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Hinter all diesen Wänden

Die Vormieterin hatte uns gewarnt. Als ob da oben Terroristen wohnen würden, mindestens aber professionelle Mobber. Gezieltes Trampeln. Abrichtung des Kindes. Unerträglicher Lärm. Kein Schlaf. Sonst sei alles wunderbar, die Aussicht, der Balkon, der Innenhof, das Licht. Aber diese Nachbarn! Am Morgen nach unserer ersten Nacht hörte ich den Wecker, vor dem wir auch gewarnt wurden. Um 6:30 Uhr. Es war ein Handy. Vibrationsalarm, auf dem Dielenboden. Seitdem nicht wieder. Ja, das Kind rennt, weil es ein Kind ist, zwei Jahre alt, und weil Kinder rennen. Manchmal hat sie, es ist ein Mädchen, der ich auch im Treppenhaus schon ein paar Mal „Hallo“ sagte, Kinderfreunde zu Besuch, dann spielen sie Ball, kegeln oder rücken Möbel. Oder, wahrscheinlicher, rennen einfach nur. Sie tun das aber nie nachts. Und sie sind keine Terroristen.

Seit ein paar Monaten wohnt eine Etage tiefer ein Baby, das nachts um 2 schreit. Nicht laut, vielleicht dringt Lärm in Altbauten aber auch nur nach unten, nicht nach oben. Es stört jedenfalls nicht, es beruhigt manchmal sogar. Dass da kleines Leben ist. Und selbst wenn es stören würde: ich könnte es dem Baby bestimmt nie ins Gesicht sagen. Ich habe es ja noch nicht einmal gesehen, so wie ich den Großteil der Parteien in diesem Vorderhaus nur mit Fantasie ihrer Wohnung zuordnen könnte. Vom Hinterhaus ganz zu schweigen.

Neulich erzählte der Heizungsinstallateur während der Jahreswartung von diesen anderen Parteien. Er fragte, wie es sich hier lebe. Gut, sagte ich, das bisschen Gepolter hin und wieder sei für Altbauten und Kinder sicher ganz normal, zumindest kein Problem. Sind ja Familienwohnungen hier, wie könnte man sich da beschweren. Ganz unten, sagte er, im Erdgeschoss, das sei zum Beispiel eine WG, eigentlich, im Moment wohne nur eine junge Frau darin. Soviel weiß, nein, ahne ich auch; kaum mehr. Die frühstücken da manchmal vor ihrem Fenster auf der Straße, und ich muss mich fast zwingen, das nicht zu freizügig und hippieesk zu finden, den heimlichen Spießer in mir im Zaum zu halten. Ja, Neukölln, aber das ist doch keine Wagenburg hier!

Außer mit dem immer freundlichen Hausmeister, der seit über 40 Jahren hier wohnt, und den Eltern des Mädchens von oben habe ich mit niemandem mehr als zwei Sätze gewechselt. Dafür kenne ich ihre W-Lan-Namen: julisander, mausi, pfifferling, RoteCeci, schnuppe, WLAN, zum Beispiel. Die direkten Nachbarn, mit ihrer Wohnungstür gleich neben unserer, habe ich Freitagabend zum ersten Mal gehört. Sie hörten „Bring mich nach Hause“, das neue Album von Wir Sind Helden. Fünfmal hintereinander.

Gegenüber, auf der anderen Straßenseite, steht ein weißes Pferd im Wohnzimmer. Ich wundere mich schon länger darüber, möchte das aber eigentlich gar nicht sagen, weil ich auch immer sage, dass doch keiner von der anderen Straßenseite in unsere Wohnung gucken könnte oder wollte. Aber du und ich und jeder, der in einer Stadt wie Berlin wohnt, weiß es ja besser: In Großstädten und Großstadtwohnungen gibt es immer was zu sehen und zu hören. In der Popmusik werden Lieder darüber geschrieben; ich habe das schon auf dem Dorf lernen müssen: dass die Geschichten hinter den fremden Gardinen erst beginnen und das Kennen davor endet.

(Andere Nachbars-Geschichten zum lesen oder selbst aufschreiben: wecanhearyou.tumblr.com)

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