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Jonathan Safran Foer: Tiere Essen

Der Popstar unter den Fleischkonsum-Kritikern: Bestseller-Autor Jonathan Safran Foer und sein philosophisches Sachbuch „Tiere Essen“

Die Gastrokollegen halten ihn für einen Appetitverderber, die FAZ für den Günter Wallraff der Mastbetriebe: Bestseller-Autor Jonathan Safran Foer („Alles Ist Erleuchtet“) polarisiert mit „Tiere Essen“, einem überfälligen Sachbuch, dessen Argumente meist Fakten sind, die, einmal verdaut, einnehmlicher kaum sein könnten. Eigentlich wollte Foer nur wissen, wie er seinen Sohn am gesündesten ernährt. Nun lässt er Schlachthofarbeiter, sogenannte „Knocker“, Tierschutzaktivisten, „gute“ und „böse“ Farmer, deren Nachbarn und vor allem sich selbst zu Wort kommen. Im Grunde fördern seine dreijährigen Recherchen kaum wirkliche Neuigkeiten zu Tage – nur ihr akribisches Ausmaß ist neu und nachhaltig beeindruckend. Foer konzentriert sich auf die ethischen, ökologischen und gesundheitlichen Aspekte des Allesessens und belegt: Außer des Geschmacks und dem Hunger, unter dem wir schließlich nicht leiden müssen, gibt es keinen guten Grund, Fleisch aus Massentierhaltung zu essen, dafür viele dagegen. So ist „Tiere Essen“ kein Manifest des Vegetarismus oder Veganismus, sondern Dokument einer persönlichen Übung in Verzicht, ein Plädoyer gegen Massentierhaltung und –fischerei und ein Denkanstoß zur bewussteren Ernährung. Wegen des ausführlichen Anhangs des VEBU zur Sachlage in Deutschland trotz holpriger Übersetzung unbedingt als deutsche Ausgabe lesen. Und dann überlegteren Guten Appetit.

Aus dem amerikanischen Englisch von Isabel Bogdan, Ingo Herke und Brigitte Jakobeit. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2010. 399 Seiten,19,95 Euro

(gekürzt erschienen in: zitty 2/2011, 13. Januar, Seite 32)

Ein washechter Berliner

Im achso hippen Berlin gilt es ja nicht mehr als allzu hip, über Hipster zu lachen. Zu der Zeit, in der Beobachtungen über solche Szenemenschen noch „unique“ waren und der Trend nach dem Bionade-Biedermeier erst langsam als solcher erkannt wurde, gab es noch gar keinen Namen. Dann sprachen sie alle darüber, erst in Mitte, dann von Prenzlauer Berg bis Neukölln, und man musste sich fragen, ob es diese dann so genannten Hipster selbst waren, die sich hochstilisierten. Übergroße Fensterglasbrillen und Schals, neonfarbene Leggins von American Apparel, V-Ausschnitte bis zum Bauchnabel, T-Shirts mit ironischen und verwaschenen Aufdrucken, gürtelbreit abgeschnittene Jeans, you name it: Die modischen scheinbaren Fehlgriffe sind aus dem Stadtbild nicht mehr wegzudenken, neuerdings gibt es sogar eine kritische Hipster-Vertretung. Eine Parallelgesellschaft schlägt zurück.

Einer von denen: Blogger und Buchautor Wash Echte auf seinem Twitter-Profilbild @washechte

Aber wenn es nur die Äußerlichkeiten wären: „Wahre ‚Hipster‘ würden sich selbst nie so nennen“, sagt Wash Echte. Und dieser Wash Echte, über den ich nur und neuerdings weiß, dass er ein 30-jähriger gebürtiger Europäer mit der Muttersprache Englisch ist, nach dreijährigem Studium in Hongkong 2003 nach Berlin zog, erst in eine WG in Prenzlauer Berg, dann nach Friedrichshain („Leider hat sich die Berliner Elite nach dem Prenzlberg ja Friedrichshain als nächstes Ziel ausgeguckt. Neukölln? Ist sowas von Mainstream. Da wohnen nur noch Anwälte und Zahnärzte. Wedding ist das neue Ding!„), und in einer Firma arbeitet, die mit Internet zu tun hat, er aber dort was „technisch/mathematisches“ und „nichts mit Webdesign“ macht, dieser Wash Echte also muss es wissen: Seit über einem Jahr bloggt er anonym über „Ze Elite Germans“ auf ichwerdeeinberliner.com. Jetzt ist das dazugehörige Buch mit 21 neuen Geschichten und in deutscher Sprache erschienen, und man kann und muss sich und ihm ein paar Fragen stellen. Zum Beispiel: Ist das Thema noch nicht durch? Ist anonymes Bloggen feige? Was hat Berlin-Mitte mit dem Rest von Deutschland zu tun? Für die zitty habe ich mit Wash Echte ein Chatinterview geführt, das ich an dieser Stelle fast ungeschnitten raushaue – und mich freue, endlich einen Grund zu haben, die gesammelten Hipsterlinks zu posten, die ich ja dann irgendwie doch immer lustig fand. (mehr …)

