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Bill und Tom Kaulitz im Interview: „Tokio Hotel wird es immer geben“

„Es gehört dazu, Fehler zu machen“: Bill und Tom Kaulitz im Interview über ihr schwieriges Standing in Deutschland, Corona in Los Angeles, Kritik an „Germany’s Next Topmodel“ und die Zukunft von Tokio Hotel.

Die Brüder Bill und Tom Kaulitz (Foto: Rankin / Sony)

Dass es Tokio Hotel im Jahr 2021 noch geben würde, war vor 15 Jahren nicht unbedingt abzusehen: 2001 von vier Teenagern in Magdeburg gegründet, gelang den Zwillingen Bill und Tom Kaulitz – vorher als Duo Black Questionmark unterwegs und danach in Devilish umbenannt – und ihren Freunden Georg Listing und Gustav Schäfer mit ihrer 2005 erschienenen Debütsingle „Durch den Monsun“ der Durchbruch aus dem Stand. Der Song sowie das 1,5 Millionen Mal verkaufte Debütalbum SCHREI schafften es prompt auf Platz 1 der Charts in Deutschland und Österreich. Tokio Hotel waren mit ihrem extrovertierten Auftreten und ihrem von der Manga-Kultur beeinflussten Rock-Pop-Sound mit Electro-Anleihen plötzlich Kinderstars; und die Geschichte der Popmusik meinte es mit deren weiteren Karrieren nicht ausnahmslos gut. Auch Tokio Hotel hatten es trotz anhaltenden, auch weltweiten Erfolgs nicht leicht: Wegen Drohungen, Stalkings und ständiger Belagerung der Regenbogenpresse zogen die Kaulitz-Brüder 2010 nach Los Angeles. Dort leben sie bis heute und halten neben ihrer Band, mit der sie bisher fünf Alben veröffentlichten, auch ihre anderen Karrieren in unter anderem Mode und Musikproduktion am Laufen.

Schlagzeilen liefern Tokio Hotel trotzdem weiterhin auch abseits ihrer Musik: Gitarrist Tom Kaulitz heiratete im August 2019 Model und Moderatorin Heidi Klum, Sänger Bill Kaulitz veröffentlichte im Februar 2021 seine Biografie über seine ersten 30 Jahre unter dem Titel „Career Suicide“. Ihre aktuelle Single „White Lies“ feat. Vize fungiert als Titelsong der aktuellen 16. Staffel von Heidi Klums Modelcastingshow „Germany’s Next Topmodel“.

Wir haben Bill und Tom Kaulitz via Zoom an die Videostrippe gekriegt und mit ihnen über Corona-Hilfen für ihre Crew („Wir versuchen unsere TV-Auftritte so wenig kostengünstig wie möglich zu machen“), ihre Karrieren in Deutschland und den USA („Wir sahen uns nie als Celebrities, diese Art von Karriere wollten wir nie“, „in L.A. galten wir als die coolen Indie-Kids aus Europa“), Fehler in der eigenen Vergangenheit, die Zukunft ihrer Band sowie über Sinn, Unsinn und Message von „Germany’s Next Topmodel“ gesprochen, wozu Popstar Bill Kaulitz sagt: „Wenn man ein Problem mit Casting hat, darf man diese Sendungen einfach nicht gucken.“

Musikexpress.de: Wo erreichen wir Euch gerade?

Bill Kaulitz: Wir sind in Los Angeles, zuhause in meinem Studio. Seit einer Weile sind wir wieder hier in den USA, nachdem wir davor länger in Deutschland waren.

Wegen „Germany’s Next Topmodel“?

Bill: Ich habe auch „Germany’s Next Topmodel“ gedreht, ja. Vor allem waren wir aber in Berlin-Kreuzberg im Riverside Studio mit der Band.

Tom Kaulitz: Heidi musste wegen der Dreharbeiten drei Monate nach Deutschland. Wir gingen mit, um die Zeit dort zu nutzen und hatten das Studio für die komplette Zeit gemietet.

Bill: Es kam aber auch unsere Neuversion von „Monsun“ heraus. Dafür machten wir Promo, gaben Interviews. Wir kombinierten all das.

