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Obdachlos: Selbst beim Sterben übersehen werden

Jeder sieht und jeder übersieht sie: Obdachlose. Über unsere zwei Nachbarn auf dem Bürgersteig und die Frage, wie man helfen kann und soll oder nicht.

+++ Dieser Text erschien zuerst auf meinem anderen Blog www.newkidandtheblog.de +++

Obdachlos auf der Straße überlebend – Symbolfoto (Photo by Jon Tyson on Unsplash)

Jeden verdammten Tag hocken sie da auf ihren Matratzen wie ein lebendiges Mahnmal und starren ins Leere. Michael und Łukasz aus Polen „wohnen“ seit Monaten in Kreuzberg auf dem Bürgersteig zwischen unserer Haustür und dem Supermarkt an der Ecke. Sie sind freundlich, ruhig, halten ihre Ordnung, schlafen auch tagsüber oft und bewegen sich kaum einen Meter. Eigentlich sind sie Nachbarn, wie sie sich jeder wünscht. Nur ohne festes Dach über dem Kopf. Ich grüße, sie grüßen zurück. Mal werfe ich zwei Euro in ihren Pappbecher, mal frage ich, ob ich ihnen was beim Einkauf mitbringen könne. Eine Flasche Wasser? Gerne. Einen Tee? Klar. Nach mehr fragen sie nicht. Manchmal sitzt nur einer von beiden da, manchmal kriegen sie Besuch von einem dritten Obdachlosen. Oft haben sie ein Bier in der Hand. Wer könnte es ihnen verübeln: Ich würde auch tagsüber saufen, wenn ich mich an sonst nichts mehr festhalten könnte.

Als die Kinder sie im Spätsommer auf dem Fußweg der Parkinsel schlafen sehen, kommentiert mein sechsjähriger Sohn, dass sie wohl tot seien. „Nein nein, die schlafen nur!“, beschwichtige ich. Einmal, an einem anderen Nachmittag, liegt Michael regungslos an der Fußgängerampel. Jetzt ist er wirklich tot, denke ich für eine Sekunde und vergewissere mich beim Supermarktkassierer vom wahrscheinlichen Gegenteil: Vor einer Stunde habe der hier noch ein Bulettenbrötchen gekauft und sei vermutlich nur besoffen, heißt es.

Ein anderes Mal, an einem Abend im November, sitzt Michael mit Pappbecher und tief ins Gesicht gezogener Kapuze vorm Supermarkteingang. Ob ich ihm was mitbringen könne, frage ich – er verneint. Ein paar Euro, um sich selbst was zu kaufen, will er auch nicht annehmen. Stattdessen nimmt er meine Hand. Er zeigt zu seiner 20 Meter entfernten Matratze und zieht sich an mir hoch. Ich verstehe endlich, helfe dem bestimmt 1,90 Meter langen Schlacks auf seine kaputten Beine und stütze ihn: Der arme Kerl kann kaum alleine gehen.

Wie jemandem helfen, dem man endgültig gar nicht helfen kann?

Michael und Łukasz aus Kreuzberg sind zwei von Schätzungen zufolge 4000-10000 Obdachlosen in Berlin. Wie viele es wirklich sind, wird man wohl nie wissen, etwas genauer aber nach der geplanten Obdachlosenzählung Ende Januar 2020. Sie leben von einem Tag auf den anderen.