Halt dich von den Zügen fern

Lucius Shepard bereist den Mythos vom „Hobo“ in den USA

Der Drang nach Aufbruch und Reise ist so alt wie die Menschheit selbst. Die Industrialisierung des 19. Jahrhunderts aber überholte bald die Utopie einer für jedermann erreichbaren Welt außerhalb der eigenen Siedlung: Die Erschließung des nordamerikanischen Landesinneren durch Eisenbahnschienen folgte der Erfindung der Dampfmaschine. Die Weite der Prärie wurde, als bis dahin große Unbekannte, auf diese Weise entmystifiziert; nach dem amerikanischen Bürgerkrieg befeuerten heimkehrende Soldaten und Wanderarbeiter ein aufkommendes Bild vom einsamen Reisenden.

Landstreicher nannten die Waggons der Güterzüge fortan ihr einziges Zuhause. Die Subkultur sogenannter Hobos entstand, und mit ihr ein neuer Mythos des romantischen, freien Wanderers. Doch wurden ihm nicht allein territoriale Grenzen gesetzt. Auch das Industriezeitalter lief aus. Das Leben eines Hobos hat heutzutage mit Romantik nicht mehr viel gemein: er schläft meist nicht in Waggons, sondern unter Brücken, in Obdachlosenheimen oder im Gefängnis. Sein Drang nach Aufbruch und Freiheit verkommt zum Selbstzweck oder hat sich ins Gegenteil verkehrt.

In dem Buch „Hobo Nation“ erzählt Lucius Shepard, von Haus aus Fantasy-Autor, erstmals die lange Version seiner Geschichte als Teilzeit-Tramp. Im Auftrag des Spin-Magazins zog er Mitte der neunziger Jahre aus, entlang der Gleise im Mittleren Westen der USA die Wege der Hobos zu ergründen. Zurück kam er mit der „FTRA-Story“. Die Gefährlichkeit dieser Unternehmung nämlich war gleichzeitig ihr Anstoß: Man erzählte sich, eine organisierte Bande namens „Freight Train Riders Of America“ – FTRA – treibe an den Bahngleisen ihr Unwesen.

Lucius Shepard also campierte, fuhr und trank mit den Outlaws dieser anachronistischen Subkultur, aber er fand kaum mehr als das Hobo-Klischee bestätigt, dessen sich seit Woody Guthrie bis heute zahllose Bluesmusiker bedienen. Madcat, Sidetrack, Missoula Mike, Mississippi Bone, wie sie sich auch nennen, sie alle identifizieren sich gleichermaßen als Vertriebene und als freiwillig in die Weite Aufgebrochene. Hunde und Schnaps sind ihre besten Freunde in einem Alltag, den Geselligkeit und Einsamkeit, vor allem aber auch Gewalt fremdbestimmt.

Medienberichte über hässliche Zwischenfälle wie Vergewaltigungen und Morde Einzelner schüren in der „zivilisierteren“ Welt der Städte und Vorstädte die Angst vor einer „Hobomafia“ und ein falsches Bild der eigentlich friedfertigen Tramps. Auch das ist freilich ein Topos des ausgehenden 19. Jahrhunderts, der Ära der Posträuber. Jules Verne schrieb darüber, Robert Zemeckis schickte im letzten Teil der Filmtrilogie „Back To The Future“ seinen zeitreisenden Michael J. Fox dorthin zurück.

