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„Jerusalem ist wie ein Drahtseilakt“

Vier Menschen über die Rolle von Krieg in ihrem Leben: Ian „Kobi“ Cooper (35) ist selbständiger Touristenführer in Israel.

Touristenführer Ian "Kobi" Cooper  in Israel
"This is me standing in a kiwi field holding a Katyusha rocket which was fired by Hizbullah at Northern Israel"

OPAK: Kobi, was fällt Ihnen zuerst ein, wenn Sie an Ihren Job denken?

Ian „Kobi“ Cooper: Es ist eine wunderbare Chance, draußen zu sein und Leute aus der ganzen Welt zu treffen. Ich will sie inspirieren und selbst etwas dazu lernen.

Sie haben einen Abschluss in Geschichte sowie International and Jewish Studies. Warum darf man in Israel nicht schon als Student Touristengruppen führen?

Im Gegensatz zu den meisten anderen Orten ruft dieses Land bei allen Menschen ein Gefühl von Zugehörigkeit hervor, es berührt ihre Seelen. Die Geschichten, die hier im „Heiligen Land“ in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft passieren, sind Teil unserer Identitäten, ob wir das nun bemerken oder nicht. Deshalb muss ein Touristenführer seine Kunden sehr vorsichtig und fachkundig durch diese Erfahrungen lotsen. Außerdem treffen hier in diesem Bauchnabel der Welt so viele verschiedene Religionen, Königreiche, geographische Zonen und Politik aufeinander. Um der Aufgabe dieser Vermittlung gewachsen zu sein, muss man Erfahrung und Wissen mitbringen. Ich bekomme täglich mehr Fragen gestellt als ich jemals auf all meinen Reisen selbst gestellt habe. Das ist eine große Verantwortung, da will das Land im Dienste aller sicherstellen, dass der Touristenführer damit umgehen kann. Das ist wie mit dem deutschen Bier: Es gibt eine große Verantwortung gegenüber der Öffentlichkeit, das bestmögliche Produkt zu machen – darum gibt es die Reinheitsgesetze. Das respektiere ich.

Was war Ihr bisher schrägstes Erlebnis als Touristenführer?

Hier in Jerusalem passieren andauernd schräge Dinge. Das Jerusalem-Syndrom ist eine sehr bekannte Erkrankung. Besucher fantasieren plötzlich, sie seien der Messias oder eine andere religiöse oder historische Figur. Wir haben ein ganzes Krankenhaus, das sich um solche Fälle kümmert. Ein anderes Mal sah ich, wie sich ein Mann am Toten Meer nackt auszog und sich mit einem neuen Schwimmanzug aus Schlamm bekleidete. Das war wie ein Autounfall: schrecklich, aber du kannst nicht weggucken – bis sie ihn mitnahmen.

Hatten Sie jemals Angst?

Nicht wirklich. Israel ist ein sehr sicheres Land, Gewaltverbrechen gibt es fast keine. Kleine Kinder laufen alleine durch die Straßen, junge Leute feiern bis in die Morgenstunden. Wie jedes Land haben auch wir Ecken, in denen es nicht hundertprozentig sicher ist, aber das ist es nirgendwo. Natürlich wünsche ich mir, dass alle Menschen lernen würden, ihre Probleme durch Diskussion und Kompromisse statt mit Steinen, Pistolen oder Bomben zu lösen.

Entgegen seines Namens ist Jerusalem eine Stadt des Krieges, oder?

Das ist schon lustig: eine Stadt, die „Stadt des Friedens“ genannt wird, wurde in ihrer Geschichte bisher 38-mal erobert. Es gibt Leute, die sagen, dass Yerushalayim – der hebräische Name der Stadt – „They will see peace“ bedeutet. Andere sagen, es bedeutet „They will shoot peace“. Sogar die Täler die die Altstadt umgeben heißen “Valley of Gehenna” (Hölle) und Kidron/Yehoshafat – wo du in den Himmel kommst, wenn du ein guter Junge oder ein gutes Mädchen warst. Jerusalem ist eine Stadt, die einen Drahtseilakt zwischen Himmel und Hölle, Krieg und Frieden, Ost und West und so weiter balanciert. Ein ganz schöner Ritt.

www.tourguideofisrael.com

(erschienen in: OPAK #9, „Krieg“, Juli 2011)

Kerken sollte man sich merken

Dörfer kennt man in der Regel nur, wenn man in ihnen oder ihrer Umgebung aufgewachsen ist. Mit Kerken aber ist das anders, „Kerken sollte man sich merken“. Nur: Warum eigentlich?