Sind Freunde seit Kindertagen und wollen ihre Band deshalb niemals auflösen: Tokio Hotel (Foto: Lado Alexi / Sony)

Eine Rückkehr nach Los Angeles muss, mal abseits von Reiseschwierigkeiten wegen Corona, entspannt gewesen sein. Weil Ihr hier in Deutschland als Superstars viel bekannter seid als dort. Oder?

Bill: Auf jeden Fall. Das Leben hier ist auch ein ganz anderes. Alle sitzen in ihren Autos, du läufst nirgendwo hin, wenn du nicht gerade hiken gehst. Es ist hier allgemein viel anonymer, für uns selbst aber auch. Das kannst du mit Deutschland nicht vergleichen. Das war auch ein Grund, warum wir irgendwann hergezogen sind. Hier werden wir in Ruhe gelassen.

Wann seid Ihr dort zuletzt erkannt worden? Die Masken müssten Euch in dieser Hinsicht bestimmt entgegenkommen.

Bill: Die Masken helfen, ja, außerdem sind gerade keine Touristen in der Stadt. Nur Amis.

Tom: Eine Maske hilft aber auch in Deutschland. Das ist für uns der einzige Vorteil an dieser Zeit gerade: Maske und Jogginghose an und ein Cappy auf, dann erkennt uns niemand mehr.

Wenn Euch in Los Angeles, zum Beispiel bei einem Party-Smalltalk, sofern es denn wieder Partys geben wird, mal jemand nicht kennen sollte und fragt, wer Tokio Hotel sind und was für Musik Ihr da so macht: Was antwortet Ihr?

Bill: Wir erzählen jedenfalls nicht unsere Karriere nach. Wir sagen: Wir sind eine Band, machen das meiste in Europa …

Tom: Eine musikalische Einordnung fällt uns aber besonders schwer.

Bill: Seit der letzten Platte machen wir ja eher Indie und Synthpop.

„Rockband“ antwortet Ihr also nicht? Ihr habt doch ein klassisches Rockinstrumentarium.

Tom: Ja, haben wir. Aber bei „Rockband“ denke ich immer an unsere Shows. Die sind sehr, sehr aufwändig. Bei Rockbands denken die Leute an Gitarre, Schlagzeug, Bass und wenig Show.

Bill: Die Jungs spielen auf der Bühne aber alles. Auch Percussions, Keyboard …

Tom: Gustav hat ein riesiges Drumkit von Acoustic- bis Electro-Drums, Sampler, alles was da rumsteht, um diese Originalsounds zu triggern, dafür gibt es noch einen extra Laptop. Außerdem läuft Ableton mit, sodass alles, was wir gerade nicht live spielen, auf Spuren reingeflogen kommt. Es gibt außerdem einen weiteren Laptop nur für Bills Vocal Processing, für die Effekte. Das ist so eine aufwändige elektronische Show geworden, dass „Rockband“ dem nicht gerecht werden würde.

Zumal ja der größte deutsche Rock-Exportschlager Rammstein heißt, und mit denen wollt Ihr bestimmt nicht wegen Ahnungslosigkeit in einen Topf geworfen werden: Ah, you’re like Rammstein, from Germany!“

Tom: Haha, genau, solche Sätze fallen tatsächlich hin und wieder mal.

Ihr seid 2010 nach L.A. gezogen, auch wegen Eures Fames hierzulande und sogar wegen Stalkings. Wie ist jetzt Eure Beziehung zu Deutschland, zur eigenen Familie? Bill, als Gast in Bettina Rusts „Hörbar Rust“ hast Du mal von einem Heimatbesuch an Weihnachten erzählt. Zwei Stunden bei Mama, eine Runde durch Magdeburg fahren und dann wieder weg. Das klang ein bisschen traurig. Ist das immer so oder schildertest Du dort eine Ausnahme?

Bill: Das stimmt leider wirklich, dass wir nie sehr lange da sind. Auch in den zurückliegenden drei Monaten haben wir nur einen Familienbesuch geschafft.

Tom: Diesmal aber vor allem wegen Corona. Man durfte sich ja kaum treffen.

