Tod in der Weißen Nacht

Zum 30. Jahrestag des Massenselbstmordes von Jonestown gibt es neue Dokumente

Die Utopien starben in der Nacht des 18. November 1978 in Jonestown. Der Massenselbstmord der Sektenmitglieder traf Amerika tief, denn er stellte so vieles in Frage – das Ideal der Gründerväter von einer Neuen Welt als Zufluchtsort der freien Religionen, die Hoffnungen der Hippiegeneration mit einem Ausstieg aus der bürgerlichen Gesellschaft eine gerechtere Welt zu schaffen. „Liebe Leute“, eröffnet Phyllis Chaikin ihren Eltern noch am 15. April 1978 in jetzt aufgetauchten Schriftstücken, „ich bin überglücklich, dass Gail und David in einer Kommune aufwachsen, die ihre Ideale unterstützt. Ihr wäret stolz, wie stark und unabhängig sie sind. Ich arbeite jetzt als Krankenschwester.”

Als Phyllis Chaikin diese Worte verfasst, lebt die 39-jährige Tochter von Herbert und Freda Alexander seit drei Jahren in Jonestown. Mit ihrem Mann Gene, ihren zwei Kindern sowie über tausend weiteren Anhängern der „Peoples Temple“- Sekte folgt sie ihrem Führer Jim Jones erst in die selbst erbaute Zufluchtssiedlung im südamerikanischen Guyana, ein halbes Jahr nach ihrem Brief an die Eltern in den frei erwählten Tod.

30 Jahre nach den Ereignissen des 18. November 1978, die als „Weiße Nacht“ in die Kriminalgeschichte Amerikas eingingen, findet ein Handwerker im Keller des Hauses der Familie Isaacson in Los Angeles, einen Koffer. Der Inhalt: Zeitungsberichte über den religiösen „Peoples Temple“-Kult und Briefe von Phyllis, Gail und David Chaikin. Erst 1992 zog das Ehepaar Alexander aus dem Haus aus, in dem ihre einzige Tochter aufwuchs. Familie Isaacson zog ein. Die Briefwechsel, Barry Isaacsons Recherchen sowie lange unter Verschluss gehaltene FBI-Akten untermauern nun die durch Berichte von Überlebenden und Fernsehdokumentationen gestützten Vermutungen, dass der berüchtigste religiöse Massenfreitod in der amerikanischen Geschichte so frei gar nicht war.

Der Kalte Krieg und das psychologische Tief nach dem Wirtschaftswunder treibt suchende Seelen in die Arme und Lehre des „Peoples Temple“. 1972 lernen die Chaikins den kommunistischen Prediger Jim Jones aus Indianapolis und seine Vision von einer altruistischen Welt ohne Rassismus kennen.

Jones, der sich selbst als eine Art „Elvis Presley der Religion“ sieht, untersagt seinen Jüngern jeglichen Kontakt zu Familie und Freunden. Sie nennen ihn Vater, doch nach seinem raschen Aufstieg werden erste öffentliche Zweifel laut. Ein Jahr nach Beitritt der Chaikins gerät sein 1956 begründeter Kirchenersatz zunehmend in Verruf. Jones sei ein Scharlatan, der Wunderheilungen vortäusche und den Mittleren Westen der USA vom drohenden nuklearen Holocaust erretten wolle. Er kultiviert eine Religion der Angst. Schließlich verbarrikadiert er sich und seinen „Peoples Temple“ 1975 im guyanesischen Jonestown.

Zyankali für die Kinder

Phyllis, längst zu Jones’ Mitdenkerin aufgestiegen, während sich in anderen Jüngern ebenfalls Zweifel an der nie gewollten Diktatur und Sklaverei regen, plant den Massenselbstmord in einem Brief an ihren Übervater mit erschreckendem Kalkül: „Dad. Diejenigen unter uns, die sich einem revolutionären Selbstmord verweigern, um ihren Arsch zu retten, werden zu ihrem Todesort eskortiert (ich traue niemandem, seinen eigenen Tod zu arrangieren, aber mit Druck von außen und ohne Alternativen sollte es funktionieren). Ein Kopfschuss, im Zweifel ein Skalpellschnitt durch den Hals. Ich helfe, falls es notwendig wird. Die Leichen werfen wir in ein Loch. Es könnte hilfreich sein, den Leuten vorher die Augen zu verbinden, damit das Blut und die leblosen Körper ihrer Vorgänger ihre Beunruhigung nicht steigern.“

Was am Abend des 18. November 1978 wirklich geschah, bleibt im Dunkel. In den Monaten zuvor rief Jones die „Weiße Nacht“ mehrfach aus, verteilte den Punsch aus Brausepulver der Marke Kool-Aid ohne Gift, um die Loyalität seiner Anhänger zu prüfen.

Nach einem Fluchtversuch und einer mutigen wie gefährlichen Aufbegehrung von Jones’ Consigliere Gene Chaikin eskaliert die Lage: Der kalifornische Abgeordnete Leo Ryan will sich ein Bild von Jonestown machen, fliegt am 14. November nach Guyana. Die Glückseligkeit im scheinbaren Paradies ist nichts mehr als eine Inszenierung. Einzelne Bewohner riskieren ihr Leben und das ihrer Kinder, stecken dem Politiker Hilferufe zu, bitten um Befreiung aus den Fängen eines Wahnsinnigen. Jones erfährt davon, Ryan und sein Team werden angegriffen und während ihrer Flucht erschossen. Jones, mittlerweile selbst Vater eines Sohnes, verkündet die endgültige „Weiße Nacht“. Tonbandaufnahmen belegen Jubel, Aufruhr und Schüsse. Über 250 Kinder, die den tödlichen Zyankali-Fruchtpunsch nicht trinken, werden erschossen. Mindestens 913 Menschen sterben in dieser Nacht, durch Selbstmord oder Mord. Augenzeugen berichten später, dass unter der Gruppe, die die Giftmischung an die Sektenmitglieder verteilte, auch Phyllis Chaikin war.

Das Massaker von Jonestown markiert keineswegs den letzten gemeinsamen Selbstmord einer Sekte. In das kollektive Gedächtnis der Amerikaner aber hat es sich eingebrannt wie kein zweites. Es gibt bis heute eine stehende Redewendung, dass jemand „Kool-Aid“ getrunken habe, wenn er blind an eine Sache glaubt. Herbert und Freda Alexander ist damit freilich nicht geholfen. „Falls Reverend Jones und der ‚Peoples Temple’ gegen das biblische Gebot ‚Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren’ ist,“ schreibt Vater Herbert seiner Tochter ein Jahr vor der „Weißen Nacht“, „so liegt es an dir, jeden Kontakt mit deiner Familie für immer abzubrechen. Wir haben nur ein Recht, von dieser Entscheidung zu erfahren. Die Vergangenheit ist in dem Moment vergessen, an dem du zurückkehren willst.“ Phyllis kam nicht wieder.

(erschienen in: Süddeutsche Zeitung, 18. November 2008, Seite 12, Feuilleton)

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