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Das dreckige Dutzend: Pssst!

Minimal Folk mit Cher-Effekt: Neues von traurigen Amerikanern

Ein Popstar, der vor 30 Jahren noch undenkbar gewesen wäre, wurde in Amerika gerade inthronisiert. Ein Hauch von change aber weht nicht erst seit der Präsidentenwahl auch über das popmusikalische Amerika. Eine Repolitisierung des Hip-Hop war zu beobachten. Und jüngere linksorientierte Songwriter, allen voran Ryan Adams oder Conor Oberst, berufen sich auf den Country.

Ben Kweller, gebürtiger Texaner und mit 28 Jahren einer der jüngsten dieser Generation, treibt die Sache auf seinem neuen Album „Changing Horses“ (ATO, 2009) auf die Spitze. Vom rumpelnden Nachwuchs-Slacker des New Yorker Anti-Folk ist nur noch die schrullige Lausbübigkeit geblieben. Seine pubertierende Punkband Radish wurde noch – zu Unrecht – unterschätzt; erfolgreicher waren seine Experimente mit Radiopop. Nun also Country. Er jault, tänzelt wie ein Däumling auf der Pedal Steel-Gitarre, stolpert über den Kontrabass und streicht die Snares mit Besen. Country eben. Den Musiknomaden rettet, dass er trotz aller musikalischer Expertise den Eindruck macht, er erfülle sich vor allem einen Kindheitstraum. Demnächst vielleicht mit einem Metal-Album?

Von Krach oder Euphorie nicht weiter entfernt sein könnte hingegen J. Tillman. Warum sein europäisches Debüt und eigentlich fünftes Soloalbum „Vacilando Territory Blues“ (Cooperative, 2009) dennoch ein hoffnungsvolles ist, weiß nur, wer vor rund drei Jahren die Moll-Ode „Minor Works“ (Fargo Records, 2006) in dunklen Nächten lieben lernte. Josh Tillman ist hauptberuflich Schlagzeuger der zuletzt ausgiebig gefeierten amerikanischen Band Fleet Foxes. Er stammt also aus Seattle, der, 15 Jahre nach Grunge, neuen heimlichen Indierock-Hauptstadt. Tillman aber spielt leise, entschlackt den Folk seiner Band von jeder Leichtigkeit. Es bleiben allein seine Gitarre, ein Tamburin und seine glühwarme Schlafzimmer-Stimme. Maximale Nahbarkeit mit minimalen Mitteln – eine (in der Wirtschaft unmögliche) Erfolgsformel im Folkpop?

Noch besser macht es derzeit vielleicht nur Justin Vernon. Das große stille Debüt „For Emma, Forever Ago“ (4AD / Beggars, 2008) seines Projektes Bon Iver war wahrscheinlich der populärste Geheimtipp aller Jahresbestenlisten 2008. Jetzt legt Vernon mit der EP „Blood Bank“ nach und spielt darauf immerhin so gefasst, dass er, der selbst von Amor so Angeschlagene, das Anschlagen der Saiten seiner Akustischen nicht vergisst. Die Finger kratzen übers Griffbrett, der Gesang hallt aus dem Jenseits, als sei Vernon eine multiple Persönlichkeit. So schön wäre Minimal Folk, wenn Vernon mit Bon Iver dem Genre nicht noch einen zweischneidigen Gefallen täte: Er etabliert den von Kanye West wieder salonfähig gemachten Cher-Effekt, also seltsam flatternden, elektronisch manipulierten Gesang, in einem fast rein akustischen Genre.

Nur dem Gutmenschen Ben Lee ist all das immer noch zu traurig. Kein Wunder, er hat als Großstadt-Australier naturgemäß mit amerikanischer Befindlichkeit und der von Ben Folds besungenen „Redneck Past“ nur weit am Rande etwas am Hut. Gemeinsam mit Kweller und Folds tourte er als The Bens durch die Lande. Zuletzt coverte er Punkrockalben und schlug mit dem Song „What Would Jay-Z Do?“ die Brücke zwischen Hip-Hop und Singer/Songwriter-Musik so elegant wie kein zweiter. Seinem Image als braver Junge schadete es nicht, deshalb polarisiert er mit „The Rebirth Of Venus“ (New West, 2009) auf seine Art erst Recht: „I love pop music“ singt er und lässt in eben dieser Single auch prompt umweltpolitische Ansagen vom Stapel, die man von Popsängern nicht unbedingt hören möchte. Der Rest bleibt erwartungsgemäß gefällig und Lee ein heimlicher Exot unter den 2009 gar nicht mehr so traurigen Songwritern. Es liegt natürlich auch an seiner Herkunft, wenn er die charmante Nichtigkeit seiner Lieder auf den Punkt bringt: „What’s so bad about feeling good?“ So weit wird es bei seinen amerikanischen Kollegen hoffentlich nie kommen.