Bill: Wenn wir in Deutschland sind, sind die Tage sehr durchgetaktet. Mein Terminplan ist extrem voll: Seit Oktober haben wir mit Tokio Hotel drei neue Nummern veröffentlicht. Alle mit Musikvideos, Interviews und so weiter. Ich promote außerdem mein Buch, meine Modekollektion – alles, was ich in diesen drei Monaten gemacht habe, hätte man eigentlich über ein ganzes Jahr verteilen können. Aber wenn wir schon mal hier sind, wollen alle alles reindrücken, was irgendwie geht.

Doppelt gemein: Andere Menschen kriegen seit Beginn der Pandemie aus verschiedenen Gründen gar nichts auf die Kette und Ihr macht in drei Monaten mehr, als andere in drei Jahren schaffen.

Bill: Ich bin auch total dankbar. Wie alle anderen schoben wir anfangs Panik: Die Lateinamerika-Tour wurde abgesagt, das ganze Jahr für uns gecancelt …

Tom: Und dann saßen wir da und wussten nicht weiter. Selbst für den 15. „Monsun“-Geburtstag hatten wir nichts geplant. Wir hatten ja eigentlich ein Tour-Jahr vor uns. Wir riefen unser Team an, warfen alles um und wollten alles andere auf einmal. Ich rief Daniel Lieberberg an und sagte: „Ey, wir wollen eine neue Platte machen!“ Und er sagte: „Aha, okay, na dann lass‘ uns quatschen“, kurze Zeit später hatten wir einen Deal und unterschrieben bei Sony. Dann dauerte aber alles ewig wegen Corona. Zum Ende des Jahres kam dann alles zusammen, wir hatten uns plötzlich ein bisschen zu viel aufgehalst. Aber ich bin froh, dass wir das machen konnten.

Könntet Ihr Euch vorstellen, eines Tages wieder in Deutschland zu leben?

Bill: L.A. verlassen und komplett zurückziehen, kann ich mir nicht vorstellen. Aber ein Zweitwohnsitz läge nahe, wir sind eh immer wieder zum Arbeiten da. Ich liebe das Hin und Her, aber unser richtiges Zuhause ist für mich Los Angeles.

Tom: In Deutschland ist Berlin unsere Heimat, weil wir jedes Mal dort sind. Würde Sinn ergeben, dort ein Haus zu haben. Haben wir aktuell nicht.

Wird nicht günstiger.

Tom: Ich habe mir ein paar Sachen angeguckt und war schockiert: Ich wusste gar nicht, dass in Berlin mittlerweile Preise wie in L.A. aufgerufen werden. Crazy ist das. Aber es gibt geile Immobilien.

Schaut Ihr auf Ereignisse in Deutschland – von Querdenker-Demos bis hin zu rassistischen Anschlägen wie in Hanau – so distanziert, wie wir als Zaungäste auf Ereignisse in den USA schauen? Oder berührt Euch das als Deutsche genau so nah, wie wenn Ihr hier leben würdet?

Tom: Gute Frage. Es ist schon vieles weiter weg, weil wir nicht da sind. Wir zogen damals ja aus dem Grund weg, um einen Abstand zu kriegen, zuerst zu alldem, was über uns geschrieben wurde. Das hat geklappt und beweist, dass uns das, was in Deutschland passiert, weniger direkt tangiert. Deutsche News verfolge ich trotzdem intensiver als amerikanische.

Bill: Es ist eine Mischung. Dinge, die in Frankreich oder Italien passieren, erleben wir auch als Zaungäste. Was in Deutschland geschieht, wühlt uns mehr auf, interessiert uns stärker. Trotzdem spüren wir eine Distanz. Schon durch die neun Stunden Zeitunterschied.

Tom: Als Corona losging, beschäftigte uns aber auch sofort die Frage, wie es in Deutschland aussieht. „When the shit hits the fan“, dann würden wir auch nach Deutschland zurückkehren. Wir sind froh einen deutschen Pass zu haben. Mit Deutschland verbindet uns ein Heimatgefühl, aus dem Land kommen wir.

Eure Lateinamerika-Tour 2020 musstet Ihr absagen, finanziell ruinieren dürfte Euch das zumindest als Bandmitglieder nicht. Helft Ihr anderen Künstler*innen, die gerade mehr strugglen?

