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Franziska und der Schlager

„Kauflandcenter Leipzig-Reudnitz, vormittags. Es ist Freitag, ein gewöhnlicher Schultag. In der Eingangshalle, zwischen Lottoannahmestelle, Schuhcenter und Handyshop: Senioren und Passanten mit Einkaufstüten. Warten und gucken, kein Drängeln. Ein rosafarbenes Banner verrät: „Franziska live on tour.“ Vor einem Bühnenpodest sitzt Franziska Katzmarek an einem Tisch. Sie ist 15, die einzige Jugendliche hier. Sie lacht, schreibt Autogramme. Aus zwei Lautsprecherboxen tönt „Sommergefühl“, der Song, mit dem Franziska vor einem Jahr die Schlagermusiksendung „immer wieder sonntags“ gewonnen hat, zwölf Mal in Folge. Tausende rufen für Franziska an, wählen sie zur „Sommerhitkönigin“. Seitdem geht ihre Gesangskarriere vor.“ (mehr…)

Das war Franziska vor zwei Jahren. Für eine Reportage für das Deutschlandradio Kultur und meine Abschlussarbeit an der Uni habe ich das Mädchen auf einer ihrer Promo-Tourneen begleitet. Es war eine Erfahrung, die ich trotz Kirmes- und Scheunenfetenvergangenheit nur im Ungefähren vorher so erwartet hatte.

Kauflandcenter Dresden, 11:28 Uhr. Franziska liefert ab.

Franziska will keine eigenen Songs schreiben. Sie sieht sich als Interpretin, wie Helene Fischer, Freundin von Florian Silbereisen und ihr großes Vorbild. Ein Angebot von Dieter Bohlen, sagt sie, hat sie abgelehnt, weil sie lieber deutsch singen will. Die Sprache verstehen ihre Fans. Die Fans, klar, die meisten sind älter, aber alle sind sehr nett, sagt sie. Die Freunde beschweren sich schon manchmal, dass Franzi so selten daheim ist. Mit Vater Olaf startete sie ihre Karriere, stand mit ihm als „Franzi und Wolfgang“, so sein Künstlername, auf der Bühne. Bis Olaf Katzmarek, pünktlich zu Beginn ihrer Pubertät, einsah, dass sich seine Tochter alleine besser vermarkten lässt. Jetzt ist er ihr Manager und fährt sie durch die Republik beziehungsweise ihren ehemaligen Osten. Da kommt Franzi her, da ist sie am beliebtesten.

Diese Popschlager-Mühle, in die Franziska und ihr Vater da vorgestoßen sind und nirgendwo anders hinwollten, ist herrlich anachronistisch. Da geht es noch um Maxi-CD-Verkäufe, um Hitparaden, um Radioshows. Franziskas Zielgruppe ist überwiegend gerade noch so jung, dass sie einen CD-Player bedienen kann, aber vor allem auch so alt, dass sie Downloads kaum noch für sich entdecken wird. Oder schlichtweg so treu, dass ihr Alter nicht mal eine Rolle spielt. Eigentlich befindet sich Franziska und die ganze Schlagerbranche also da, wo die Musikindustrie selbst gerne noch wäre: in einer Zeit, in der man dem Publikum noch vorsetzen kann, was es gut zu finden hat. In der es konsumiert und vergisst. In der aus Scheisse noch regelmäßig Gold gemacht wird. Hach, die goldenen Neunziger (wenn es nur die wären)!

Im Vorfeld meiner kleinen Tour mit Franziska aber sind auch andere denkwürdige Dinge passiert: Nach bereits erfolgter Akkreditierung für „Das große ZDF-Sommer-Open-Air mit Marianne und Michael“ in der Berliner Wuhlheide lud mich das ZDF wieder aus. Ich sei bei dieser Veranstaltung „nicht erwünscht“, weil ich eine Person zu viel gefragt hatte, ob ich eventuell doch O-Töne im Backstagebereich nehmen dürfte. Dürfte ich nicht – und bin natürlich trotzdem hingefahren. Und was soll ich sagen? Ich habe mich selten so außergewöhnlich amüsiert wie an jenem Abend, an dem mir zwei Jungs in meinem Alter eine übrige Karte verkauften und wir gemeinsam zu den Flippers, Bernhard Brink, Achim Petry und DJ Ötzi die bekannten Zeilen erst mitsummten, später fast grölten. Ich habe mich geschämt für mich – und dann habe ich verstanden, warum diese Musik funktioniert. Ich habe mit Leuten gesprochen, die keine 20 sind und dem altbackenden Charme dieser so aalglatten Illusion von Geselligkeit nicht mal wiederstehen wollen. Sie sind Fans. Der Höhepunkt dieser „Live“-Aufzeichnung war ein natürlich vollkommen unkalkuliertes „Ein Stern“, das Nic P, Francine Jordi und Patrick Lindner für Marianne und Michael, als Dank für ihr Lebenswerk, zum Besten gaben. Und das ging so.

