchen können.

Na klar, Sie haben so recht, das ist der Grund! Weil es auch irgendwas anderes sein könnte, haben wir von vielen Zeiten zwangsläufig und logisch eine auswählen müssen. Quellen fanden wir im Internet und in Bibliotheken genug. So sind wir an den Anfang des 19. Jahrhunderts gekommen. Die einen aus Geschichtsinteresse, die anderen wegen der Uniformkunde, zum Beispiel. Und ich interessiere mich halt für deutsche Geschichte.

Weshalb?

Na weil ich ein Deutscher bin! Ich bin nun mal ein Berliner, und als alter Preuße, die wir hier ja waren, interessiert mich, wie Berlin früher dagestanden hat. Man recherchiert und sucht Bestätigung gefundener Quellen, um entsprechend das nachgelebte Leben einzurichten.

Sie sind also auch ein Sammler von historischen Gegenständen, Werkzeugen und Kleidern?

Nö, das ist ja viel zu kostspielig. Das wird nachgebaut. Wir versuchen zum Beispiel die Webart etwa so hinzukriegen wie es früher gewesen ist. Versuchen den Stoff zu kaufen, mit dem der Rock, die Weste oder die Hose nach historischen Schnittmustern genäht wird. Die findet man ja noch in der Literatur.

Wie viele Mitstreiter haben Sie?

Bei der Kurmärkischen Landwehr sind wir vielleicht 30 aktive oder passive Mitglieder. Es gibt ja tausende von Reenactern. Wir treffen uns national und international an den entsprechenden historischen Orten, man könnte jedes Wochenende irgendwo hin fahren.

Was war Ihr persönliches Highlight?

Belle-Alliance. Man sagt auch Waterloo dazu. Oder die Völkerschlacht in Leipzig. Oder die Schlacht von Austerlitz.

Sprechen Sie auch so wie zu der jeweiligen Zeit?

Da gibt es ja verschiedene Darstellungsformen: first, second oder third person. So ähnlich wie bei Computerspielen. Und nur wenn ich first person spiele, lebe ich das richtig aus. Dann spreche ich und verhalte mich entsprechend und tauche nicht in die Jetztzeit ein. Auch wenn ich von Zuschauern angesprochen werde, bleibe ich in meiner Zeit.

www.kurmaerkische-landwehr.de

(erschienen in: OPAK #9, „Krieg“, Juli 2011)

„Ich mach’ das für die Kohle“

Vier Menschen über die Rolle von Krieg in ihrem Leben: Tim Fenk*, 21, hat sich bei der Bundeswehr für die nächsten vier Jahre mit der Option auf acht weitere Jahre verpflichten lassen.

OPAK: Herr Fenk, die Wehrpflicht wurde gerade ausgesetzt. Warum gehen Sie trotzdem hin?

Tim Fenk: Eigentlich wollte ich Zahntechniker lernen. Da verdient man aber nur 260 Euro und beim Bund verdient man so knapp 800-1000 Euro in der Ausbildung.

Geld verdienen kann man in der Lehre auch woanders.

Die Bundeswehr bietet mir die Möglichkeit, in verschiedene Berufe reinzuschnuppern, vom Sattler über Maler und Lackierer bis zum Industrie- oder Elektromechaniker. Das kommt mir entgegen, ich bin noch jung und kann mich noch nicht festlegen.

Sie überlegten auch, zu den Scharfschützen zu gehen. Warum?

Das ist sehr interessant wegen des Trainings und der Fortbildung. Man lernt, sich eigenständig aus gefährlichen Situationen zu befreien. Als Scharfschütze bist du oft in den Bergen und musst dich zum Beispiel abseilen. Das ist alles viel actionreifer. Und es ist besser bezahlt.

Dort hätten Sie früher oder später Menschen „gezielt ausschalten“, also töten müssen.

Das war einer der Gründe, warum ich es dann doch nicht gemacht habe. Mir war vorher nicht klar, dass es auch darum geht, gezielt Menschen zu töten. Das möchte ich nicht. Wenn es sein muss, um den eigenen Schutz zu gewährleisten, schon, aber nicht weil mir das jemand sagt.

Einsätze in Kriegsgebieten wären für Sie kein Problem?