(erschienen in: Süddeutsche Zeitung, Seite 12, Feuilleton, 13. März 2009)

Tun Sie es für Ihr Land, Jack!

Als unkaputtbarer „CTU“-Agent Jack Bauer hat Kiefer Sutherland die westliche Welt noch immer gerettet. In der siebten Staffel von „24“ aber ändern sich die Mittel: eine Echtzeitserie als Gradmesser amerikanischer Befindlichkeit

Jack Bauer war der Welt schon immer um ein paar Stunden voraus. In „24“, der Emmy-und Golden Globe-ausgezeichneten Echtzeitserie, verhalf er der USA zu einem schwarzen Präsidenten, als Barack Obama noch ein unbekannter Senator in Illinois war. Immer dann, wenn die halbe westliche Zivilisation vor dem Terrorismus aus Nah-, Mittel-, oder Fernost (von den korrupten Verrätern in der eigenen Regierung ganz zu schweigen) zu kapitulieren drohte, stellte sich der von Kiefer Sutherland in Los Angeles gelebte Held über das Gesetz, um die Gesetzlosen zu besiegen. Jetzt aber, zu Beginn der am Sonntag in den USA und am Montag in Deutschland (Premiere) angelaufenen siebten Staffel, wird der Charakter von der Realität eingeholt. Jack Bauer muss sich vor einem Senatsausschuss verantworten. Von Seiten des Staates, dessen Niedergang er ja Staffel für Staffel, bisher sechs sehr lange Tage also, zu vereiteln wusste, wird er der Folter beschuldigt!

Tatsächlich glorifizierten der Sender FOX und das Produzententeam um Joel Surnow in „24“ seit der ersten Staffel, die in den USA nur zwei Monate nach 9/11 anlief, fragwürdige Verhörmethoden als Allzweckwaffe, dem Terror ein Schnippchen zu schlagen. Die Bedrohung schien allgegenwärtig, der Zweck heiligte viele Mittel, Bauer, dieser Chuck Norris der Generation Superagent, hat die Welt bisher noch immer gerettet. Der Wandel in der Arbeitsphilosophie seiner dahingeschiedenen Counter Terrorist Unit aber bedeutet nicht allein eine Reaktion auf den Zuschauereinbruch der schwachen sechsten Staffel oder den Streik der Drehbuchautoren – er manifestiert das Unwohlsein mit George W. Bushs brachialer Außenpolitik im amerikanischen Fernsehen. Vor rund zwei Jahren bekamen die Produzenten der Serie Besuch von einer Delegation aus Armeevertretern und Menschenrechtsaktivisten. Zum einen hätte Jack Bauer, so verstörend das auch sein mag, mehr Einfluss auf junge Rekruten als ihre Ausbilder selbst. Zum anderen schüre die Darstellung ein hässliches Bild von Folter als Wunderwaffe gegen den Terror und legitimiere dadurch weiterhin die Kriegspolitik der Bush-Regierung.

Obama wird sich nach Inauguration noch expliziter als Feind von Guantanamo Bay und Abu Ghraib bekennen als bisher. Auch die immer noch geschätzten 13 Millionen „24“-Zuschauer wollen die Folter nicht mehr sehen. Der geläuterte Bauer war deshalb gut beraten, in seinem Plädoyer einzulenken: „Zum Schutz unseres Landes schufen wir zwei Welten – unsere und die der Menschen, die wir zu beschützen vorgaben“. Sein Wandel vom Übermenschen zum „one of us“-Agenten bleibt fremdbestimmt. Bauer sagt: „Sie haben es verdient, die Wahrheit zu erfahren. Dann können sie entscheiden, wie weit sie uns gehen lassen.“ Sollte die Folter also wider Erwarten ein zentrales Element in „24“ bleiben, verhieße das womöglich wenig Rü̈ckhalt für Obamas Politik in der eigenen Bevölkerung. Da wäre die Serie aber ohnehin schon wieder zwei Schritte voraus: Der nächste Präsident ist eine Frau.

www.fox.com/24

(erschienen in: Süddeutsche Zeitung, 15. Januar 2009, Medien, S. 15)

Halt dich von den Zügen fern

Lucius Shepard bereist den Mythos vom „Hobo“ in den USA

Der Drang nach Aufbruch und Reise ist so alt wie die Menschheit selbst. Die Industrialisierung des 19. Jahrhunderts aber überholte bald die Utopie einer für jedermann erreichbaren Welt außerhalb der eigenen Siedlung: Die Erschließung des nordamerikanischen Landesinneren durch Eisenbahnschienen folgte der Erfindung der Dampfmaschine. Die Weite der Prärie wurde, als bis dahin große Unbekannte, auf diese Weise entmystifiziert; nach dem amerikanischen Bürgerkrieg befeuerten heimkehrende Soldaten und Wanderarbeiter ein aufkommendes Bild vom einsamen Reisenden.