Franziska ist dort nicht aufgetreten. Ihren Höhepunkt des Ruhms hatte sie vermutlich, als sie die Zuschauer von Stefan Mross‘ Sendung „immer wieder sonntags“ einen Sommer lang im Sturm nahm. Das hier war der Song, und ich bin immer wieder mit einer Mischung aus Respekt und Unverständnis begeistert, wie verschieden Lebensentwürfe aussehen können. Franziska hat die Schule noch nicht wieder aufgenommen. Dafür ihr zweites Album „Erzähl mir von der Zärtlichkeit“.


Franziska – Sommergefühl

Kerken sollte man sich merken

Dörfer kennt man in der Regel nur, wenn man in ihnen oder ihrer Umgebung aufgewachsen ist. Mit Kerken aber ist das anders, „Kerken sollte man sich merken“. Nur: Warum eigentlich?

Eyller Straße, Ecke Flieder
In Kerken-Nieukerk ist die Welt noch in Ordnung. Am linken Niederrhein, näher an Holland als am Ruhrpott, lebt und stirbt dieses Dorf vor sich hin, in Kerken-Nieukerk sind alle miteinander verwandt. Und diejenigen, die es aller Wahrscheinlichkeit nach noch nicht sind, die sorgen wahrscheinlich gerade dafür. In Nieukerk nämlich wird Geselligkeit noch groß geschrieben. Taufe, Kommunion, Firmung, Ferienlager, Landjugend, Lehre – Bauer oder Banker -, Ehe, Eigenheim, Partei, Verbeamtung, Riesterrente, Tod – der Lebenslauf eines durchschnittlichen Nieukerkers wäre schnell erzählt, kämen nicht noch unzählige als Verpflichtungen, Hobbies und Lebensaufgaben getarnte Balzrituale dazwischen: Schützenfeste, Rosen kränzen, Frühschoppen, Scheunenfeten, Babypinkeln, Kegelclub, Freiwillige Feuerwehr, Karnevalsumzüge oder Sonntags die erste Mannschaft aufm Platz. Man lebt fürs Wochenende, man genügt sich selbst. Zeit zum Denken bleibt da wenig, aber wozu auch, man hat doch alles, man kennt doch jeden!

Diese familiäre Geselligkeit, dieses Streben nach Ringelpiez ist nicht nur gesellschaftlich anerkannt, sondern strengstens erwünscht. Freiwillige Abstinenz von Dorf- oder Nachbarschaftsfesten wird mit sozialer Ächtung bestraft, vom Fernbleiben katholischer Feierlichkeiten der Pfarrgemeinde St. Dionysius mal ganz zu schweigen. Ein Dorfgespräch beginnt unter der älteren Generation meist mit der wertfreien Frage „Hässe all gehüert?“, wahlweise an der Kasse oder nach der Messe. Es geht dann um die Trennung von Teuwens Willi und dem seine Erika , „Wat die all häät metgemaacht!“. Ja, „dä Will, dä kaan enne Stierwel uuet!“. Bei der Dorfjugend dreht sich anfangs alles um den Suff am Samstag auf der Parkbank, später darum, wer schon mit wem welche Körperflüssigkeiten und wer gern würde oder sollte und wer doch lieber Fussballspielen geht. Die Auswahl bleibt begrenzt, da ist es nur eine Frage der Zeit, bis man bei seiner Cousine zweiten Grades angekommen ist.

Asylantencontainer und Zeugen Jehovas

Manchmal ziehen auch Leute zu, meist aus den umliegenden Gemeinden Hartefeld, Sevelen, Vernum, Wachtendonk oder gar Issum, Geldern oder Straelen. Denn das Einzugsgebiet Nieukerk hat neben seiner verkehrsfreundlichen Lage gleich an der B9 zwischen Kleve und Krefeld allerhand zu bieten: eine Grundschule, einen Park, ein Altersheim, einen Friedhof, einen Bahnhof, vier Kindergärten, zwei Marktplätze, fünf Supermärkte (!), fünf Kneipen und eben eine Kirche. Nein, sogar zwei, aber die evangelische fristet ein nettes Nischendasein in der rund 5000 Einwohner-starken CDU-Hochburg. Doch als Außenstehender hat man es nicht leicht, Teil dieser eingeschworenen Gemeinde zu werden. Dafür kennen sich die Nieukerker untereinander zu gut. Und wenn sie es selbst schon nicht tun sollten, ist das noch ein Grund mehr, dem gemeinen Städter besser nicht über den Weg zu trauen. Womöglich hat der noch studiert, wer weiß! Die ständig wachsende Zahl der Neubausiedlungen in und um Nieukerk kann also nur drei Gründe haben: Entweder ist die Toleranz gegenüber Fremden gestiegen – am Asylantencontainer neben dem Sportplatz stört sich nach 15 Jahren schließlich auch keiner mehr -, oder die Emigranten rotten sich zusammen. Oder die Kinder wohnen nicht mehr bis 40 bei Mama und Papa.

