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In 100 Jahren Rockmusik

Ein Bein im Grunge, das andere in neuer deutscher Popmusik: Selig galten als hoffnungsvollste deutschsprachige Band der neunziger Jahre – bis ihnen der Erfolg und ihre Egos über den Kopf wuchsen. Seit ihrem letztjährigen Comeback beeilen sich die fünf geläuterten Hamburger trotzdem nicht, keine Zeit zu verlieren. Schließlich „wird Rockmusik auch in 100 Jahren noch da sein“, sagt Sänger Jan Plewka. Eine Bestandsaufnahme.

Christian Neander sitzt auf der Couch und wartet auf seine neuen alten Freunde. Die Haare und Lederjacke offen, das Gesicht glattrasiert. Mit seinem Smartphone sucht er W-Lan und ist ansonsten die Ruhe selbst. Im fürstlichen Kaminzimmer des Münzsalons in Berlin-Mitte residierte der Gitarrist und Songschreiber mit seiner Band Selig schon öfter für Interviews, auch weil es „schön ruhig hier“ ist. In der Selbstbeschreibung des Salons fallen Sätze wie „Modernes Interieur trifft auf nostalgische Substanz“ oder „Funktionales Design integriert sich reibungsfrei in antike Pracht“, sie könnten auch Selig damit meinen. Es ist ein Raum wie eine Band, wie sich in der nächsten Gesprächsstunde herausstellen wird: bedacht, erhaben, ein bisschen von gestern, ein bisschen im heute, in der Mitte angekommen. Heute, elf Jahre nach ihrer einstigen Trennung, geht es um Seligs fünftes Album „Von Ewigkeit zu Ewigkeit“, ihr zweites nach dem letztjährigen Comeback.  Es ist mit Ausnahme des heute verhinderten Bassisten Leo Schmitthals „das erste Interview mit der ganzen Band seit Ewigkeiten“, wie die geschätzten Enddreißiger Jan Plewka (Gesang, Gitarre), Malte Neumann (Keyboards), Stephan „Stoppel“ Eggert (Schlagzeug) feststellen, als sie sich zu Neander setzen. Für andere Bands sind Gesprächskonstellationen nur eine Zeit- und Prioritätenfrage. Für Selig, mit ihren Alben „Selig“ (1994), „Hier“ (1995) und „Blender“ (1997) eine der national erfolgreichsten deutschsprachigen Rockbands der neunziger Jahre, vor allem eine Frage der Egos.

"Modernes Interieur trifft auf nostalgische Substanz": Selig im Jahre 2010 (Foto: Matthias Botor)

Im deutschen Roadmovie „Knocking On Heaven’s Door” gibt es diese eine sentimentale Szene, in der Jan Josef Liefers als krebskranker Rudi Wurlitzer seinen letzten Wunsch beschreibt: „Ich möchte einmal das Meer sehen“. Im gleichen Moment schlagen Selig aus dem Off die Akkorde von Bob Dylans „Knocking On Heaven‘s Door“ an. Das war 1997. Als Selig den Soundtrack zu diesem für sie wie gemachten Film ablieferten, hatten sie den Höhepunkt ihres damaligen Schaffens rückblickend schon hinter sich. Die Singles „Ist es wichtig?“ und „Wenn ich wollte“ rotierten im Radio, auf MTV und landeten auf so verschiedenen Samplern wie „Bravo Hits“ oder „Crossing All Over“, ihre Touren waren ausverkauft. Der Trubel war von Selig nicht anders gewollt. „Wir wollten mit deutschen Texten international klingen. Das war unser großer Anspruch“, erinnert sich Plewka heute daran und hat eine Erklärung für den Erfolg: „Dass im Radio die Red Hot Chili Peppers liefen und danach Selig zeigt, wonach sich die Jugend gesehnt hat. Nach emotionalen Rockbands, die nicht  Die Toten Hosen oder Die Ärzte waren.“