Landstreicher nannten die Waggons der Güterzüge fortan ihr einziges Zuhause. Die Subkultur sogenannter Hobos entstand, und mit ihr ein neuer Mythos des romantischen, freien Wanderers. Doch wurden ihm nicht allein territoriale Grenzen gesetzt. Auch das Industriezeitalter lief aus. Das Leben eines Hobos hat heutzutage mit Romantik nicht mehr viel gemein: er schläft meist nicht in Waggons, sondern unter Brücken, in Obdachlosenheimen oder im Gefängnis. Sein Drang nach Aufbruch und Freiheit verkommt zum Selbstzweck oder hat sich ins Gegenteil verkehrt.

In dem Buch „Hobo Nation“ erzählt Lucius Shepard, von Haus aus Fantasy-Autor, erstmals die lange Version seiner Geschichte als Teilzeit-Tramp. Im Auftrag des Spin-Magazins zog er Mitte der neunziger Jahre aus, entlang der Gleise im Mittleren Westen der USA die Wege der Hobos zu ergründen. Zurück kam er mit der „FTRA-Story“. Die Gefährlichkeit dieser Unternehmung nämlich war gleichzeitig ihr Anstoß: Man erzählte sich, eine organisierte Bande namens „Freight Train Riders Of America“ – FTRA – treibe an den Bahngleisen ihr Unwesen.

Lucius Shepard also campierte, fuhr und trank mit den Outlaws dieser anachronistischen Subkultur, aber er fand kaum mehr als das Hobo-Klischee bestätigt, dessen sich seit Woody Guthrie bis heute zahllose Bluesmusiker bedienen. Madcat, Sidetrack, Missoula Mike, Mississippi Bone, wie sie sich auch nennen, sie alle identifizieren sich gleichermaßen als Vertriebene und als freiwillig in die Weite Aufgebrochene. Hunde und Schnaps sind ihre besten Freunde in einem Alltag, den Geselligkeit und Einsamkeit, vor allem aber auch Gewalt fremdbestimmt.

Medienberichte über hässliche Zwischenfälle wie Vergewaltigungen und Morde Einzelner schüren in der „zivilisierteren“ Welt der Städte und Vorstädte die Angst vor einer „Hobomafia“ und ein falsches Bild der eigentlich friedfertigen Tramps. Auch das ist freilich ein Topos des ausgehenden 19. Jahrhunderts, der Ära der Posträuber. Jules Verne schrieb darüber, Robert Zemeckis schickte im letzten Teil der Filmtrilogie „Back To The Future“ seinen zeitreisenden Michael J. Fox dorthin zurück.

Der Autor attestiert der chaotischen Natur des Hobo-Lebens einen „grundsätzlichen Mangel an Kompetenz“ und entwarnt im Laufe seiner Reportage: die FTRA existiere allenfalls in loser Form. Im Suff verbrüdert er sich gar mit zwielichtigen Wanderlustigen, sodass Shepard im holprig übersetzten Vorwort das schrecklich romantische Fazit zieht, das auch eines unserer postmodernen Mobilität ist: Wenn niemand mehr all die schönen Orte im Landesinneren, und seien es nur „die schwachgewordenen Augen von Betrunkenen“, sehe, so gleiche das wieder jener unvollendeten Darstellung des Kontinents, die „vor einem Jahrhundert als akkurat angesehen wurde“, als wären also Teile der Landkarte einfach verschwunden. Hieße das etwa, Urbanisierung und Landflucht katapultierten uns zurück ins Zeitalter vor Magellan und Kolumbus? Als die Karten gezeichnet, aber noch nicht mit Inhalten gefüllt waren?

Landstreicher und Freizeitspaß

Shepard selbst, nun wieder Schriftsteller, lässt nach seinem journalistisch motivierten Drang ins Landesinnere, nach Auszug und Erzählung, wieder seiner Phantasie, seinem Drang ins eigene Innere, freien Lauf. Sein temporäres Hobo-Leben inspirierte ihn zu der Novelle „Drüben“. In einer Fantasywelt, näher an Harry Potters Hogwarts als am Schauplatz Klamauk Falls, erwachen die Güterzüge selbst zum Leben, werden von menschlichen Drachenwesen angegriffen, findet die Hobokultur ihr jenseitiges Äquivalent in Paralleluniversen voller Monster, voller Lethargie und Utopie, und Shepard bebildert seine Erkenntnisse als Hobby-Philosoph. Stoff genug für einen eigenen Roman.