Der Autor attestiert der chaotischen Natur des Hobo-Lebens einen „grundsätzlichen Mangel an Kompetenz“ und entwarnt im Laufe seiner Reportage: die FTRA existiere allenfalls in loser Form. Im Suff verbrüdert er sich gar mit zwielichtigen Wanderlustigen, sodass Shepard im holprig übersetzten Vorwort das schrecklich romantische Fazit zieht, das auch eines unserer postmodernen Mobilität ist: Wenn niemand mehr all die schönen Orte im Landesinneren, und seien es nur „die schwachgewordenen Augen von Betrunkenen“, sehe, so gleiche das wieder jener unvollendeten Darstellung des Kontinents, die „vor einem Jahrhundert als akkurat angesehen wurde“, als wären also Teile der Landkarte einfach verschwunden. Hieße das etwa, Urbanisierung und Landflucht katapultierten uns zurück ins Zeitalter vor Magellan und Kolumbus? Als die Karten gezeichnet, aber noch nicht mit Inhalten gefüllt waren?

Landstreicher und Freizeitspaß

Shepard selbst, nun wieder Schriftsteller, lässt nach seinem journalistisch motivierten Drang ins Landesinnere, nach Auszug und Erzählung, wieder seiner Phantasie, seinem Drang ins eigene Innere, freien Lauf. Sein temporäres Hobo-Leben inspirierte ihn zu der Novelle „Drüben“. In einer Fantasywelt, näher an Harry Potters Hogwarts als am Schauplatz Klamauk Falls, erwachen die Güterzüge selbst zum Leben, werden von menschlichen Drachenwesen angegriffen, findet die Hobokultur ihr jenseitiges Äquivalent in Paralleluniversen voller Monster, voller Lethargie und Utopie, und Shepard bebildert seine Erkenntnisse als Hobby-Philosoph. Stoff genug für einen eigenen Roman.

Die Hunde und die Züge aber bleiben eine Konstante, in „Die Ausreißerin“, der letzten und jüngsten Erzählung und einzigen Erstveröffentlichung in „Hobo Nation“, wie auch im echten Leben der Landstreicher, das mit Kerouac und Hemingway nur noch die verblassende Faszination des Fremden und der Selbstbestimmung gemein hat. Heute sind es überwiegend Backpacker und Yuppies, die diese Art von Aufbruch und Heimatlosigkeit als Freizeitspaß verklären. Wenn also selbst diese kolportierte Utopie nur ein Mythos ist, wo soll es dann mit denen hingehen, die wirklich daran glauben? Wäre die Hobokultur noch in ihrer Ursprungsform erhalten, sie müsste dieser Monate Hochkonjunktur feiern: in wirtschaftlichen Krisenzeiten, besonders nach Kriegen und während der großen Depression, stieg die Zahl der Eisenbahn-Tramps bisher noch immer.

LUCIUS SHEPARD: Hobo Nation. Aus dem Englischen von Joachim Körber. Edition Phantasia, Bellheim 2008. 207 Seiten, 18,90 Euro.

(erschienen in: Süddeutsche Zeitung, 15. Januar 2009, Seite 12, Literatur)

Flucht in die Lektüre

Wie der deutsche Buchmarkt von der Krise profitieren will

Alle sind sich einig: 2009 wird ein Krisenjahr. Der Buchmarkt aber, sagt dtv-Geschäftsführer Wolfgang Balk, war in der Vergangenheit von Konjunkturschwankungen kaum betroffen, weder positiv noch negativ. Er expandiere aus anderen Gründen nicht mehr: wegen Konzentration auf Spitzentitel, Filialisierung, gesättigter Märkte und starken Wettbewerbs. „Wir haben keinen Grund zum Jubeln“, warnte Gottfried Honnefelder, Vorsteher des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, noch zu Beginn der Frankfurter Buchmesse im Oktober – und revidierte nach der Messe prompt: der hiesigen Branche gehe es gut.

Im Krisenherd, den Vereinigten Staaten, sah es da schon anders aus: Noch im Oktober 2008 ist der amerikanische Buchmarkt um 27 Prozent eingebrochen. Als Len Riggio, Vorstandsvorsitzender des Marktführers Barnes & Noble, im November von einem so noch nie da gewesenen schlechten Klima in seiner Branche sprach, hatte Double Day Publishing bereits zehn Prozent seiner Mitarbeiter entlassen. Wenig später meldete Barnes & Noble einen flächenbereinigten Umsatzrückgang um 7,4 Prozent. Das Betriebsergebnis von HarperCollins fiel von 36 Millionen Dollar im Vorjahr auf drei Millionen Dollar.