Kältebus oder Wärmebus rufen – wenn Obdachlose das so wollen

Wenige Tage später, ein Sonntagabend Anfang Dezember. Für die bevorstehende Nacht wurden Minusgrade angekündigt. Es ist 20 Uhr, stockfinster. Łukasz und Michael kauern da, wo sie immer kauern. Ich will nicht länger passiv bleiben, rufe von unserer warmen Wohnung aus die Mobilnummer des Kältebus Berlin an und erreiche dessen Mailbox: Täglich ab 21 Uhr nehme man Anrufe entgegen. Versuche es also eine Stunde später wieder, höre 20 Minuten nur das „Besetzt“-Geräusch und spreche gegen 21:30 Uhr endlich mit einer Mitarbeiterin. Schildere mein Anliegen. Ob ich die Obdachlosen denn gefragt hätte, ob sie vom Kältebus mitgenommen werden wollen, fragt sie. Natürlich nicht, antworte ich. Erstens schlafen sie gerade, das kann ich vom Wohnzimmererker aus sehen. Zweitens dachte ich, es wäre Aufgabe des geschulten Teams der Stadtmission, Bedürftige davon zu überzeugen, dass sie Hilfe brauchen, so steht es doch auf ihrer Homepage: Die Kältebus-Mitarbeiter versuchten demnach zunächst mit Obdachlosen „ins Gespräch zu kommen, bieten ihre Hilfe, eine Tasse heißen Tee oder einen warmen Schlafsack an.“ „Wir fahren nicht durch die halbe Stadt und dann wollen die Obdachlosen gar nicht mit“, erfahre ich am Telefon. Zeit- und Kapazitätenmangel als Argument, nicht zu kommen? Verstehe ich nur aus Gründen der Effizienz beziehungsweise Überlastung, nicht der Menschlichkeit. Und klar, stimmt, soll auch niemand bevormundet werden. Der Kältebus im Singular jedenfalls, so lerne ich, ist offenbar fast wörtlich zu verstehen: Sein Name steht nicht für eine Flotte von Kältebussen, die wie wärmende Engel durch Berlin schweben, sondern für lediglich zwei Kältebusse.

Am nächsten Tag gehe ich so vor, wie empfohlen: Ich spreche Łukasz und Michael gegen 17:45 Uhr an und frage, ob sie den Kältebus kennen und ich ihn später rufen soll. Ja, kennen sie, sagt Łukasz, und „gerne“. Er kramt einen Zettel aus seiner Jackentasche hervor und zeigt mir die Nummer des Wärmebus, den es wohl auch gebe. Kenne ich nicht und erfahre dank Google, dass der wiederum ein Angebot der Kältehilfe des Deutschen Roten Kreuz ist und täglich schon ab 18 Uhr erreichbar ist. Rufe an, berichte, dass ich gerade neben zwei Obdachlosen stehe und sie sich über Hilfe freuen würden und erfahre, dass der Wärmebus gerade am Alex sei und die beiden in rund einer Stunde gerne abhole und zu einer Notunterkunft bringe.

Am nächsten Morgen treffe ich Michael allein an. Sein Vivantes-Armband verrät mir, dass er die Nacht offenbar im Krankenhaus verbrachte. Warum er dort landete, was gemacht wurde und wie er wieder hier her kam, erfahre ich wegen der Sprachbarriere nicht. Er spricht nur polnisch.

Was trieb sie auf die Straße, was hält sie dort? Fragen wie diese würde ich gerne stellen, schäme mich als Wohlstandsbürger aber vor dieser Art des herablassenden Voyeurismus, der dabei mitschwingen könnte. Antworten würde ich von Michael zudem eh keine kriegen. Łukasz aber, wie ich am nächsten Abend feststelle, als ich mich im ausgiebigeren Smalltalk versuche, spricht fließend deutsch. Nachdem er über meinen „New Kids On The Block“-Pulli gelacht und sich an die Backstreet Boys und Robbie Williams erinnert hat, erzählt er mir von sich und Michael. So erfahre ich auch ihre Namen.

„Ich bin sein einziger Freund“

Łukasz ist 37 und hat keine Vorderzähne und keine Familie („alle tot“) mehr. Er hat sich als Obdachloser schon in Neapel durchgeschlagen und seit ein paar Jahren eben in Berlin. Er trinke nichts mehr, vielleicht ein Bier in der Stunde, aber keinen Schnaps. Früher sei das öfter passiert: „Ich habe mal 13 Tage nichts gegessen, nur getrunken“, erinnert er sich nüchtern, falls das in diesem Zusammenhang das richtige Wort ist. Łukasz ist wach, mobil und hält seine notdürftige 2-Mann-WG zusammen. Sein Kollege Michael ist 34 (sieht aber 15 Jahre älter aus) und ärmer dran. Er wuchs im Kinderheim auf und lebt seit 13 Jahren auf der Straße. Er habe nicht nur ein Alkoholproblem, sondern auch eines mit dem Kopf („Ich rede manchmal zehn Minuten mit ihm und er hat mir gar nicht zugehört!“) und, wie ich schon ahnte, mit den Beinen. Eine Nacht im Krankenhaus helfe ihm kaum, zumal er das Bett für wirkliche Notfälle besetze. Wenn er morgens nicht gleich Alkohol trinke, müsste er kotzen. Seinen Schnaps kriegt er jetzt manchmal von Łukasz, aber in dosierten Mengen. „Du bist sein Sozialarbeiter!“, sage ich zu ihm, um einen Witz bemüht. „Nein“, antwortet Łukasz, „ich bin sein einziger Freund.“

