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Halt dich von den Zügen fern

Lucius Shepard bereist den Mythos vom „Hobo“ in den USA

Der Drang nach Aufbruch und Reise ist so alt wie die Menschheit selbst. Die Industrialisierung des 19. Jahrhunderts aber überholte bald die Utopie einer für jedermann erreichbaren Welt außerhalb der eigenen Siedlung: Die Erschließung des nordamerikanischen Landesinneren durch Eisenbahnschienen folgte der Erfindung der Dampfmaschine. Die Weite der Prärie wurde, als bis dahin große Unbekannte, auf diese Weise entmystifiziert; nach dem amerikanischen Bürgerkrieg befeuerten heimkehrende Soldaten und Wanderarbeiter ein aufkommendes Bild vom einsamen Reisenden.

Landstreicher nannten die Waggons der Güterzüge fortan ihr einziges Zuhause. Die Subkultur sogenannter Hobos entstand, und mit ihr ein neuer Mythos des romantischen, freien Wanderers. Doch wurden ihm nicht allein territoriale Grenzen gesetzt. Auch das Industriezeitalter lief aus. Das Leben eines Hobos hat heutzutage mit Romantik nicht mehr viel gemein: er schläft meist nicht in Waggons, sondern unter Brücken, in Obdachlosenheimen oder im Gefängnis. Sein Drang nach Aufbruch und Freiheit verkommt zum Selbstzweck oder hat sich ins Gegenteil verkehrt.

In dem Buch „Hobo Nation“ erzählt Lucius Shepard, von Haus aus Fantasy-Autor, erstmals die lange Version seiner Geschichte als Teilzeit-Tramp. Im Auftrag des Spin-Magazins zog er Mitte der neunziger Jahre aus, entlang der Gleise im Mittleren Westen der USA die Wege der Hobos zu ergründen. Zurück kam er mit der „FTRA-Story“. Die Gefährlichkeit dieser Unternehmung nämlich war gleichzeitig ihr Anstoß: Man erzählte sich, eine organisierte Bande namens „Freight Train Riders Of America“ – FTRA – treibe an den Bahngleisen ihr Unwesen.

Lucius Shepard also campierte, fuhr und trank mit den Outlaws dieser anachronistischen Subkultur, aber er fand kaum mehr als das Hobo-Klischee bestätigt, dessen sich seit Woody Guthrie bis heute zahllose Bluesmusiker bedienen. Madcat, Sidetrack, Missoula Mike, Mississippi Bone, wie sie sich auch nennen, sie alle identifizieren sich gleichermaßen als Vertriebene und als freiwillig in die Weite Aufgebrochene. Hunde und Schnaps sind ihre besten Freunde in einem Alltag, den Geselligkeit und Einsamkeit, vor allem aber auch Gewalt fremdbestimmt.

Medienberichte über hässliche Zwischenfälle wie Vergewaltigungen und Morde Einzelner schüren in der „zivilisierteren“ Welt der Städte und Vorstädte die Angst vor einer „Hobomafia“ und ein falsches Bild der eigentlich friedfertigen Tramps. Auch das ist freilich ein Topos des ausgehenden 19. Jahrhunderts, der Ära der Posträuber. Jules Verne schrieb darüber, Robert Zemeckis schickte im letzten Teil der Filmtrilogie „Back To The Future“ seinen zeitreisenden Michael J. Fox dorthin zurück.

Der Autor attestiert der chaotischen Natur des Hobo-Lebens einen „grundsätzlichen Mangel an Kompetenz“ und entwarnt im Laufe seiner Reportage: die FTRA existiere allenfalls in loser Form. Im Suff verbrüdert er sich gar mit zwielichtigen Wanderlustigen, sodass Shepard im holprig übersetzten Vorwort das schrecklich romantische Fazit zieht, das auch eines unserer postmodernen Mobilität ist: Wenn niemand mehr all die schönen Orte im Landesinneren, und seien es nur „die schwachgewordenen Augen von Betrunkenen“, sehe, so gleiche das wieder jener unvollendeten Darstellung des Kontinents, die „vor einem Jahrhundert als akkurat angesehen wurde“, als wären also Teile der Landkarte einfach verschwunden. Hieße das etwa, Urbanisierung und Landflucht katapultierten uns zurück ins Zeitalter vor Magellan und Kolumbus? Als die Karten gezeichnet, aber noch nicht mit Inhalten gefüllt waren?

Landstreicher und Freizeitspaß

Shepard selbst, nun wieder Schriftsteller, lässt nach seinem journalistisch motivierten Drang ins Landesinnere, nach Auszug und Erzählung, wieder seiner Phantasie, seinem Drang ins eigene Innere, freien Lauf. Sein temporäres Hobo-Leben inspirierte ihn zu der Novelle „Drüben“. In einer Fantasywelt, näher an Harry Potters Hogwarts als am Schauplatz Klamauk Falls, erwachen die Güterzüge selbst zum Leben, werden von menschlichen Drachenwesen angegriffen, findet die Hobokultur ihr jenseitiges Äquivalent in Paralleluniversen voller Monster, voller Lethargie und Utopie, und Shepard bebildert seine Erkenntnisse als Hobby-Philosoph. Stoff genug für einen eigenen Roman.

Die Hunde und die Züge aber bleiben eine Konstante, in „Die Ausreißerin“, der letzten und jüngsten Erzählung und einzigen Erstveröffentlichung in „Hobo Nation“, wie auch im echten Leben der Landstreicher, das mit Kerouac und Hemingway nur noch die verblassende Faszination des Fremden und der Selbstbestimmung gemein hat. Heute sind es überwiegend Backpacker und Yuppies, die diese Art von Aufbruch und Heimatlosigkeit als Freizeitspaß verklären. Wenn also selbst diese kolportierte Utopie nur ein Mythos ist, wo soll es dann mit denen hingehen, die wirklich daran glauben? Wäre die Hobokultur noch in ihrer Ursprungsform erhalten, sie müsste dieser Monate Hochkonjunktur feiern: in wirtschaftlichen Krisenzeiten, besonders nach Kriegen und während der großen Depression, stieg die Zahl der Eisenbahn-Tramps bisher noch immer.

LUCIUS SHEPARD: Hobo Nation. Aus dem Englischen von Joachim Körber. Edition Phantasia, Bellheim 2008. 207 Seiten, 18,90 Euro.

(erschienen in: Süddeutsche Zeitung, 15. Januar 2009, Seite 12, Literatur)

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