Ich habe mich, als ich mich gemeldet habe, bereits für das Ausland verpflichten lassen.

Warum?

Auch das ist meistens eine Geldsache. Für sechs Monate bekommst du schon fast einen fünfstelligen Betrag, plus dem eigentlichen Gehalt.

Unsere Grenzen sind sicher. Warum braucht Deutschland noch eine Bundeswehr?

Ich finde, dass in vielen Ländern die Politik und die Sicherheit der Bürger so schlecht sind, dass so starke Länder wie unseres oder wie Amerika helfen sollten, das zu regeln. Als Sicherheitsschutz, bis die Normen wieder da sind. Für Krieg finde ich die Bundeswehr nicht okay, für die Sicherheit finde ich sie angemessen.

Sie hatten eine Lehre als Koch angefangen. Wäre das nicht auch eine Option für Sie bei der Bundeswehr?

Das wäre auch eine Möglichkeit, aber die würde ich nicht wählen. Für 500 Leute Kartoffeln schälen, nein danke!

*Name geändert

(erschienen in: OPAK #9, „Krieg“, Juli 2011)

„Wer überfällt schon ein Waffengeschäft?“

Vier Menschen über die Rolle von Krieg in ihrem Leben: Anja Selle arbeitet seit 18 Jahren bei „Waffen Wodarz“ in Berlin-Neukölln.

OPAK: Frau Selle, wie wurden Sie Inhaberin eines Waffengeschäfts?

Anja Selle: Ich bin gelernte Büchsenmacherin, das kann man heute noch lernen. Mein Vater war bereits Büchsenmacher, hatte aber nur eine Werkstatt. Ich arbeite seit 1993 hier und habe das Geschäft vor fünf Jahren vom Ehepaar Wodarz übernommen.

Kann man von legalem Waffenhandel heutzutage gut leben?

Wir müssen genauso kämpfen wie ein normaler Klamottenladen auch. Wir leben von einer Branche, die ein Hobby ausübt. Und wenn die Leute weniger Geld haben, sparen sie als erstes nicht an der Miete oder am Essen, sondern an ihrem Hobby.

Wer darf in Ihrem Laden eine Waffe kaufen?

Kunden ab 18 Jahren. Je nachdem was die haben wollen brauchen sie entsprechende Lizenzen. Ein Messer darf ab 18 jeder kaufen. Es gibt zwei Bereiche: freie Waffen sind Gas-, Schreckschuss- und Luftdruckwaffen. Scharfe Waffen bekommt man nur mit Waffenbesitzkarte. Das ist im Waffengesetz genau deklariert.

Wie sieht ein typischer Kunde von Ihnen aus?

Den gibt es nicht. Es gibt die Sammler, die sich für die Technik oder nur für eine bestimmte Zeitepoche interessieren. Es gibt die Leute die zu Silvester gerne ein bisschen mit Schreckschusswaffen schießen, das ist eine große Klientel. Und dann gibt es noch die Hobbyschützen, Jäger oder Sportschützen.

Raten Sie Kunden auch vom Kauf ab?

Ja. Wenn ich zum Beispiel sehe, dass die sehr stark unter Drogen stehen. Oder wenn die unsicher sind. Wenn es trotz mehrfacher Erklärung mit der Handhabung nicht stimmt und ich dann erfahre, dass es zur Selbstverteidigung sein soll – die wenigsten Leute nutzen es übrigens für Selbstverteidigung – dann rate ich eher zu Spray.

Wurden Sie schon mal überfallen?

Nein, es gab auch keine Versuche. Ich hatte mal einen Kunden der ausgeflippt ist. Der war mit einer Reparatur nicht ganz zufrieden und fuchtelte dann mit seiner Schreckschusspistole rum. Ich bat ihn, sich zu beruhigen, hat er nicht getan, da habe ich die Polizei gerufen. Als Kassiererin bei Schlecker hätte ich aber mehr Angst überfallen zu werden. Wer überfällt schon ein Waffengeschäft?

Es gibt in Ihrer Branche also nicht mehr schwarze Schafe als in anderen?