Dieser jeden Moment bevorstehende absolute Durchbruch, der nie eintrat, stieg Selig zu Kopf. Man muss sich nur mal Videos alter Auftritte angucken, zum Beispiel vom Bizarre-Festival 1996, auf dem sie neben anderen deutschen Bands wie Such A Surge, Tocotronic, den Toten Hosen, Rammstein oder Mr. Ed Jumps The Gun auftraten. Mit langen Mähnen und offenen Hemden posen Selig dort, als wären sie die Chili Peppers höchstpersönlich. Plewka, der einzige mit kahlgeschorenem Kopf, kann seine genugtuende Freude kaum verbergen, als er die Herzschmerz-Trennungs-Ballade „Ohne Dich“, ihren bis heute größten Hit, anstimmt, und rund 20.000 Zuschauer an seinen Lippen hängen. Von dort an stand fest: Das hier ist was Großes. Und etwas Gefährliches.
http://www.youtube.com/watch?v=xmRK3NMZO-k
„Vielleicht merkst Du es: Das sind schon große Egos, die ihren Platz brauchen“, erklärt ein entspannter Jan Plewka mit freundlichem Hamburger Dialekt die damalige und heutige Bandsituation, während er sich seine übergroße Reggae-Strickmütze gerade rückt. „Diesen Platz haben wir uns damals gegenseitig nicht mehr eingeräumt. Ich dachte, ich könnte die anderen Typen in der Band alle verändern. Heute respektieren wir uns. Wenn Malte einen Alltag braucht, sage ich nicht mehr, dass er spinnt und ‚doch Künstler sein‘ müsse. Und Malte stört es nicht mehr, dass ich Alltag fürchterlich finde.“

Einen Mindestalltag ohne Selig haben alle fünf Musiker in der Zwischenzeit gefunden und finden müssen. Plewka und Eggert gründeten erst Tempeau, später Zinoba, Neumann tüftelte, Neander schrieb Songs für Echt, Niels Frevert, Cinema Bizarre oder Heinz Rudolf Kunze und gründete die Band Kung-Fu und sein eigenes Studio in Berlin. Familien gründeten sie alle. Die Reunion war neun Jahre so ausgeschlossen wie die Trennung im Rückblick unausweichlich. „Jeder hatte sein eigenes Kraftfeld entwickelt“, sagt Plewka. „Und wenn diese Felder zusammenkamen: Boom.“ Bis, irgendwann im Jahre 2007, Plewka und Eggert bei Neander, Neumann und Schmitthals  anriefen, waren alle mit ihrer neuen Welt zufrieden. Sie trafen sich, redeten fast ein Jahr lang über eine Reunion. „Erst als wir wieder gemeinsam im Proberaum standen, spürte ich, was mir gefehlt hat“, sagt Neander. Und alle legen sie heute einen sehr spürbaren Wert auf ihre neugefundene Balance.

Inszenierung ist die halbe Miete: Christian Neander, Malte Neumann, Jan Plewka, Stephan Eggert, Leo Schmitthals (v.l.)

Jan, über die Zeit vor Eurer Trennung sagtest Du einmal: „Wenn Christian ins Zimmer kam, hatte ich körperliche Schmerzen“. Was denkst Du heute über diese Runde?

Plewka: „Ich bin positiv überrascht. Die Zeit hat uns gut getan. In den vergangenen zehn Jahren haben wir uns selbst gefunden und finden müssen und dabei alle den Traum der Musik über das 27. Lebensjahr hinaus gerettet. Sonst würden wir heute nicht wieder hier sitzen. Am Ende von Selig waren wir nicht wir selbst. Wenn wir heute aus dem Kreis der Band heraustreten, ist jeder Privatperson. Das wussten wir damals nicht besser, weil wir etwas wollten, das wir im Endeffekt auch erreicht haben. Aber die Zeit war abgelaufen.“

Euer Best-Of-Album hieß „Für immer und Selig“, das Comeback „Und Endlich Unendlich“, jetzt titelt Ihr„Von Ewigkeit zu Ewigkeit“. Welches Verhältnis haben Selig zur Zeit?