Die deutschen Verlage sehen dem Krisenjahr 2009 dennoch mit kalkulierter Gelassenheit entgegen. „Hätte ich in Amerika ein Geschäft, wäre ich pessimistischer“, sagt Peter Kraus vom Cleff, der kaufmännische Rowohlt-Verleger. Der deutsche Immobilienmarkt sei nie so ü̈berhitzt gewesen wie der amerikanische, die Auswirkungen auf den Buchmarkt ebenso wenig vergleichbar. Bei der lesenden Hälfte der Bundesbürger habe die Literatur einen gefestigten Stellenwert im täglichen Leben, kulturinteressierte Menschen stellten eher den Konsum langfristiger Güter wie Autos oder Fernurlaube zurück. Auch Wolfgang Balk weiß, dass Bücher „die preisgü̈nstigste Freizeitbeschäftigung“ darstellen.

Der Buchhandel habe „ja traditionell von Krisen profitiert“, sagt Hartwig Schulte-Loh, Geschäftsfü̈hrer beim Kulturkaufhaus Dussmann an der Berliner Friedrichstraße. Bücher funktionierten gerade in der Krise als Flucht in eine nachhaltigere Form des Denkens. Um die Steigerung macht er sich keine Sorgen, nur könne es sein, „dass die Krise das ein Stück abdämpft“. Das aber gilt nur für die Konsumseite, auf der Finanzierungsseite geht es profaner zu: Gerade mittlere und kleine Buchläden verdanken ihre Existenz oftmals aufgenommenen Krediten. Blieben diese Kredite, ob wegen fehlendem Kapital oder fehlendem Mut der Banken, nun aus, müssten zuallererst Service und Programm der Händler leiden. Ausbleibende Bestellungen fielen so mittelfristig auf die Verlage zurück. Im übrigen ist die Krise durchaus auch im deutschen Verlagswesens angekommen. So steht beispielsweise der breit aufgestellte Weltbild-Verlag seit Juli zum Verkauf, die weiter laufenden Verhandlungen werden „durch die weltweite Finanzkrise erschwert“, sagt Aufsichtsratsvorsitzender Klaus Donaubauer.

Große belletristische und Publikumsverlage wie S. Fischer, Hanser, Kiepenheuer & Witsch oder Ullstein schreiben ihre schwarzen Zahlen mit einer Spitze von vielleicht zehn Prozent aller Titel, die sie publizieren. Mit anderen Worten:Mehr denn je ist der deutsche Buchmarkt von seinen Bestsellern abhängig. Und gerade die Romane laufen weiterhin gut: Carlos Ruiz Zafón, Christopher Paolini, Uwe Tellkamp.

Diese Entwicklung weist zwei mögliche Wege aus der Krise, falls sie denn doch einschlüge: Konzentration oder Differenzierung. Im wahrscheinlicheren und bereits praktizierten Szenario müssen sich die Verlage zunehmend uüberlegen, ob und wie sie ihre Programme reduzieren. Kochbü̈cher, Reisefü̈hrer und andere Erweiterungsbereiche, deren vergleichbare Inhalte man aus dem Internet beziehen kann, würden eingedämmt.

Schulte-Loh würde diese „Bereinigung des Buchmarktes auf Produzentenseite“ begrü̈ssen. Eine Konsolidierung wü̈rde manchen, eine stärkere Fokussierung auf Qualität im Buchmarkt allen gut tun. Auch eine solche Entwicklung aber enthielte Gefahren: Wenn Breite und Vielfalt zugunsten einiger weniger Titel zurückgehen, werden Nischeninteressen nur noch rudimentär bedient. Wirtschaftlich wäre das vermutlich. Imagebildend nicht. Auch deshalb will Rowohlt diesen Weg nicht mitgehen. „Wir leben davon, ständig Neues zu entdecken und zu entwickeln“, erklärt Kraus vom Cleff. „Verlegen
ist ein innovativer Prozess.“

Aufzuhalten ist der Konzentrationsprozess kaum. Die fünf größten Filialisten sind derzeit für ein Viertel des deutschen Bü̈cherumsatzes verantwortlich. Die Not kleiner Fachhandel aber hat freilich auch andere Ursachen als eine Finanzkrise: So lag der Umsatz von Internet-Buchhändlern, allen voran amazon.de, schon 2007 laut Börsenverein bei 850 Millionen Euro. Das macht 21 Prozent Steigerung und einen Anteil am Buchmarkt von 8,9 Prozent aus. Im Sortimentsbuchhandel lag der Umsatz 2007 bei 9,6 Milliarden Euro.