In dieser Branche sowieso nicht. Das Landeskriminalamt überprüft unsere Waffen regelmäßig ohne Voranmeldung. Wenn jemand Mist damit anstellen will, dann besorgt der sich die Waffen woanders.

(erschienen in: OPAK #9, „Krieg“, Juli 2011)

Sich dem Absurden unterwerfen*

Melodie und Anarchie: Mit „DMD KIU LIDT“ liefert die nach Berlin ausgewanderte österreichische Band Ja, Panik eines der besten, nun ja, deutschsprachigen Alben der letzten Jahre ab. Vielleicht auch, weil ihnen das alles so egal ist.

Es ist ruhig an diesem sonnigen Frühlingsnachmittag in der Markthalle in Berlin-Kreuzberg. Andreas Spechtl hat mal gegenüber gelebt, als er aus Wien vor anderthalb Jahren herzog. Nebenan wohnt Christiane Rösinger, mit der er ihr aktuelles Soloalbum „Songs Of L. And Hate“ einspielte. Er sitzt da, um über seine aufstrebende Band Ja, Panik und erstmals über ihr viertes, komplett in Berlin entstandenes Album „DMD KIU LIDT“ zu sprechen. Es geht um Konstruktion und Destruktion, um Wegnehmen und Räume schaffen, um Erwartung und Versagung. „Nichts ist schlimmer als Selbsterklärung“, sagt Spechtl, während er genau das tut. Schließlich sei so eine Bandkarriere, mit der man zumindest sein Faulenzerleben finanzieren wolle, gepflastert mit Kompromissen; man müsse also ein bisschen darüber reden, wenn man Platten verkaufen will. Und Spechtl will das, „da brauchen wir uns nichts vormachen“.

Andreas Spechtl (2. v.l.) und seine Jungs. Fotos müssen eben sein.

Er, der Songschreiber, Sänger und Gitarrist von Ja, Panik und Bohéme einer gefallenen Indierock-Generation, ist im normalen Leben nicht der Dandy, den er auf seinen Tonträgern bisweilen mimt. Fuchtelt nicht mit den Händen, schleudert weder Parolen noch Gläser gegen die Wand, sitzt da mit seinem Parka über Cardigan und Polohemd, rotem Halstuch und wuscheligem Kopf und sucht nach Worten. „Die Gruppe Ja, Panik hat sich noch nie hingesetzt und auf der Gitarre einfach einen Song gespielt. Bis jetzt“, sagt er und nippt verstohlen an seiner Apfelschorle. „Und dann fragten wir uns: Wie können wir das wieder zerstören?“ Bei Ja, Panik sei alles immer so wild und aufbrausend gewesen, dem wollten Spechtl, Sebastian Janata (Schlagzeug, Gesang), Stefan Pabst (Bass, Gesang), Christian Treppo (Klavier, Gesang) und Thomas Schleicher (Gitarre) radikal entgegenwirken. „Es ist gewissermaßen die entspannteste und reduzierteste unserer Platten“, sagt Spechtl weiter. Vor allem aber ist „DMD KIU LIDT“ eine Platte, die mit ihrem ausgelassenen Situationismus, ihrem dadaistischen Gestus, ihrer Referentialität und ihrer Reduktion bald zu einem der besten deutschsprachigen Popalben der letzten Jahre avancieren dürfte.