Die Hunde und die Züge aber bleiben eine Konstante, in „Die Ausreißerin“, der letzten und jüngsten Erzählung und einzigen Erstveröffentlichung in „Hobo Nation“, wie auch im echten Leben der Landstreicher, das mit Kerouac und Hemingway nur noch die verblassende Faszination des Fremden und der Selbstbestimmung gemein hat. Heute sind es überwiegend Backpacker und Yuppies, die diese Art von Aufbruch und Heimatlosigkeit als Freizeitspaß verklären. Wenn also selbst diese kolportierte Utopie nur ein Mythos ist, wo soll es dann mit denen hingehen, die wirklich daran glauben? Wäre die Hobokultur noch in ihrer Ursprungsform erhalten, sie müsste dieser Monate Hochkonjunktur feiern: in wirtschaftlichen Krisenzeiten, besonders nach Kriegen und während der großen Depression, stieg die Zahl der Eisenbahn-Tramps bisher noch immer.

LUCIUS SHEPARD: Hobo Nation. Aus dem Englischen von Joachim Körber. Edition Phantasia, Bellheim 2008. 207 Seiten, 18,90 Euro.

(erschienen in: Süddeutsche Zeitung, 15. Januar 2009, Seite 12, Literatur)

Flucht in die Lektüre

Wie der deutsche Buchmarkt von der Krise profitieren will

Alle sind sich einig: 2009 wird ein Krisenjahr. Der Buchmarkt aber, sagt dtv-Geschäftsführer Wolfgang Balk, war in der Vergangenheit von Konjunkturschwankungen kaum betroffen, weder positiv noch negativ. Er expandiere aus anderen Gründen nicht mehr: wegen Konzentration auf Spitzentitel, Filialisierung, gesättigter Märkte und starken Wettbewerbs. „Wir haben keinen Grund zum Jubeln“, warnte Gottfried Honnefelder, Vorsteher des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, noch zu Beginn der Frankfurter Buchmesse im Oktober – und revidierte nach der Messe prompt: der hiesigen Branche gehe es gut.

Im Krisenherd, den Vereinigten Staaten, sah es da schon anders aus: Noch im Oktober 2008 ist der amerikanische Buchmarkt um 27 Prozent eingebrochen. Als Len Riggio, Vorstandsvorsitzender des Marktführers Barnes & Noble, im November von einem so noch nie da gewesenen schlechten Klima in seiner Branche sprach, hatte Double Day Publishing bereits zehn Prozent seiner Mitarbeiter entlassen. Wenig später meldete Barnes & Noble einen flächenbereinigten Umsatzrückgang um 7,4 Prozent. Das Betriebsergebnis von HarperCollins fiel von 36 Millionen Dollar im Vorjahr auf drei Millionen Dollar.

Die deutschen Verlage sehen dem Krisenjahr 2009 dennoch mit kalkulierter Gelassenheit entgegen. „Hätte ich in Amerika ein Geschäft, wäre ich pessimistischer“, sagt Peter Kraus vom Cleff, der kaufmännische Rowohlt-Verleger. Der deutsche Immobilienmarkt sei nie so ü̈berhitzt gewesen wie der amerikanische, die Auswirkungen auf den Buchmarkt ebenso wenig vergleichbar. Bei der lesenden Hälfte der Bundesbürger habe die Literatur einen gefestigten Stellenwert im täglichen Leben, kulturinteressierte Menschen stellten eher den Konsum langfristiger Güter wie Autos oder Fernurlaube zurück. Auch Wolfgang Balk weiß, dass Bücher „die preisgü̈nstigste Freizeitbeschäftigung“ darstellen.

Der Buchhandel habe „ja traditionell von Krisen profitiert“, sagt Hartwig Schulte-Loh, Geschäftsfü̈hrer beim Kulturkaufhaus Dussmann an der Berliner Friedrichstraße. Bücher funktionierten gerade in der Krise als Flucht in eine nachhaltigere Form des Denkens. Um die Steigerung macht er sich keine Sorgen, nur könne es sein, „dass die Krise das ein Stück abdämpft“. Das aber gilt nur für die Konsumseite, auf der Finanzierungsseite geht es profaner zu: Gerade mittlere und kleine Buchläden verdanken ihre Existenz oftmals aufgenommenen Krediten. Blieben diese Kredite, ob wegen fehlendem Kapital oder fehlendem Mut der Banken, nun aus, müssten zuallererst Service und Programm der Händler leiden. Ausbleibende Bestellungen fielen so mittelfristig auf die Verlage zurück. Im übrigen ist die Krise durchaus auch im deutschen Verlagswesens angekommen. So steht beispielsweise der breit aufgestellte Weltbild-Verlag seit Juli zum Verkauf, die weiter laufenden Verhandlungen werden „durch die weltweite Finanzkrise erschwert“, sagt Aufsichtsratsvorsitzender Klaus Donaubauer.