Ein dunkler Punkt (außer den Zeugen Jehovas) sollte dennoch nicht verschwiegen werden: Wer Nieukerk sagt, der sagt auch Aldekerk. Eine lang gehegte symbiotische Feindschaft. Beide Dörfer gehören zur insgesamt über 13000 Anwohner zählenden Gemeinde Kerken und leiten sich aus der plattdeutschen, der holländischen Nachbarsprache entlehnten Bezeichnung für alte Kirche und neue Kirche ab – natürlich ist Nieukerk trotzdem zuerst dagewesen. Der Legende nach wurde Aldekerk auf einer Müllkippe erbaut – so zumindest erzählt man sich in Nieukerk. In den kleineren Bauernschaften, hier: Ortsteilen, namens Eyll, Winternam, Baersdonk, Stenden („die längste Dorfstraße Nordrhein-Westfalens!“), Poelyck, Kengen oder Rahm schert man sich einen Dreck darum und fröhnt seinem ureigenem Lokalpatriotismus: „Eyller sind geiler!“

Man sollte die Kirche im Dorf lassen, heißt es im Volksmund. Der durchschnittliche reisemüde Nieukerker findet seinen Seelenfrieden, wenn dem wahrhaftig so geschieht: „Ich fahr nur so weit weg, wie ich den Zwiebelturm noch sehen kann!“ In Nieukerk ist die Kirche das Dorf, und weil die Gemeinde Kerken um ihre Alleinstellungsmerkmale weiß, ziert ihr Logo neben dem Abbild zweier Kirchen eine invitatio ad offerendum: „Kerken – sollte man sich merken.“

Dann trinken wir aus Tüten

Die Berliner CDU fordert ein Alkoholverbot an allen öffentlichen Plätzen. Die Drogenbeauftragten des Landes stimmen ein. Muss die Institution Kiosk Angst vor schwindenden Kunden haben?

Die vor Monaten entbrannten Diskussionen um das bundesweite Rauchverbot vernebelten noch die klare Sicht der Berliner Ordnungsämter, als zum Jahreswechsel ein weiteres Gesetz für dünne Luft in der Innenstadt sorgen sollte: Eine Umweltplakette musste her. Während Gastwirten und Autofahrern gleichermaßen der Kopf raucht, wer denn nun wo was darf und was nicht, kommen im Überwachungswahn auch die partylustigen Fußgänger, egal welchen Alters, nicht ungeschoren davon. Frank Henkel, parlamentarischer Geschäftsführer und innenpolitischer Sprecher der Berliner CDU-Fraktion, forderte vergangene Woche „ein generelles Alkoholverbot auf Straßen, Plätzen und im öffentlichen Nahverkehr.“ Entsprechende Anträge will er dieser Tage im Landesparlament einreichen, weil „niemand mit der Flasche am Hals über den Kurfürstendamm spazieren muss.“

In anderen Städten ist so ein Verbot teilweise bereits Realität: In Magdeburg herrscht rund um den Hasselbachplatz seit dem 01. Februar Trinkverbot, das Kneipenviertel „Bermudadreieck“ in Freiburg ist bereits seit Jahreswechsel alk- und glasfreie Zone. Zumindest abends und am Wochenende und erstmal auf Probe. Marburg zieht nach. Die Stadt Hamburg sprach bisher nur eine Empfehlung an ihre Tankstellen und Trinkhallen aus. Berlin-Spandau bemühte sich erst vor drei Jahren um die Einführung eines öffentlichen Alkoholverbots, vergeblich. Das Berliner Straßengesetz untersagte 1999 erstmalig öffentlichen Alkoholkonsum, 2006 wurde dieses Verbot wegen mangelnder Durchsetzung wieder gestrichen. Seit sich im vergangenen Jahr ein Jugendlicher zu Tode gesoffen hat – in einer Bar – halten die Diskussionen erneut an. Der Prozess gegen den Wirt und zwei Angestellte begann letzte Woche, Henkel nahm das Thema wieder auf seine Agenda. Er argumentiert, die Bürger hören nur bedingt zu.

Das Bier auf der Hand hat sich besonders in jungen Berliner Bezirken wie Kreuzberg, Friedrichshain oder Prenzlauer Berg genauso im Ortsbild verankert wie Dönerbuden, Latte Macchiato-Trinker oder Kinderwagen. Berlin ist groß, die Wege lang, der nächste Kiosk immer in Sichtweite. Längst ist das Geschäft mit Alkohol nicht mehr nur ein Nebenverdienst, sollte man meinen. Würden wegen eines Konsumverbots in der Öffentlichkeit etliche Kleinunternehmer um ihre Existenz bangen müssen, weil Ihnen die Kunden ausblieben?

Flanieren und trinken

„Ach, der Verkauf von Alkohol macht vielleicht 20 Prozent unseres Gesamt-Umsatzes aus“, sagt Jonas Gebrelassie und beschwichtigt. „Den größten Umsatz machen wir mit Tabakwaren, den größten Gewinn mit Süßigkeiten.“ Gebrelassie arbeitet im Akuna Matata, Berlins wahrscheinlich höchstfrequentiertem Kiosk. Seit über 18 Jahren steht das Geschäft im Zentrum von Prenzlauer Berg, am Treppenaufgang zur U-Bahn-Station Eberswalder Straße. Die Linie U2 verkehrt hier überirdisch, unter ihr treffen Kastanienallee, Schönhauser Allee, Pappelallee, Danziger Straße und Konnopkes alteingesessener Currywurst-Imbiß aufeinander. Ein Verkehrsknotenpunkt, ein Magnet und Ausgangspunkt gleichermaßen.