„Der Referenzen sind wir uns zwar bewusst. Dieser ganze Zitatwahnsinn, der uns immer arg auf die Fahnen geschrieben wurde, hat aber abgenommen“, relativiert Spechtl, bleibt im Ungefähren und lässt ein bisschen vom mangelnden Selbstbewusstsein durchscheinen, das angeblich alle österreichischen Bands teilen, bevor sie international Erfolge feiern. „Wir haben uns wieder fremder Ideen bemächtigt, die aber viel vager bearbeitet. Früher ist es ja praktisch bis zum Plagiat gegangen.“ Der sperrige Titel bedeutet in voller Länge übrigens „Die Manifestation des Kapitalismus in unserem Leben ist die Traurigkeit“, was Spechtl selbst aber nicht verrät. „Das wird sich noch von selbst erklären“, prophezeit er und will es dabei belassen. Das Gute daran: Ja, Panik funktionieren trotz aller eventuellen Verkopftheit seit jeher genau über dieses Gefühl von Erkenntnis. Auch wenn man von dem, was Spechtl sich da als Flaneur zwischen den Sprachen und aus Impressionsfetzen von Walter Benjamin über Bryan Ferry bis Bob Dylan („Klar bin ich Fan von Roxy Music“) so zusammenreimt, nichts versteht, versteht man dank seines Habitus doch alles. Wo „The Taste and The Money“ (2007) von der SPEX zum wichtigsten deutschsprachigen Album seit Blumfelds „L’Etat Et Moi“ gekürt wurde und der Nachfolger „The Angst And The Money“ (2009) sich noch an der finalen Destruktion von Indierock versuchte und dabei Hits wie „Alles Hin, Hin, Hin“ oder „Pardon“ abwarf, schmeißt „DMD KIU LIDT“, für dessen Aufnahme Ja, Panik dem Rockproduzenten Moses Schneider „Wummsverbot“ erteilten, nun sämtliche Altlast über Bord – und baut sich aus Versatzstücken und einem Entertainer, dessen gesangliches Spektrum die Qualitäten von zum Beispiel Mick Jagger, Dirk Von Lowtzow, Pete Doherty oder Robert Smith nur beiläufig vereint, ein Denkmal seiner eigenen Sozialisation. Von der Hand weisen will Spechtl all das nicht, „am Ende kann ich eh mit allem leben“. Aber auch nicht ausführen oder gar bestätigen. Weil ja nichts schlimmer als Selbsterklärung ist.

* Zitat aus dem Song „Time Is On My Side“ von Ja, Panik. Ihr viertes Album „DMD KIU LIDT“ erscheint am 15. April bei Staatsakt.

(erschienen in: OPAK #8, 24.März 2011)

„Aus dem Knast kommt keiner von alleine raus“: Interview mit einem Schließer

(Fortsetzung von: „Ich bin dann mal weg“ – Ausbrecherkönige)

Peter Wacker (33, Name geändert) arbeitet seit 2005 als so genannter „Schließer“ in einer deutschen Haftanstalt. Eine Flucht hat er noch keine miterlebt.

OPAK: Herr Wacker, Sie sind gelernter Gas-Wasser-Installateur. Warum sind Sie in den Knast gegangen?

Peter Wacker: Beamter ist ein sicherer Job. Ich bin aber auch vorbelastet, mein Vater arbeitete dort.

Sie absolvierten eine Ausbildung und wurden Schließer.

Justizvollzugssekretär im mittleren Dienst, nicht Schließer oder Wächter. Da legt mein Chef großen Wert drauf. Das wird dem Berufsbild nicht gerecht.

Warum nicht?

Es wertet den Beruf ab. Das Aufgabenfeld umfasst mehr als Essen bringen, an die Luft lassen und wieder wegschließen. So ein Gefängnis ist eine Stadt für sich, alles ist darauf ausgerichtet, den Gefangenen Freizeitmöglichkeiten aufzuzeigen und ihre schulischen und beruflichen Defizite aufzuarbeiten. Wir sind eine Ausbildungsanstalt. Die Gefangenen sehen es vielleicht anders, aber wir Bediensteten sehen es so, dass wir mit ihnen arbeiten.

Wie sieht ein gewöhnlicher Arbeitstag aus?

Der Tagesablauf in einer JVA ist komplett durchorganisiert. Um 5:45 Uhr ertönt ein Gong zum Wecken. Um 6 Uhr holen wir Beamte mit unseren Hausarbeitern – Gefangene, die für die Versorgung auf der Abteilung zuständig sind – das Frühstück aus der Küche, um 6:10 Uhr wird die Morgenkost ausgegeben. Wir gehen von Haftraum zu Haftraum und machen dabei eine Lebenskontrolle, ohne Ausnahmen. 6:40 Uhr ist Arbeitsausrücken, die Häftlinge gehen in ihre Betriebe und Werkstätten. Vorher können sie ihre Post abgeben, die dann zur Briefzensur geht. Halb 12 Arbeitseinrücken, 12 Uhr Mittagskost. In der Zwischenzeit wurde die eingehende Post zensiert, Haftraumkontrollen gemacht, Stellungnahmen und Gutachten für Staatsanwaltschaften und Psychologen geschrieben. Um 16 Uhr, wenn die Arbeiter wieder einrücken, müssen wir die Bestände abmelden – wir prüfen, ob die Anzahl der Gefangenen mit der tatsächlichen Zahl übereinstimmt. 17 Uhr Abendessen, dann duschen. Ab 18:30 Uhr fängt die Freizeit an: Sport-, Schach-, Musik- oder religiöse Gruppen, VHS-Kurse, Sprachen, EDV. Um 21 Uhr ist der große Einschluss, da gleichen wir noch mal die Bestände ab. Die stimmten bisher noch immer.