Große belletristische und Publikumsverlage wie S. Fischer, Hanser, Kiepenheuer & Witsch oder Ullstein schreiben ihre schwarzen Zahlen mit einer Spitze von vielleicht zehn Prozent aller Titel, die sie publizieren. Mit anderen Worten:Mehr denn je ist der deutsche Buchmarkt von seinen Bestsellern abhängig. Und gerade die Romane laufen weiterhin gut: Carlos Ruiz Zafón, Christopher Paolini, Uwe Tellkamp.

Diese Entwicklung weist zwei mögliche Wege aus der Krise, falls sie denn doch einschlüge: Konzentration oder Differenzierung. Im wahrscheinlicheren und bereits praktizierten Szenario müssen sich die Verlage zunehmend uüberlegen, ob und wie sie ihre Programme reduzieren. Kochbü̈cher, Reisefü̈hrer und andere Erweiterungsbereiche, deren vergleichbare Inhalte man aus dem Internet beziehen kann, würden eingedämmt.

Schulte-Loh würde diese „Bereinigung des Buchmarktes auf Produzentenseite“ begrü̈ssen. Eine Konsolidierung wü̈rde manchen, eine stärkere Fokussierung auf Qualität im Buchmarkt allen gut tun. Auch eine solche Entwicklung aber enthielte Gefahren: Wenn Breite und Vielfalt zugunsten einiger weniger Titel zurückgehen, werden Nischeninteressen nur noch rudimentär bedient. Wirtschaftlich wäre das vermutlich. Imagebildend nicht. Auch deshalb will Rowohlt diesen Weg nicht mitgehen. „Wir leben davon, ständig Neues zu entdecken und zu entwickeln“, erklärt Kraus vom Cleff. „Verlegen
ist ein innovativer Prozess.“

Aufzuhalten ist der Konzentrationsprozess kaum. Die fünf größten Filialisten sind derzeit für ein Viertel des deutschen Bü̈cherumsatzes verantwortlich. Die Not kleiner Fachhandel aber hat freilich auch andere Ursachen als eine Finanzkrise: So lag der Umsatz von Internet-Buchhändlern, allen voran amazon.de, schon 2007 laut Börsenverein bei 850 Millionen Euro. Das macht 21 Prozent Steigerung und einen Anteil am Buchmarkt von 8,9 Prozent aus. Im Sortimentsbuchhandel lag der Umsatz 2007 bei 9,6 Milliarden Euro.

Das Weihnachtsgeschäft macht durchschnittlich 23 Prozent des Jahresumsatzes im Buchhandel aus und lief 2008 trotz der publizistischen Allgegenwart der Finanzkrise im stationären deutschen Buchhandel gut. Wie unabhängig der deutsche Buchmarkt von der globalen Krise wirklich ist, wird sich erst 2009 zeigen.

(erschienen in: Süddeutsche Zeitung, 8. Januar 2009, Seite 11, Feuilleton)

Apokalypse am Harvard Square

Mit „Out Of Town News“ schließt viel mehr als nur ein Kiosk

Der Zeitungskiosk „Out Of Town News“ in Cambridge, Massachusetts, wird nach 53 Jahren geschlossen. Der Pachtvertrag zwischen Hudson News und der Stadt läuft zum 30. Januar 2009 aus. Statt Presse, Schreib- und Tabakwaren könnten in dem historischen Ladenlokal bald Fahrräder zum Verkauf stehen, verkündete der Stadtrat. Bis hierher nichts Ungewöhnliches, möchte man gerade in Zeiten finanziellen Notstands und Digitalisierung des gemeinen Leseverhaltens meinen. „Out Of Town News“ aber ist nicht irgendein Kiosk. Seit 1955 galt er als der Anlaufpunkt für Akademiker, Studenten und andere Wissbegierige, um sich auch über die Mauern ihrer berühmten Universitätsstadt hinaus ein Bild von der Welt zu verschaffen – durch Erwerb und Lektüre der French Vogue, der Times Of India oder der Süddeutschen Zeitung beispielsweise. 1994 verkaufte Gründer Sheldon Cohen seinen Kiosk an die Kette Hudson News.Die Schließung einer solchen Institution ist also erstmal bedauerlich, aber doch wohl noch lange kein Weltuntergang. Oder?