Hier wird nicht nur getrunken: Das Akuna Matata an der Eberswalder Straße, © prenzlauerberger.wordpress.com

Am Freitagabend um 21 Uhr feiert das Akuna Matata – bei den Suaheli bedeutet sein Name „keine Probleme“ – Hochbetrieb. Es ist warm für einen Februartag und die Leute kaufen sowieso mehr Bier als unter der Woche. Vor allem Touristen landen hier freitags und samstags regelmäßig, die alternative Flaniermeile Kastanienallee findet in jedem Reiseführer Erwähnung. Die nächste U-Bahn fährt unter lautem Geröll ein, die nächste Meute Unternehmungslustiger fällt in das Szeneviertel ein. Flaschen klimpern, Koffer rollen, Sprachen treffen aufeinander. Gebrelassies Radio beschallt das Fußvolk mit lauter Musik. Ein Mann mit Anzug und Aktentasche ist in Eile, kauft eine Packung Zigaretten und verschwindet mit dutzend anderen Passanten über die Straße. Ein Pärchen hat mehr Zeit, kauft auch Zigaretten und wählt aus der durchschnittlichen Bierauswahl zwei Flaschen Becks. 1,40 € pro halber Liter, „günstig hier in Berlin“. Die gleiche Menge Sternburg kostet sogar nur 80 Cent. Andere kaufen ein Bier oder kein Bier, trinken, lesen, beobachten andere Passanten und warten. „Das ist ein Treffpunkt hier“, sagt Gebrelassie gutgelaunt und verkauft eine Flasche Cola über den Tresen.

Christine Köhler-Azara, Berlins Drogenbeauftragte, sieht in Läden wie dem Akuna Matata ein Problem. Alkohol sei in Deutschland viel billiger und überall verfügbar. Zwar hält sie Verbote für kontraproduktiv, wenn sie nicht umzusetzen sind und entkräftet somit die Realisierung von Henkels Vorhaben. Es sei aber „eine Überlegung wert“, in den Spätkaufläden oder Tankstellen den Alkoholverkauf in Abend- und Nachtstunden zu verbieten.

Das Akuna Matata gleicht einem Flagschiff unter den Seinen. Nicht wegen der eigentlich überschaubaren Auslage, sondern wegen seines Durchlaufs. Allein in einem 200 Meter-Radius lassen sich über eine Handvoll weiterer Geschäfte finden, die Alkohol verkaufen. Konkurrenzdenken herrscht nicht. Die Kiosk-Kultur in Berlin boomt. 695 Unternehmen sind in der Branche „Einzelhandel mit Getränken, darunter Wein, Sekt, Spirituosen und sonstige Getränke“ bei der Industrie- und Handelskammer der Hauptstadt gemeldet. Dazu kommen 304 Tankstellen. Das Geschäft mit Alkohol zieht Kunden. Zeitungsläden und Trinkhallen in ehemaligen Arbeiterbezirken wie Moabit oder Wedding begrüßen schon morgens Stammgäste zu Bier und BZ. Touristen oder Discobesucher verlaufen sich in der Regel nicht dorthin. Die Betreiber sind auf jeden Kunden angewiesen.

Das Akuna Matata ist das nicht, und Alkoholiker lungern vor dem freistehenden Kiosk heute Abend keine. Uwe Witter, Stammkunde und Kiezkenner, trinkt Kaffee aus der Selbstbedienungsmaschine, raucht und beobachtet das Treiben. Nebenan begrüßt eine Gruppe Jugendlicher unter Jubel und Applaus zwei verspätete Freunde, die einen Kiste Sternburg im Handgepäck haben. Ein konkretes Ziel haben sie noch nicht, „aber wir gehen hier gerne raus. Manchmal auch an der Warschauer Straße. Discos, Bars, nix Spezielles, Hauptsache Stadt“, sagt die 17-jährige Birgit aus Charlottenburg. Auch ihre Freunde Robert und Moni, beide 18, sind sich einig, dass ein Alkoholverbot Ihnen das Bier auf der Hand vor dem Bier in der Bar nicht nehmen würde. „Dann würden wir es heimlich trinken, aus der Jacke oder einer Tüte. Das ist billiger als in der Kneipe“, erklärt Robert mit tief ins Gesicht gezogener Wollmütze, „und außerdem gehört Vorglühen doch einfach dazu.“ Moni beschreibt die Problematik eines Verbots noch pragmatischer: „Ob ich mich zuhause besaufe und dann auf die Straße gehe oder gleich hier trinke ist doch egal“.

Alter Wein in neuen Tüten?