Sitzen bei Ihnen auch die schweren Jungs?

Bei uns sitzen Gefangene mit Haftstrafen ab zwei Jahren aufwärts, vom Gefährlichkeitsgrad sind wir durchmischt. Aus Erfahrung kann ich aber mittlerweile sagen, dass man mit Leuten, die einen Mord oder ähnlich Schwerwiegendes begangen haben, wesentlich besser arbeiten kann als mit Kurzstrafen-Insassen, Drogenabhängigen oder psychisch Auffälligen. Langstrafen-Häftlinge versuchen eher, einen Weg zu finden, mit sich selber klarzukommen, um diesen Zeitraum zu schaffen. Sie haben sich damit abgefunden, hier zu bleiben.

Es gab keine Fluchtversuche seit Sie dort arbeiten?

Nein. Justiz ist Ländersache, viele Anstalten wurden bei uns saniert. Die Knäste sind zwar überbelegt, aber so sicher, der Fluchtgedanke müsste bei jedem Gefangenen schwinden. Aus dem Knast kommt einer von alleine nicht raus.

Sagen Sie aus Erfahrung?

Es gibt keine Gegenbeispiele. Fluchten sind entweder aufgrund von Geiselnahmen passiert oder durch Justizvollzugsbeamte, die helfen. Wenn jemand so bekloppt ist und eine Geiselnahme plant, dann schafft er es vielleicht bis zur Außenpforte, weiter nicht. Bei einer Geiselnahme wird sofort die Polizei gerufen. Wir tragen zwar auch Schusswaffen, aber nur im Nachtdienst oder bei Ausführungen. Ich musste meine Waffe noch nie ziehen.

Wurden Sie schon mal bestochen?

Ich glaube nicht, dass bisher ein ernstes Angebot dabei war, wenn einer sagt: „Geben Sie mir doch mal den Schlüssel!“ Ich als Bediensteter werde aber tagtäglich von den Gefangenen angetestet, wie weit sie bei mir gehen können. Die probieren alles aus, da sind auch richtige Schlitzohren und Betrüger dabei. Leute, die eine bessere Ausbildung in Menschenkenntnis haben als wir. Man darf sie nie unterschätzen, auch wenn man sich mit der Zeit kennt.

Verdient man überhaupt genug, um nicht bestechlich zu sein?

Übermäßig verdient man nicht. Es ist ein sicherer Job mit gutem Geld, aber für das, was man macht, eigentlich noch zu wenig. Und vom Spaßfaktor her wäre ich sowieso gerne Installateur geblieben.

(erschienen in: OPAK #7, Schwerpunkt „Flucht“, November 2010)


Ich bin dann mal weg

Von „Natural Born Killers“ bis „Prison Break“: Die Liste spektakulärer Fluchtversuche ist so lang wie ihre Heroisierung in Film und Literatur. Aber nicht alle verliefen so erfolgreich wie die Ausbrüche der Meister ihres Fachs – der gern genannten Ausbrecherkönige.

Name: John Dillinger (geb. 1903)
Spitzname: Staatsfeind Nr. 1
Verbrechen: Diebstahl (u.a. 41 Hühner), schwerer Bankraub, Beihilfe zum Mord
erfolgreiche Fluchtversuche: 3
Hilfsmittel: gewaltbereite Freunde, Pistolenattrappen aus Holz und Schuhcreme
Status: Am 22. Juli 1934 von FBI-Agenten erschossen

25.000 US-Dollar – ein höheres Kopfgeld hatte das FBI bis zum Jahre 1934 noch nie ausgeschrieben. John Dillinger und seine Gang töteten bei ihren Raubüberfällen mehrere Polizisten und FBI-Beamte. Vier Monate nach Dillingers Tod fand auch das Leben seines Weggefährten Babyface Nelson ein jähes Ende – und die Ära der letzten großen Verbrecher ward Geschichte.