Der Anfang vom Ende wurde bereits 1985 wie folgt aufgeschrieben: „Als ich zu dem Eckgeschäft kam, war die übliche Frau nicht da. Stattdessen stand ein junger Mann hinter dem Ladentisch. Ist sie krank? fragte ich, als ich ihm meine Karte gab. (. . .) Tut mir leid, sagte er. Diese Nummer ist nicht gültig.“ So erinnert sich die Dienerin Desfred in der von Margaret Atwoods verfassten und von Volker Schlöndorff verfilmten Utopie „A Handmaid’s Tale“ an den Tag X ihrer Zeit vor der Sklaverei im totalitären Regime der gar nicht allzu fernen Zukunft. Von diesem missglückten Zigarettenkauf an kippt die Welt aus den Angeln: Die Konten aller Frauen werden gesperrt, Desfred verliert ihren Job und ihr altes Leben. Zeitungen verschwinden, und mit ihnen Desfreds Erinnerung an deren und den Namen des Ladens. Die im Roman beschriebene visionäre Szenerie sowie Atwoods Biografie aber lassen keinen Zweifel: Die Apokalypse der bekannten Welt beginnt am Harvard Square.

Vielleicht ist es Zufall, dass die Schließung des kleinen Kiosks mit den großen Hiobsbotschaften der Finanzkrise zusammenfällt. Vielleicht aber erleben Harvard, die Wall Street und die Welt die leibhaftige Einäscherung einer niedergeschriebenen Utopie. Reihenweise lösen amerikanische Bürger dieser Monate Konten auf, solange noch was zu holen ist. Die stillen Machthaber unserer noch gegenwärtigen Gesellschaft, die Broker und Aktionäre, gehen mit unter. In „Gilead“, Atwoods neuem Amerika, rafft es jeden dahin, der zur Fortexistenz des Systems keinen Beitrag leisten kann. Was ihnen und unserer Welt im kommenden Jahr blüht, wagt niemand so Recht zu erahnen. Fakt ist: Selbst an der nur einen Steinwurf vom „Out Of Town News“ entfernten Harvard University wird das Geld knapp (siehe SZ vom 10. Dezember). Wenn das kein Zeichen ist, was dann?

(erschienen in der Süddeutschen Zeitung, 16. Dezember 2008, S. 11, Feuilleton)

Was da klappert, trennt den Körper vom Geist

Mit der Schreibmaschine begann die Automatisierung intellektueller Tätigkeiten: Rückblick auf ein altertümliches Instrument

Jack Nicholson hämmerte in Stanley Kubricks „The Shining“ mechanisch diesen einen Satz tagelang in seine Schreibmaschine: „All work and no play makes Jack a dull boy“ – „Arbeit statt Spiel macht Jack zum dumpfen Jungen“. Dies ist die zweitbekannteste Interpretation einer Errungenschaft des späten 19. Jahrhunderts: Die Schreibmaschine erscheint hier als verlängerter Arm des Geistes – und zwar eines zerrütteten. Der niedergeschriebene Wahnsinn in „The Shining“ führte 1980 ein Bild fort, das der Romancier Bram Stoker 83 Jahre früher in „Dracula“ zu zeichnen begonnen hatte. (Fiktive) Manuskripte, Briefwechsel und Zeitungsartikel, gerade aber die eifrig getippten Tagebucheinträge von Jonathan Harkers Verlobter Mina als „Diskursangestellte“ dokumentieren im ersten Vampirroman der Literaturgeschichte die Klimax des Grauens. Denn mit welchen Mitteln wird der Vampir, diese Erscheinung aus einem geographisch abgelegenen und historisch völlig überholten Osteuropa überwunden? Mit dem Grammophon, der Schallaufzeichnungsmaschine eines Wissenschaftlers, und der Schreibmaschine, dem Schriftaufzeichnungsgerät einer frühen Sekretärin.

Der Bau der ersten marktfähigen Schreibmaschine geht auf ein dänisches Taubstummeninstitut im Jahr 1865, über 400 Jahre nach dem ersten Typenbuchdruck, zurück. In Deutschland hält die Technik des mechanisch reproduzierten Wortes 17 Jahre später Einzug; im Jahr 1898 nehmen die Adler-Werke, damals noch Heinrich Kleyer GmbH, die Produktion auf. Seit Menschengedenken wurde all jenes Gedankengut nachfolgenden Generationen überliefert, das in die jeweiligen „Aufschreibesysteme“ ihrer Zeit aufgenommen wurde. In seinem gleichnamigen Standardwerk beschrieb der Medientheoretiker Friedrich Kittler 1985 Aufschreibesysteme primär als technische, analoge wie digitale Einrichtungen zur Speicherung von Daten – von der Höhlenmalerei über Tonaufnahmen bis zum Schriftdruck und darüber hinaus. „Akten verlieren an Macht“, heißt es im Vorwort zu Kittlers „Grammophon. Film. Typewriter“, „wenn die realen Datenströme unter Umgehung von Schrift und Schreiberschaft nur noch als unlesbare Zahlenreihen zwischen vernetzten Computern zirkulieren.“ Der Anfang vom Ende der Handschrift war in den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts, als Friedrich Kittler dieses Buch verfasste, längst eingeläutet, argumentieren Kulturpessimisten. Und es stimmt ja auch: ein papierloses Büro ist kein Büro. „Von den Leuten gibt es immer nur das, was die Medien speichern und weitergeben können“, heißt es in jenem Vorwort zeitlos weiter. Von den Auswirkungen des heutigen Datenverkehrs war Kittlers Arbeit damals noch unbehelligt.