Seitdem rede ich immer wieder mal mit unseren Nachbarn. Über die Qualitäten und Mängel der verschiedenen Notunterkünfte, in denen sie nun fast jede Nacht Unterschlupf finden. Über Alkohol, Drogen oder darüber, warum Michael neulich selbst einen Krankenwagen rufen ließ (Kreislauf, Grippe, kaputter Magen, weil er tagsüber nichts isst, leichte Epilepsie). Und was mache ich? Bringe ihnen neben Lammfellen aus dem Kinderwagen eine Flasche guten Wodka aus dem verstaubten Schnapsschrank mit. Sogar Łukasz bekam leuchtende Augen.

Schon klar: Der Suff wird ihnen langfristig nicht helfen. Kurzfristig habe ich ihnen aber immerhin etwas geben können, worüber sie sich neben ein paar Euro wirklich freuen. Warum das vielleicht nicht der verkehrteste Weg ist, wenigstens für einen Moment und ohne Selbstgefälligkeit zu helfen, hat Micky Beisenherz in seiner „Stern“-Kolumne im Dezember ausführlich geschildert: „Ich habe nicht das Recht darüber zu urteilen, ob ein Obdachloser sich von dem Geld Schnaps kauft. (…) Es ist mir offen gestanden kackegal, was er mit dem Geld macht. Es ist kein pädagogischer Auftrag damit verknüpft. Ich würde mir keine Drogen kaufen. Ich würde auch niemandem sonst zu Drogen raten. Was ich aber noch weniger möchte, ist diesen Mann mit meinen Ratschlägen zu behelligen. Wer zuviel Meinung hat, soll ins Internet gehen – die Leute auf der Straße brauchen nur unsere Zuwendung. So wie alle anderen auch.“

Wie beide auf der Straße landeten und ob es Versuche oder Hilfestellungen gibt, dort wieder weg zu kommen, habe ich noch immer nicht gefragt.

Und während ich in meiner beheizten Wohnung sitze und als vom Glück bedachter Wohlstandsbürger diesen trotz jedes Versuchs von Selbstlosigkeit selbstgefälligen Text schreibe, frieren die beiden 50 Meter weiter weiter. Ein Leben von Tag zu Tag. Ohne Perspektive. Verhungern und verdursten müssen sie, vor den Augen oftmals spendabler Supermarktkunden und anderer Passanten, nicht. Aber erfrieren oder vereinsamen.

Vor ein paar Wochen wurde in Berlin-Mitte derer gedacht, die einsam in der Großstadt gestorben sind. Menschen, bei denen keine Verwandten ermittelt werden konnten. Wenn das so weitergeht, wird mindestens Michael auch eines Tages dazu gehören. Ich hoffe, dass es nicht so weit kommen muss. Verhindern könnte ich es kaum.

Es bleibt die Frage: Wie jemandem helfen, dem man endgültig gar nicht helfen kann? Die „Vice“ hat sich und Betroffenen einst die gleiche Frage gestellt und ein paar Antworten erhalten.

  • Telefonnummer Kältebus von der Berliner Stadtmission: (0178) 523 58-38
  • Telefonnummer Wärmebus Berlin vom DRK: 030 600 300 1010

Wer wirklich etwas über Obdachlosigkeit in Berlin erfahren und helfen will, dem empfehle ich unter anderem das Radio-Interview von Bettina Rust mit Jenny de la Torre Castro, 65, Ärztin & Gründerin des Obdachlosenzentrums.

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