Eingeschränkte Lehre

Streit um den freien Zugang zu wissenschaftlichen Inhalten im Internet: Verlage wollen digitale Semesterapparate verhindern, in denen Studierende die wichtigsten Materialen für ihre Seminare finden. Noch schützt ein eigener „E-Learning-Paragraf“ diese Onlinesammlungen.

Zusammenkopierte Reader stehen neben Quellenverzeichnissen, Essaysammlungen neben den wichtigsten Monografien. So kannten Generationen von Studierenden ihre „Semesterapparate“, die sie in den Unibibliotheken fanden. Die wichtigsten Materialien für die Seminare waren darin auf einem Regal zusammengestellt, leicht konnten so Unterlagen kopiert werden. Inzwischen finden Studierende ihre Semesterapparate oft online: In digitalen Versionen sind die Materialien im Intranet der Hochschulen gespeichert. Eigentlich urheberrechtlich geschützte Artikel und elektronische Lehrmaterialien werden dort auszugsweise freigegeben. Ein eigener „E-Learning-Paragraf“ im Urheberrecht erlaubt das bisher. Er schützt auch Materialsammlungen für den Unterricht in Schulen oder in Einrichtungen der beruflichen Weiterbildung. Doch nun gehen die großen Wissenschaftsverlage dagegen vor. An den Hochschulen wird bereits befürchtet, digitale Semesterapparate könnten ganz vor dem Aus stehen. Sie werfen den Verlagen vor, sie wollten mit ihren Publikationen noch mehr Geld als ohnehin schon verdienen. Wegen ihrer Preispolitik stehen die Verlage bei den Unis seit langem in der Kritik.

Zwar wurde der für die Semesterapparate entscheidende Paragraf 52a des Urheberrechts erst im November um zwei Jahre vom Bundestag verlängert. Danach dürfen „veröffentlichte kleine Teile eines Werkes, Werke geringen Umfangs sowie einzelne Beiträge aus Zeitungen oder Zeitschriften“ für Unterricht und Forschung an Schulen und Hochschulen zugänglich gemacht werden – unter der Voraussetzung, dass nur ein kleiner Kreis darauf zugreifen kann. Doch der Paragraf ist unklar formuliert. Das nutzen die Verlage aus. Immer öfter treffen sie sich mit Hochschulen vor Gericht, um deren Nutzung von Texten möglichst weit einzuschränken.

Gestritten wird neben der Definition des „geringen Umfangs“ und der „kleinen Teile eines Werkes“ vor allem über die Definition der Zugänglichkeit. Es geht dabei vor allem um die Frage, ob der Dozent oder die Universität ein Ausdrucken oder Abspeichern der im Intranet eingestellten Texte erlauben darf. Nach einer Klage des Alfred-Kröner-Verlags gegen die Fernuni Hagen etwa geht das Oberlandesgericht Stuttgart in einem noch nicht rechtskräftigen Urteil davon aus, dass nur ein nacktes Anzeigen am Bildschirm erlaubt wird. Vervielfältigungen müssten Betreiber der Plattform – Dozent, Lehrer, Universität oder Bibliothek – dagegen unterbinden. Sie müssten also sicherstellen, dass nicht einmal kleinste Teile von Studierenden ausgedruckt oder anderswo gespeichert werden, wie auf einem USB-Stick. Damit wäre der Paragraf trotz Verlängerung praktisch unbrauchbar.

Für Arne Upmeier, Mitarbeiter der Bibliothek der TU Ilmenau und ehemaliger Vorsitzender der Rechtskommission im Deutschen Bibliotheksverband, ist diese Entwicklung „ein Armutszeugnis für den Wissenschaftsstandort Deutschland“. Er sieht die Gefahr, dass verlagsfreundliche Gerichte den Paragrafen weiterhin so eng ausgelegen, dass der freie Fluss der Informationen blockiert wird. Als Feinde der Semesterapparate macht Upmeier aber nicht die Wissenschaftsverlage alleine aus, sondern vor allem die Verwertungsgesellschaft Wort.

Die VG Wort versteht sich als Zusammenschluss von Autoren und Verlagen, der Tantiemen aus Zweitnutzungsrechten einnimmt und weitergibt. Vor dem Oberlandesgericht München hat sie erwirkt, dass Betreiber von Semesterapparaten keine Pauschalabgaben mehr bezahlen dürfen. Sie müssen stattdessen jede einzelne Nutzung separat melden. Die Folge sei ein praxisferner Bürokratieaufwand, sagt Upmeier. Jeder Dozent müsse jeweils einzeln melden, welche Seiten er aus welchem Lehrbuch von welchem Autor für eine Veranstaltung verwendet – egal, ob diese 15 oder 500 Studierende besuchen.

Würde dieses ebenfalls noch nicht rechtskräftige Urteil Schule machen, müssten Bereitstellungen mit den Rechteinhabern, ob Verlage oder Personen, in jedem Einzelfall verhandelt werden. Ganze Semesterapparate wären so bedroht – und somit auch ein Open-Access-Modell, von dem bisher Schulen, Studenten, publizierende Wissenschaftler und die akademische Lehre und Forschung in ganz Deutschland profitierten. Noch steht ein abschließendes Urteil des Bundesgerichtshofes aus. Bis dahin aber, spekulieren Kritiker, könnte das Gesetz so unbrauchbar ausgelegt werden, dass eine Nutzung von digitalen Semesterapparaten nicht mehr lohnt.

(erschienen in: Tagesspiegel, 3. Januar 2012, Seite 26, und ZEIT Online, 3. Januar 2012)


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