Tatsächlich spinnt sich um die Einführung der Schreibmaschine im späten 19. Jahrhundert eine Kulturgeschichte in vielen Kapiteln. Die Alphabetisierung großer Bevölkerungsgruppen lag noch nicht lange zurück, die Handschrift in ihrer Schulform – als unendliche, geschwungene Linie – hatte sich gerade durchgesetzt, auch als Ausdruck der Person, des einzigartigen Menschen. Da löste die Schreibmaschine diese Bindung wieder auf, indem sie (nach einiger Übung) die Schrift blind werden ließ: Man musste ja nicht einmal mehr hinschauen. Und gleichzeitig waren die Grundlagen für eine bald unendliche Reproduktion gelegt – zuerst als Durchschlag, dann als Kopie. Es dauerte also nicht mehr lange, bis Heerscharen von Stenotypistinnen damit beschäftigt waren, unendliche Mengen von Texten anzufertigen, die sie oft nicht verstanden und auch nicht verstehen mussten. Und auch die Philosophie entdeckte die Schreibmaschine: Friedrich Nietzsches (minus 14 Dioptrien) Aphorismen wären kaum entstanden – und vor allem: so nicht entstanden –, hätte er nicht eine Schreibmaschine benutzen können.

Seit der flächendeckenden Einführung elektronischer Datenverarbeitung, seit nunmehr rund 20 Jahren also, fristet die Schreibmaschine ein immer blasser werdendes Schattendasein. In ihren Erben lebt sie als Computer, Laptop oder Handy freilich weiter, in immer höheren Automatisierungsgraden. In Film und Fernsehen aber versinnbildlicht die Darstellung ihrer Nutzung den Schreibenden als letzten Puristen seiner Art, als Romantiker – oder als heillosen Chaoten, der im Wahnsinn seines Genies von der Klippe springt. Das längste geläufige englische Wort übrigens, das sich mit einer Buchstabenreihe einer amerikanischen „QWERTY“-Schreibmaschine wie auch mit dem US-Computer-Keyboard tippen lässt, lautet: „typewriter“.

(erschienen in: Süddeutsche Zeitung, 19. November 2008, Seite 20, Wirtschaft)

Tod in der Weißen Nacht

Zum 30. Jahrestag des Massenselbstmordes von Jonestown gibt es neue Dokumente

Die Utopien starben in der Nacht des 18. November 1978 in Jonestown. Der Massenselbstmord der Sektenmitglieder traf Amerika tief, denn er stellte so vieles in Frage – das Ideal der Gründerväter von einer Neuen Welt als Zufluchtsort der freien Religionen, die Hoffnungen der Hippiegeneration mit einem Ausstieg aus der bürgerlichen Gesellschaft eine gerechtere Welt zu schaffen. „Liebe Leute“, eröffnet Phyllis Chaikin ihren Eltern noch am 15. April 1978 in jetzt aufgetauchten Schriftstücken, „ich bin überglücklich, dass Gail und David in einer Kommune aufwachsen, die ihre Ideale unterstützt. Ihr wäret stolz, wie stark und unabhängig sie sind. Ich arbeite jetzt als Krankenschwester.”

Als Phyllis Chaikin diese Worte verfasst, lebt die 39-jährige Tochter von Herbert und Freda Alexander seit drei Jahren in Jonestown. Mit ihrem Mann Gene, ihren zwei Kindern sowie über tausend weiteren Anhängern der „Peoples Temple“- Sekte folgt sie ihrem Führer Jim Jones erst in die selbst erbaute Zufluchtssiedlung im südamerikanischen Guyana, ein halbes Jahr nach ihrem Brief an die Eltern in den frei erwählten Tod.

30 Jahre nach den Ereignissen des 18. November 1978, die als „Weiße Nacht“ in die Kriminalgeschichte Amerikas eingingen, findet ein Handwerker im Keller des Hauses der Familie Isaacson in Los Angeles, einen Koffer. Der Inhalt: Zeitungsberichte über den religiösen „Peoples Temple“-Kult und Briefe von Phyllis, Gail und David Chaikin. Erst 1992 zog das Ehepaar Alexander aus dem Haus aus, in dem ihre einzige Tochter aufwuchs. Familie Isaacson zog ein. Die Briefwechsel, Barry Isaacsons Recherchen sowie lange unter Verschluss gehaltene FBI-Akten untermauern nun die durch Berichte von Überlebenden und Fernsehdokumentationen gestützten Vermutungen, dass der berüchtigste religiöse Massenfreitod in der amerikanischen Geschichte so frei gar nicht war.