Das Weihnachtsgeschäft macht durchschnittlich 23 Prozent des Jahresumsatzes im Buchhandel aus und lief 2008 trotz der publizistischen Allgegenwart der Finanzkrise im stationären deutschen Buchhandel gut. Wie unabhängig der deutsche Buchmarkt von der globalen Krise wirklich ist, wird sich erst 2009 zeigen.

(erschienen in: Süddeutsche Zeitung, 8. Januar 2009, Seite 11, Feuilleton)

Apokalypse am Harvard Square

Mit „Out Of Town News“ schließt viel mehr als nur ein Kiosk

Der Zeitungskiosk „Out Of Town News“ in Cambridge, Massachusetts, wird nach 53 Jahren geschlossen. Der Pachtvertrag zwischen Hudson News und der Stadt läuft zum 30. Januar 2009 aus. Statt Presse, Schreib- und Tabakwaren könnten in dem historischen Ladenlokal bald Fahrräder zum Verkauf stehen, verkündete der Stadtrat. Bis hierher nichts Ungewöhnliches, möchte man gerade in Zeiten finanziellen Notstands und Digitalisierung des gemeinen Leseverhaltens meinen. „Out Of Town News“ aber ist nicht irgendein Kiosk. Seit 1955 galt er als der Anlaufpunkt für Akademiker, Studenten und andere Wissbegierige, um sich auch über die Mauern ihrer berühmten Universitätsstadt hinaus ein Bild von der Welt zu verschaffen – durch Erwerb und Lektüre der French Vogue, der Times Of India oder der Süddeutschen Zeitung beispielsweise. 1994 verkaufte Gründer Sheldon Cohen seinen Kiosk an die Kette Hudson News.Die Schließung einer solchen Institution ist also erstmal bedauerlich, aber doch wohl noch lange kein Weltuntergang. Oder?

Der Anfang vom Ende wurde bereits 1985 wie folgt aufgeschrieben: „Als ich zu dem Eckgeschäft kam, war die übliche Frau nicht da. Stattdessen stand ein junger Mann hinter dem Ladentisch. Ist sie krank? fragte ich, als ich ihm meine Karte gab. (. . .) Tut mir leid, sagte er. Diese Nummer ist nicht gültig.“ So erinnert sich die Dienerin Desfred in der von Margaret Atwoods verfassten und von Volker Schlöndorff verfilmten Utopie „A Handmaid’s Tale“ an den Tag X ihrer Zeit vor der Sklaverei im totalitären Regime der gar nicht allzu fernen Zukunft. Von diesem missglückten Zigarettenkauf an kippt die Welt aus den Angeln: Die Konten aller Frauen werden gesperrt, Desfred verliert ihren Job und ihr altes Leben. Zeitungen verschwinden, und mit ihnen Desfreds Erinnerung an deren und den Namen des Ladens. Die im Roman beschriebene visionäre Szenerie sowie Atwoods Biografie aber lassen keinen Zweifel: Die Apokalypse der bekannten Welt beginnt am Harvard Square.

Vielleicht ist es Zufall, dass die Schließung des kleinen Kiosks mit den großen Hiobsbotschaften der Finanzkrise zusammenfällt. Vielleicht aber erleben Harvard, die Wall Street und die Welt die leibhaftige Einäscherung einer niedergeschriebenen Utopie. Reihenweise lösen amerikanische Bürger dieser Monate Konten auf, solange noch was zu holen ist. Die stillen Machthaber unserer noch gegenwärtigen Gesellschaft, die Broker und Aktionäre, gehen mit unter. In „Gilead“, Atwoods neuem Amerika, rafft es jeden dahin, der zur Fortexistenz des Systems keinen Beitrag leisten kann. Was ihnen und unserer Welt im kommenden Jahr blüht, wagt niemand so Recht zu erahnen. Fakt ist: Selbst an der nur einen Steinwurf vom „Out Of Town News“ entfernten Harvard University wird das Geld knapp (siehe SZ vom 10. Dezember). Wenn das kein Zeichen ist, was dann?

(erschienen in der Süddeutschen Zeitung, 16. Dezember 2008, S. 11, Feuilleton)