Jonas Gebrelassie verdient sein Geld nicht zuletzt dank dieser Mentalität seiner Kunden, deren Streifzüge immer öfter in Saufgelage ausarteten. Aber ein Alkoholverbot, wie Henkel es wieder vorgeschlagen hat? „Am liebsten sofort, da wäre ich absolut dafür!“ sagt Gebrelassie entschieden wie überraschend. Der 42-Jährige lebt seit 15 Monaten in Berlin, kam aus Kassel. So was wie hier habe er noch nie gesehen, die Kinder hätten keinerlei Hemmungen mehr, wie die hier alle die Sau rausließen. Natürlich würde der Verkauf etwas zurückgehen, aber das Geschäft mit Alkohol sei eben nicht die Haupteinnahmequelle, und außerdem müsse man nur wegen der paar Euro mehr nicht an sich denken, sondern auch an die anderen. Die Kids würden immer dreister, beauftragten fremde Erwachsene, wenn er Ihnen nichts verkauft. Während er davon erzählt, greift ein Jugendlicher wortlos zur Kaffeemaschine, erschleicht sich drei Pappbecher und stiehlt sich gewollt unauffällig davon. „So geht das nicht, Kollege“, ruft Gebrelassie freundlich und bestimmt, man würde doch wohl noch mal fragen können. Geduckten Hauptes entschuldigt sich der Junge, bedankt sich für die Plastikbecher, die er stattdessen bekommt und geht. Amüsiert wie verständnislos kommentiert Uwe Witter, seit 18 Jahren trockener Alkoholiker, das Geschehen: „Der will sich und seinen Kumpels natürlich um die Ecke ne Schnapsmischung basteln.“ Gebrelassie und seine Kollegen passen auf, nicht nur auf ihre Kunden, auch auf sich selbst und ihren Ruf.

Großstadtidylle. © reifenwechsler.blogspot.com
Ein paar Meter weiter, im Ladenkiosk Notlösung, sieht Besitzer Ingo Reckin das alles nicht ganz so streng: „Dit jehört ins Sommerloch“, schimpft der Berliner, „wieder sone bepisste Idee von Deutschland, die nich umzusetzen is“. Neben Lebensmitteln, Süß- und Tabakwaren hat er außer Bier auch eine große Auswahl an Wein und Spirituosen. Auch sein Umsatzanteil von Alkohol liegt bei vielleicht 25 Prozent, und obwohl hier regelmäßig junge Leute auf dem Weg zur Diskothek Icon vorbeikommen, lebt Reckin von seinen Stammkunden, 60-70 Prozent der Verkäufe machten die aus. Wenn mal jemand zu sehr schwanken würde, ginge Reckin sicherheitshalber selbst zum Kühlschrank und hole dem Kunden sein Bier. Nur wenn der viel zu hacke wäre, würde er sich das mit dem Verkauf noch mal überlegen. Und bei einem Alkoholverbot draußen? „Papptüte und erledigt, wie in Amiland“.

Ein mögliches Alkoholverbot in der Öffentlichkeit: Alter Wein in neuen Tüten? Eine Verschiebung des Problems von außen nach innen? Ein ernstzunehmendes Zukunftsszenario oder ein Thema fürs post-karnevalistische Loch? Fest steht: Wo kein Kläger, da kein Richter. Über einen U-Bahn-Fahrgast mit Feierabend-Bier wird sich wohl kein Berliner echauffieren. Über ausschreitende Besoffene, egal welchen Alters, schon. Sind die Teilverbote von Magdeburg und Freiburg vielleicht tatsächlich ein Vorbild? Unwahrscheinlich. Berlin hat nicht ein Zentrum, sondern jeder Stadtteil sein eigenes. Die Ordnungsämter kämpfen auch in Zukunft weiter mit dem Anti-Raucher-Gesetz, die Polizei hat ebenfalls anderes zu tun. Köhler-Azaras Frage in allen Ohren: Wer soll das alles bloß kontrollieren? Solange es die Gesellschaft nicht tut, lässt sich der Berliner sein Wegebier nicht nehmen.

Die Frau von der Bank

Sie pflanzte Rosen und kümmerte sich um die Nachbarn: Edith Heller wohnt seit 44 Jahren im Hansaviertel und kennt dort jeden

Ihre linke Hand hält sich am Geländer fest, die rechte versteckt sich in der Tasche ihrer roten Sommerjacke. „Ich bin ’ne Blumentante!“, sagt Edith Heller und zupft an einer der farbigen Blüten im Kasten. In braunem Rock, hellgrüner Bluse und Netzpantoffeln mit goldfarbenen Pailletten steht die 72-Jährige auf ihrem großen Balkon, atmet schwer und freut sich über ihre Stiefmütterchen und Geranien. Ein bisschen stolz ist sie auch, während sie von ihrem einzigen Hobby erzählt. „78 Balkons“, sagen zu ihr die Leute, „und keiner sonst hat Blumen!“

Seit 44 Jahren wohnt Edith Heller in ihrer 68-Quadrameter-Wohnung im ersten Stock des langgestreckten Scheibenhauses von Oscar Niemeyer. Alleine war sie nie. Ihr Mann starb vor acht Jahren, aber Klaus, ihr jüngster Sohn, wohnt bei ihr und pflegt sie. Bis sie vor elf Jahren in Rente ging, hat sich Edith Heller um Haus und Garten gekümmert. „Mein Mann und ich, wir haben hier alles bepflanzt. Auch die Rosenbüsche da unten. Nur die Dornenhecke“, sie zeigt auf die weitläufige Wiese an der Altonaer Straße, „die hamse wieder weg jemacht.“ Für die Geschichte des Hansaviertels hatte sie sich nie interessiert, von der Internationalen Bauausstellung kaum etwas mitbekommen. „Suchen wir uns ’ne Hauswartsstelle“, sagte Edith Heller 1963 zu ihrem Mann. Und im Niemeyer-Haus brauchten sie gerade jemanden.