Der Kalte Krieg und das psychologische Tief nach dem Wirtschaftswunder treibt suchende Seelen in die Arme und Lehre des „Peoples Temple“. 1972 lernen die Chaikins den kommunistischen Prediger Jim Jones aus Indianapolis und seine Vision von einer altruistischen Welt ohne Rassismus kennen.

Jones, der sich selbst als eine Art „Elvis Presley der Religion“ sieht, untersagt seinen Jüngern jeglichen Kontakt zu Familie und Freunden. Sie nennen ihn Vater, doch nach seinem raschen Aufstieg werden erste öffentliche Zweifel laut. Ein Jahr nach Beitritt der Chaikins gerät sein 1956 begründeter Kirchenersatz zunehmend in Verruf. Jones sei ein Scharlatan, der Wunderheilungen vortäusche und den Mittleren Westen der USA vom drohenden nuklearen Holocaust erretten wolle. Er kultiviert eine Religion der Angst. Schließlich verbarrikadiert er sich und seinen „Peoples Temple“ 1975 im guyanesischen Jonestown.

Zyankali für die Kinder

Phyllis, längst zu Jones’ Mitdenkerin aufgestiegen, während sich in anderen Jüngern ebenfalls Zweifel an der nie gewollten Diktatur und Sklaverei regen, plant den Massenselbstmord in einem Brief an ihren Übervater mit erschreckendem Kalkül: „Dad. Diejenigen unter uns, die sich einem revolutionären Selbstmord verweigern, um ihren Arsch zu retten, werden zu ihrem Todesort eskortiert (ich traue niemandem, seinen eigenen Tod zu arrangieren, aber mit Druck von außen und ohne Alternativen sollte es funktionieren). Ein Kopfschuss, im Zweifel ein Skalpellschnitt durch den Hals. Ich helfe, falls es notwendig wird. Die Leichen werfen wir in ein Loch. Es könnte hilfreich sein, den Leuten vorher die Augen zu verbinden, damit das Blut und die leblosen Körper ihrer Vorgänger ihre Beunruhigung nicht steigern.“

Was am Abend des 18. November 1978 wirklich geschah, bleibt im Dunkel. In den Monaten zuvor rief Jones die „Weiße Nacht“ mehrfach aus, verteilte den Punsch aus Brausepulver der Marke Kool-Aid ohne Gift, um die Loyalität seiner Anhänger zu prüfen.

Nach einem Fluchtversuch und einer mutigen wie gefährlichen Aufbegehrung von Jones’ Consigliere Gene Chaikin eskaliert die Lage: Der kalifornische Abgeordnete Leo Ryan will sich ein Bild von Jonestown machen, fliegt am 14. November nach Guyana. Die Glückseligkeit im scheinbaren Paradies ist nichts mehr als eine Inszenierung. Einzelne Bewohner riskieren ihr Leben und das ihrer Kinder, stecken dem Politiker Hilferufe zu, bitten um Befreiung aus den Fängen eines Wahnsinnigen. Jones erfährt davon, Ryan und sein Team werden angegriffen und während ihrer Flucht erschossen. Jones, mittlerweile selbst Vater eines Sohnes, verkündet die endgültige „Weiße Nacht“. Tonbandaufnahmen belegen Jubel, Aufruhr und Schüsse. Über 250 Kinder, die den tödlichen Zyankali-Fruchtpunsch nicht trinken, werden erschossen. Mindestens 913 Menschen sterben in dieser Nacht, durch Selbstmord oder Mord. Augenzeugen berichten später, dass unter der Gruppe, die die Giftmischung an die Sektenmitglieder verteilte, auch Phyllis Chaikin war.

Das Massaker von Jonestown markiert keineswegs den letzten gemeinsamen Selbstmord einer Sekte. In das kollektive Gedächtnis der Amerikaner aber hat es sich eingebrannt wie kein zweites. Es gibt bis heute eine stehende Redewendung, dass jemand „Kool-Aid“ getrunken habe, wenn er blind an eine Sache glaubt. Herbert und Freda Alexander ist damit freilich nicht geholfen. „Falls Reverend Jones und der ‚Peoples Temple’ gegen das biblische Gebot ‚Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren’ ist,“ schreibt Vater Herbert seiner Tochter ein Jahr vor der „Weißen Nacht“, „so liegt es an dir, jeden Kontakt mit deiner Familie für immer abzubrechen. Wir haben nur ein Recht, von dieser Entscheidung zu erfahren. Die Vergangenheit ist in dem Moment vergessen, an dem du zurückkehren willst.“ Phyllis kam nicht wieder.

(erschienen in: Süddeutsche Zeitung, 18. November 2008, Seite 12, Feuilleton)