Neander: „Wir wollen unsere Lebenszeit möglichst bewusst mit Musik und unseren Familien wahrnehmen. Beim Comeback schwang natürlich auch die Ansage „jetzt machen wir für immer Musik“ mit. Das Schöne am Musikmachen ist, dass man sich entfernt und in einer Unendlichkeit bewegt. Bei Liveauftritten löst sich manchmal alles auf. Das ist für mich ein Glücksgefühl. Man beruft sich damit auch auf Ewigkeit.“

Gibt es zeitlose Musik?

Plewka: „Auf jeden Fall. Rocktitel von den Stones, den Beatles, ja, das ist zeitlos. Im Grundgedanken von Rockmusik steckt auch ein sehr spiritueller Wert. Sie kommt vom Blues, der aus der Erde heraus entstand und Urbedürfnisse des Menschen weckt. Akkorde, um weiterzukommen. Ob nun wegen einer Nähe zu Gott,  um Mut zu machen oder eine Erlösungsfantasie frei zu legen. All das ist so bei Rockmusik. Deshalb wird sie auch in 100 Jahren noch da sein.“

Neander: „Es gibt einen Urnenner, der immer wieder auftaucht. Ein Urbedürfnis zu beschreiben wer man ist oder was man ändern will. Diese Urkraft hat Bestand.“

Grunge war auch eine Spielart des Rock. Euer Debüt wurde als deutsche Antwort darauf wahrgenommen.

Neander: „Lustig, in welche Kategorien man damals so gesteckt wurde: „German Grunge“, zum Beispiel. Wenn ‚Selig‘ irgendwo zu zuordnen ist, dann zu den Siebzigern.“

Plewka: „Die Seattle-Jungs hatten damals einen sehr ähnlichen Anspruch wie wir. Sie beherrschten ihre Instrumente, liebten Blues und Jimi Hendrix, haben den Big Muff vor den Verstärker gespannt und die Bluesakkorde auf ihre Art und Weise übertragen. Von Grunge wussten wir aber nichts. Nirvana spielte damals in der Hamburger Markthalle, als wir im Studio waren – und wir sind nicht hingegangen. Unser Produzent kam an: ‚Alter, ich hab da Hippies gesehen, ein Wahnsinnskonzert! Lange Haare, zerrissene Hosen!‘ Und wir nur: ‚Aha‘, und haben weiter unsere Schlaghosen getragen und wollten aussehen wie Deep Purple!“

„Von Ewigkeit zu Ewigkeit“ wurde im Februar dieses Jahres geschrieben und aufgenommen. Es ist lauter und noch spielfreudiger als sein Vorgänger und schlägt wieder die Brücke zwischen Seligs zwei größten Talenten, zwischen bedachtem Songwriting und muckendem Jamrock. Es geht ums „Du“, ums „Früher“, um abgehobene Überheblichkeiten und somit immer auch um sich selbst. Der Titeltrack ist die erste Single und am ehesten das, was als Ballade durchgehen könnte. „Die unzähligen Auftritte im letzten Jahr gaben uns eine sichere Gewissheit, dass wir gut sind und unsere Reunion richtig war“, erklärt Neander noch die zügige Entstehung der Platte und die eigene Souveränität. Die wird sich auch im Oktober zeigen: Selig treten bei Stefan Raabs Bundesvisionsongcontest für ihre Heimat Hamburg auf. „Die Macher sind alte Schulfreunde von uns“, sagt Eggert und freut sich ein bisschen. „Bisher haben wir immer abgelehnt, aber schließlich sind wir ja keine Angsthasen. Für andere größere Bands ist das eine Statusfrage. Was nicht der Sieg ist, bedeutet abgeschmiert.“ Und wenn Selig, die Geläuterten, nicht den Titel holen? „Wird es trotzdem ein Spaß gewesen sein. Wir machen so oder so nur einmal mit!“

Heimat: www.selig.eu

(erschienen in: unclesally*s, Oktober 2010, Titel)

Nachtrag: Beim Bundesvisionsongcontest am 1. Oktober 2010 landeten Selig auf dem achten Platz. Sieger wurden Unheilig, gefolgt von Silly und Ich & Ich.

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