Die Nachbarn kennen Edith Heller auch von ihrem Lieblingsort: Im Sommer sitzt sie gern auf der Parkbank am kleinen Spielplatz vor der Akademie der Künste, allein oder mit anderen Familien, um zu erzählen. „Über Edith kann ich nur Gutes sagen. Sie ist immer hilfsbereit und höflich“, sagt ihre langjährige Nachbarin Sabine Krüger aus Aufgang Vier, „rund um die Bartningallee kennen sie viele“. „Ich bin ja ein bunter Hund hier“, sagt Edith Heller und lacht. Früher ging sie mit ihren Söhnen und später mit ihrer Enkelin zum Spielplatz. „Das war wie eine große Familie, alle kannten sich von dort“, sagt sie, geht langsam vom Balkon zurück in ihre Wohnung und setzt sich auf die dunkelblaue Couch.

Edith Heller hat ihr Leben lang gearbeitet. Zehn Jahre hatte sie neben ihrem Job im Niemeyer-Haus eine Putzstelle im Rathaus Tiergarten, wollte von ihrem Mann unabhängig sein. Als Schülerin bekochte sie ihre Familie und die Nachbarskinder, in ihrem Heimatdorf in Mecklenburg-Vorpommern. Als 19-Jährige packte sie 1954 das Nötigste zusammen und reiste zu Verwandten nach Westberlin, „bei uns gabs ja keene Arbeit mehr“. Dort lernte sie 1960 ihren Mann kennen. Ein Jahr darauf heirateten sie, später kamen drei Söhne. Während sie erzählt, stützt Edith Heller sich auf ihr geschwollenes Bein. Seit drei Jahren leidet sie an Krebs. „Hellerchen, lass dir dat machen!“, zitiert sie ihren Hausarzt, lacht wieder und haut mit der linken Hand auf den Tisch, so, wie andere sich auf die Schenkel klopfen.

Im Hansaviertel lebt Edith Heller immer noch gern – „so viele gute Erinnerungen“ habe sie. In den Sechzigern wohnten hier, „trotz des sozialen Wohnungsbaus“, viele Anwälte, Doktoren, Architekten, „alles nette Leute, keiner war hochnäsig!“. Das Grün, die Spielplätze, die freien Flächen, die Gemeinschaft, der Supermarkt Bolle – an nichts habe es gefehlt.

Etwas Unschönes fällt ihr doch noch ein. „Oben, in dem schon immer ungenutzten Gesellschaftsraum, da konnten die Kinder ja eigentlich gut spielen. Aber ich musste das verbieten, weil der damalige Besitzer Holzmann das so vorschrieb. Da gab es wohl Beschwerden.“ Die Hauswartin Edith Heller war „eigentlich immer die gute Seele hier im Haus“, sagt Christiane Wolff, eine andere Nachbarin aus Aufgang Acht.

Seit die meisten Wohnungen privaten Eigentümern gehörten, findet Edith Heller, trügen viele Bewohner ihre Nase doch etwas höher, obwohl sie ja noch immer nett seien. Wenigstens die Dealer, die schonmal vor ihrem Haus Rauschgift unter den Steinen zwischenlagerten, seien kaum noch da. Und ein schlechtes Gewissen hat sie, in einem anderen Viertel in einem günstigeren Supermarkt einzukaufen, „weil die Rente doch so knapp is‘ und die Miete nicht ganz billig“. Fast 600 Euro zahlt sie warm. Aber wegziehen? „Nich für Jeld und jute Worte!“

Edith Heller fährt sich durchs dunkelgraue Haar, schaut am großen neuen Fernseher, an den alten Möbeln vorbei, blickt aus dem großen Fenster und lächelt zufrieden. Nur an ihrem Lieblingsplatz war sie wegen ihrer Krankheit schon lange nicht mehr. „Am Spielplatz“, sagt Edith Heller, „da läuft der Film meines Lebens nochmal ab“.

(erschienen in: die tageszeitung, 09. November 2007, Sonderbeilage „50 Jahre Hansaviertel Berlin“)

Die Sonate vom guten Menschen

„Ein Schauspieler ist nie so wie er ist“, heißt es in „Das Leben der Anderen“. Als Ulrich Mühe im März 2007 den Oscar für seine Rolle als Stasimitarbeiter entgegennahm, ahnte nur er selbst, dass es um sein eigenes Leben schlechter bestellt war. Porträt eines Schauspielers bis zum Schluss.