Eyller Straße, Ecke Flieder
In Kerken-Nieukerk ist die Welt noch in Ordnung. Am linken Niederrhein, näher an Holland als am Ruhrpott, lebt und stirbt dieses Dorf vor sich hin, in Kerken-Nieukerk sind alle miteinander verwandt. Und diejenigen, die es aller Wahrscheinlichkeit nach noch nicht sind, die sorgen wahrscheinlich gerade dafür. In Nieukerk nämlich wird Geselligkeit noch groß geschrieben. Taufe, Kommunion, Firmung, Ferienlager, Landjugend, Lehre – Bauer oder Banker -, Ehe, Eigenheim, Partei, Verbeamtung, Riesterrente, Tod – der Lebenslauf eines durchschnittlichen Nieukerkers wäre schnell erzählt, kämen nicht noch unzählige als Verpflichtungen, Hobbies und Lebensaufgaben getarnte Balzrituale dazwischen: Schützenfeste, Rosen kränzen, Frühschoppen, Scheunenfeten, Babypinkeln, Kegelclub, Freiwillige Feuerwehr, Karnevalsumzüge oder Sonntags die erste Mannschaft aufm Platz. Man lebt fürs Wochenende, man genügt sich selbst. Zeit zum Denken bleibt da wenig, aber wozu auch, man hat doch alles, man kennt doch jeden!

Diese familiäre Geselligkeit, dieses Streben nach Ringelpiez ist nicht nur gesellschaftlich anerkannt, sondern strengstens erwünscht. Freiwillige Abstinenz von Dorf- oder Nachbarschaftsfesten wird mit sozialer Ächtung bestraft, vom Fernbleiben katholischer Feierlichkeiten der Pfarrgemeinde St. Dionysius mal ganz zu schweigen. Ein Dorfgespräch beginnt unter der älteren Generation meist mit der wertfreien Frage „Hässe all gehüert?“, wahlweise an der Kasse oder nach der Messe. Es geht dann um die Trennung von Teuwens Willi und dem seine Erika , „Wat die all häät metgemaacht!“. Ja, „dä Will, dä kaan enne Stierwel uuet!“. Bei der Dorfjugend dreht sich anfangs alles um den Suff am Samstag auf der Parkbank, später darum, wer schon mit wem welche Körperflüssigkeiten und wer gern würde oder sollte und wer doch lieber Fussballspielen geht. Die Auswahl bleibt begrenzt, da ist es nur eine Frage der Zeit, bis man bei seiner Cousine zweiten Grades angekommen ist.

Asylantencontainer und Zeugen Jehovas

Manchmal ziehen auch Leute zu, meist aus den umliegenden Gemeinden Hartefeld, Sevelen, Vernum, Wachtendonk oder gar Issum, Geldern oder Straelen. Denn das Einzugsgebiet Nieukerk hat neben seiner verkehrsfreundlichen Lage gleich an der B9 zwischen Kleve und Krefeld allerhand zu bieten: eine Grundschule, einen Park, ein Altersheim, einen Friedhof, einen Bahnhof, vier Kindergärten, zwei Marktplätze, fünf Supermärkte (!), fünf Kneipen und eben eine Kirche. Nein, sogar zwei, aber die evangelische fristet ein nettes Nischendasein in der rund 5000 Einwohner-starken CDU-Hochburg. Doch als Außenstehender hat man es nicht leicht, Teil dieser eingeschworenen Gemeinde zu werden. Dafür kennen sich die Nieukerker untereinander zu gut. Und wenn sie es selbst schon nicht tun sollten, ist das noch ein Grund mehr, dem gemeinen Städter besser nicht über den Weg zu trauen. Womöglich hat der noch studiert, wer weiß! Die ständig wachsende Zahl der Neubausiedlungen in und um Nieukerk kann also nur drei Gründe haben: Entweder ist die Toleranz gegenüber Fremden gestiegen – am Asylantencontainer neben dem Sportplatz stört sich nach 15 Jahren schließlich auch keiner mehr -, oder die Emigranten rotten sich zusammen. Oder die Kinder wohnen nicht mehr bis 40 bei Mama und Papa.

Ein dunkler Punkt (außer den Zeugen Jehovas) sollte dennoch nicht verschwiegen werden: Wer Nieukerk sagt, der sagt auch Aldekerk. Eine lang gehegte symbiotische Feindschaft. Beide Dörfer gehören zur insgesamt über 13000 Anwohner zählenden Gemeinde Kerken und leiten sich aus der plattdeutschen, der holländischen Nachbarsprache entlehnten Bezeichnung für alte Kirche und neue Kirche ab – natürlich ist Nieukerk trotzdem zuerst dagewesen. Der Legende nach wurde Aldekerk auf einer Müllkippe erbaut – so zumindest erzählt man sich in Nieukerk. In den kleineren Bauernschaften, hier: Ortsteilen, namens Eyll, Winternam, Baersdonk, Stenden („die längste Dorfstraße Nordrhein-Westfalens!“), Poelyck, Kengen oder Rahm schert man sich einen Dreck darum und fröhnt seinem ureigenem Lokalpatriotismus: „Eyller sind geiler!“

Man sollte die Kirche im Dorf lassen, heißt es im Volksmund. Der durchschnittliche reisemüde Nieukerker findet seinen Seelenfrieden, wenn dem wahrhaftig so geschieht: „Ich fahr nur so weit weg, wie ich den Zwiebelturm noch sehen kann!“ In Nieukerk ist die Kirche das Dorf, und weil die Gemeinde Kerken um ihre Alleinstellungsmerkmale weiß, ziert ihr Logo neben dem Abbild zweier Kirchen eine invitatio ad offerendum: „Kerken – sollte man sich merken.“