Name: Vasilis Paleokostas (geb. 1966)
Spitzname: Robin of the Poor
Verbrechen: Einbrüche, Raubüberfälle, Erpressung, Entführung
erfolgreiche Fluchtversuche: 3
Hilfsmittel: gepanzerte Fahrzeuge, Bettlaken, Hubschrauber
Status: seit 2009 auf der Flucht

Erst lernte er bei seinem Bruder Nikos, dann gab er die griechische Justiz der Lächerlichkeit preis: Vasilis Paleokostas gelang 2006 und 2009 auf exakt die gleiche Weise ein filmreifer Ausbruch aus dem größten griechischen Gefängnis Korydallos – mit Hilfe eines Hubschraubers, der ihn vom Innenhof der Anstalt „abholte“.

Name: Michel Vaujour (geb. 1955)
Spitzname:
Verbrechen: Fahren ohne Führerschein, Diebstahl, Einbruch
erfolgreiche Fluchtversuche: 5
Hilfsmittel: Obst, Seife, Hubschrauber
Status: 2003 entlassen, seitdem auf freiem Fuß

In den Siebzigern stilisierten französische Medien Michel Vaujour zum Überheld, tatsächlich war er eigentlich ein Kleinkrimineller mit allzu gesundem Freiheitsdrang und dreisten Ideen: Vaujour flüchtete mit als Granaten getarnten Orangen, der Nachbildung eines Zellenschlüssels mittels Käseabdruck, einer aus Seife gefertigten Pistolenattrappe und einem Hubschrauber, den seine Ehefrau flog. Seit 2003 schreibt er Drehbücher und berät Krimi-Autoren.

Name: Steven Jay Russell (geb. 1957)
Spitzname: Houdini, King Con
Verbrechen: Betrug, Diebstahl
erfolgreiche Fluchtversuche: 5
Hilfsmittel: Identitätswechsel: min. 14 Decknamen, Verkleidungen als Richter, Arzt, Polizist oder Handwerker
Status: seit 1998 in einem texanischen Gefängnis zu 144 Jahren Haftstrafe verurteilt

'Hi Phillip, ich bin Steven. Schön, Dich kennenzulernen': Jim Carrey als 'King Con' Steven Jay Russell (Alamode Film)

Steven Jay Russell wurde die Liebe zum Verhängnis: Im Knast verliebte sich der homosexuelle Familienvater und Ex-Polizist in seinen Mithäftling Philip Morris – und inszenierte sogar seinen eigenen Aids-Tod, um zu seinem Geliebten in Freiheit zurückzukehren. Dieser absurden Geschichte setzten Jim Carrey und Ewan McGregor in der Verfilmung „I Love You Philip Morris“ ein ebenso absurdes Denkmal.

Name: Eckehard Wilhelm August Lehmann (geb. 1947)
Spitzname: Ausbrecherkönig
Verbrechen: Vergewaltigung, gefährliche Körperverletzung, Raub, Einbruch, Fahren ohne Führerschein
erfolgreiche Fluchtversuche: 11
Hilfsmittel: Charme, becircte Sozialarbeiterinnen und Polizistinnen
Status: auf freiem Fuß

Von der Presse gekürte Ausbrecherkönige gab es im deutschsprachigen Raum viele: Theo Berger (der „Al Capone vom Donaumoos“), Christian Bogner, Walter Stürm („Bin beim Ostereier Suchen“). Ins Guiness-Buch der Rekorde schaffte es aber nur „Ekke“ Lehmann. Der Neuköllner floh seit 1969 elfmal aus Berliner Gefängnissen. 1999 erschien seine Biografie „Ohne Kompromiss“. Ben Becker ist Fan.

Weiterlesen: „Aus dem Knast kommt keiner von alleine raus“ – Interview mit einem Schließer

(erschienen in: OPAK #7, Schwerpunkt „Flucht“, November 2010)