Hauptmann Gerd Wiesler – oder buchstäblicher XX-HGW7 – rührt keine Miene. In keiner der unzähligen Nächte, in denen er von einem Dachboden aus den Schriftsteller Georg Dreymann (Sebastian Koch) observiert, 1984 in der DDR. Aber je länger Wiesler zuhört und protokolliert, desto stetiger bröckelt sein selbsterbauter kalter Fels aus Obrigkeitshörigkeit, rigoroser Prinzipientreue und dem Glauben an die Unfehlbarkeit seines Regimes. Der Observierte hingegen ahnt nicht um die Tragweite eines von ihm laut geäußerten Gedankens: „Kann jemand, der diese Musik gehört hat, noch ein schlechter Mensch sein?“ Irgendwann spielt Dreymann jene Sonate vom guten Menschen auf dem Klavier an. Und zwischen all der Dunkelheit, Sterilität und Einsamkeit meint man, zwischen Stasi-Hauptmann Wieslers Kopfhörern eine Träne zu entdecken.

Diese Kernszene aus Florian Henckel von Donnersmarcks Oscar-prämiertem Regiedebüt „Das Leben der Anderen“, das sowohl ein historisches Dokument als auch eine Charakterstudie darstellt, porträtiert Ulrich Mühes Anspruch an und Leistung in seiner Rolle auf bemerkenswerte Art und Weise. „Ich bin dem Regisseur sehr dankbar, dass er dieses Zutrauen hatte, dass ich mit minimalen Mitteln diese zarte Wandlung spielen kann und hier nicht die große Mimikkiste aufgemacht wird.“, sagte er. Wie hier besonders, so glänzte Mühe in der international umstrittenen französisch-deutschen Theaterverfilmung „Der Stellvertreter“ (2002) als SS-Doktor nicht durch große Gesten, sondern durch ungeheures Feingefühl für die innere Zerrissenheit samt ihrer intensiven weil realistischen Umsetzung seines Charakters. Mühe schauspielte nicht mehr als angemessen, setzte Akzente durch Zurückhaltung und präsentierte dadurch seine größte Stärke. Dass diese Züge die Absurdität von starren Ideologien nicht nur trefflich abbilden, sondern auch persiflieren können, stellte der damals 53-jährige Mühe neben Helge Schneider als lebendigem Hitler in Dani Levys „Mein Führer – die wirkliche Wahrheit über Hitler“ Anfang 2007 unter Beweis.

Auf den ersten Blick noch absurder erschien die Paraderolle als Gerd Wiesler hinsichtlich Mühes damaliger Privat-Schlagzeilen: In einem Interview mit Henckel von Donnersmarck zu dessen Buch zum Film beschuldigte Mühe seine Ex-Frau Jenny Gröllmann – mit der er in zweiter Ehe bis 1990 verheiratet war und außerdem die Bühne teilte – selbst, eine IM („inoffizielle Mitarbeiterin“) des Ministeriums für Staatssicherheit gewesen zu sein. Der Rechtsstreit in dieser Sache dauerte lange an; als Hauptmann Wiesler observierte Mühe zwischen Dreymann und dessen Liebe Christa-Maria Sieland (Martina Gedeck) ähnlich Verdächtiges.

Die Blütezeit und den schnellen Zerfall der damaligen DDR erlebte Mühe, der sich – ohne selbst im zu scharfen Fokus der Stasi gestanden zu haben – maßgeblich an öffentlichen Diskussionen diesbezüglich beteiligte, prägend mit. Nach einer Lehre als Baufacharbeiter und seiner anschließenden schauspielerischen Ausbildung an der Leipziger Theaterhochschule „Hans-Otto“ holte Heiner Müller ihn vom Städtischen Theater Chemnitz (damals Karl-Marx-Stadt) 1983 als MacBeth an die Berliner Volksbühne. Seitdem überzeugte Mühe unter anderem als Ensemblemitglied beim Deutschen Theater sowie nach der Wende auf den Salzburger Festspielen oder am Burgtheater Wien. Vielleicht ist seine Öffnung zum Fernsehen und Kino schon seit Mitte der Achtziger neben der Suche nach neuen Herausforderungen auch dem politischen Wandel zuzuschreiben. Mühe kommentierte einst: „In der DDR habe ich eine ganz andere Art von Theater gemacht, die von einer unglaublichen Wichtigkeit bestimmt war. Damals hockten die Leute in der Vorstellung vorne auf der Stuhlkante. Heute sitzen sie nach hinten zurückgelehnt meist mit vollem Bauch. Und das bestimmt eben auch die Art der Rezeption. Das kann man bedauern, aber das ist eben so wie es ist.“ Gut heißt Mühe die DDR-Zeiten deshalb natürlich noch lange nicht. Obwohl der im sächsischen Grimma Geborene schon 1986 in „Das Spinnennetz“ des Schweizer Filmregisseurs Bernhard Wicki im Film auf sich aufmerksam machte, habe er erst im Nachhinein begriffen, wie unfrei er in seiner Entfaltung eigentlich gewesen sei.

So zeigt sich in der Rückbetrachtung schon 1991 die ungewollte Affinität zur satirischen Spielerei mit polarisierenden Regime-Nachlässen und deren Wirkungsfeld auf das kulturelle Gedächtnis: In Helmut Dietls „Schtonk“ mimte Mühe neben Uwe Ochsenknecht, Götz George, Harald Juhnke und Veronica Ferres den gutgläubigen Verlagsleiter Dr. Wieland, der die unwissentlich gefälschten Hitler-Tagebücher im „HHpress“ veröffentlichen lässt. Im Jahre 2000 war er gar als Goebbels-Double im Fernsehfilm „Goebbels und Geduldig“ zu sehen. Dass er auch anders konnte, bewiesen Neben- und Hauptrollen in so verschiedenen Filmen wie „Rennschwein Rudi Rüssel“ (1996) bis zum herrlich-bitterbösen und für den Zuschauer schmerzhaften „Funny Games“ (1997).

Ulrich Mühe inszenierte seine zahlreichen Rollen – 2007 konnte er auf über 50 Stück aus Film und Bühne zurückblicken – nicht aber sich selbst. Das ist noch etwas Positives, das er aus DDR-Zeiten mitgenommen hatte: „Wichtig ist, Person und Rolle zu trennen – man darf sich nicht auffressen lassen. Das ist manchmal nicht ganz einfach. (…) In der DDR war die Figur wichtig, die man spielte, nicht der eigene Marktwert. Diese Erfahrung schützt mich noch heute.“ So war sein Privatleben sein Privatleben, das er so unsichtbar wie möglich hielt. Fünf Kinder aus drei Ehen, aber bis auf den aktuellen Prozess mit Gröllmann fand seine Person samt Umfeld nie in Klatschpressen oder abseits seiner jeweiligen Projekte statt. In dieser Professionalität konnte er trotz der optischen Ähnlichkeit als das Gegenteil eines Heiner Lauterbachs herhalten.

Ulrich Mühe war mit der Schauspielerin Susanne Lothar verheiratet, die zusammen mit ihm zuletzt in „Der Stellvertreter“ in einer Nebenrolle zu sehen war. Beide lebten mit den gemeinsamen Kindern Marie und Jacob in Berlin. Seit 1997 dürfte er der breiteren Masse als Gerichtsmediziner Dr. Robert Keelmaar aus der ZDF-Serie „Der letzte Zeuge“ ein bekanntes Gesicht gewesen sein. Hier dann auch mal ohne seinen favorisierten Mitspieler Ulrich Turkur, der neben Mühe zuletzt als Wieslers Vorgesetzter Anton Grubitz oder als Hauptdarsteller Kurt Gerstein in „Der Stellvertreter“ glänzte. Beide ergänzten sich in ihrem emphatischen Wesen nur zu gut.

Zuletzt inszenierte Mühe sich sogar selbst. Zum 75. Geburtstag seines engen Freundes und Begleiters Heiner Müller feierte er sein Regiedebüt mit Müllers „Auftrag“ und der 83-jährigen Grande Dame des Berliner Schauspiels, Inge Keller, als „neue Liebe“. Sein facettenreiches Schaffen wurde immer wieder durch diverse Auszeichnungen honoriert. So erntete Mühe für seine Werke bisher „Die große Klappe“, den Kritikerpreis der Berliner Zeitung, die Helene-Weigel-Medaille, den Bayerischen Filmpreis, den Deutschen Darstellerpreis der Film- und Fernsehregisseure, den Gertrud-Eysold-Ring, einen Bambi, die Kainz-Medaille, den „Telestar“ und den „BZ“ Kulturpreis. Für „Das Leben der Anderen“ erhielt er 2006 den Deutschen Filmpreis und abermals den Bayrischen Filmpreis als „Bester Hauptdarsteller“. Seinen Gesundheitszustand verheimlichte er der Öffentlichkeit bis zuletzt: Als „Das Leben der Anderen“ im März 2007 als bester nicht-englischsprachiger Film einen Oscar gewinnt, ist Ulrich Mühe bereits schwer krank. In seinem Sommerhaus in Walbeck bei Helmstedt erliegt er am 22. Juli desselben Jahres im Alter von 54 Jahren seinem Magenkrebs-Leiden.

„Der Dichter ist der Ingenieur der Seele“ heißt es in Mühes größtem Film, das habe laut Minister Hempf zumindest mal ein großer Sozialist gesagt. Und der nicht mehr ganz so systemtreue Hauptmann Wiesler entgegnet im allmählichen Zuge der Vermenschlichung seiner selbst der ahnungslos Observierten auf ihr abwinkendes „Ein Schauspieler ist nie so, wie er ist“ ein Hoffnung spendendes: „Sie doch.“ Darauf sie: „Und Sie sind ein guter Mensch.“ Mit dem Klang der Sonate im Ohr ließ er sich von den Künstlern, deren Feind er war, andere, neue Seiten des Lebens zeigen. Und wäre von seinem Darsteller vielleicht ähnlich erreicht worden: Ulrich Mühe zeigt diese verschiedenen Seiten seinem Publikum, ohne die Kunst hinten anzustellen. Mühe, der einstige Profil-Schauspieler des feinfühligen Volkes.