Bill: Wir haben ein paar Charity-Sachen gemacht. Die wenigsten Musiker, mit denen wir hier in L.A. arbeiten, machen das hauptberuflich. Aber fast alle haben ein zweites Standbein. Hier haben alle immer fünf bis sechs Jobs, weil die Stadt so teuer ist. Es ist gerade für Menschen im Entertainmentbereich normal, einen Backup-Plan zu haben.

Tom: Deswegen war kein Musiker aus unserem direkten Umfeld hardcore betroffen. Unsere Crew dafür schon. Zum Glück konnten wir die trotz Tour-Absage weiter bezahlen und nach Hause schicken. Sie sind trotzdem am härtesten betroffen. Weil gerade niemand tourt und sie bucht.

Bill: Auch für Theater und andere Kultureinrichtungen, die von Laufpublikum leben, ist es eine Katastrophe. Neulich drehten wir eine „Topmodel“-Folge in dem „Magic Mike“-Theater. Die dort engagierten Tänzer kommen teilweise aus anderen Ländern, für die bricht alles weg.

Tom: Wir versuchen gerade, TV-Auftritte und Radioshows so wenig kostengünstig wie möglich umzusetzen. Das Budget muss immer klein sein, dieses Jahr haben wir aber auf die Kacke gehauen, unsere komplette Crew gebucht und sie so versucht zu unterstützen.

„IN L.A. WAREN WIR IMMER DER COOLE INDIE-SCHEISS“

Euch kennt die halbe Welt, mit Euren Platten seid Ihr aber – anders als etwa Rammstein, aber auch als Sido, der sich darüber mal ärgerte – nie in den Feuilletons oder der Fachpresse angekommen. Ärgert das oder ist es Euch scheissegal, solange die Verkäufe stimmen und die Fans happy sind?

Bill: Sie wurden schon besprochen, aber immer negativ. Bei meinem Buch fiel mir ein Mechanismus erneut auf: Die ersten Besprechungen erschienen, bevor die Leute selbst das Buch kaufen und lesen konnten. Oft waren die negativ, und das nur anhand der paar vorab verschickten Seiten. Interessierte bekamen so gar keine echte Chance, sich selbst ein Bild zu machen. Bei unserem letzten Album DREAM MACHINE war das ähnlich. Texte waren teilweise sehr unter der Gürtellinie geschrieben. Die Wahrnehmung unserer Musik hat sich in Deutschland nie in der Waage gehalten mit der unserer Karriere als Personen. Wir wollten nie die Berühmtheit aufgrund des Berühmtseins. Wir wollten mit unserer Musik erfolgreich sein. Wir sahen uns nie als Celebrities, diese Art von Karriere wollten wir nie. Das kam aber so. Plötzlich war es interessanter, mit wem wir schlafen, wo wir wohnen, wie viel Geld wir verdienen, welche Autos wir fahren, wie viele Fans vor unserer Tür stehen. Keiner kannte mehr unsere Musik. Wir wussten: Die Songs, die wir machen, könnten eigentlich auch Leute mögen, die Coldplay oder The xx hören. Diese Antwort bekamen wir tatsächlich oft von Radio-Leuten: „Wenn der Song von Coldplay wäre, würden wir ihn spielen.“ Warum gibt Deutschland unserer Musik keine Chance, nur wegen unseres Namens und weil wir kommerziell so erfolgreich waren? Warum können wir deswegen nicht gut sein?

Zumal Coldplay kommerziell auch sehr erfolgreich sind.

Bill: Bands aus dem Ausland gehen offenbar klar. Deutsche Künstler haben es in Deutschlands Radiolandschaft schwieriger. Teenie-Stars zum Beispiel sind in Deutschland verrufen. Billie Eilish und Justin Bieber aber waren schon immer okay.

Tom: Da kommt vieles zusammen. Protz kommt in Deutschland auch gar nicht gut an. Wenn Justin Bieber in seinem Video mit Ferrari und Goldketten durch die Gegend cruist, finden die Leute das geil. Weil er aus L.A. kommt. Käme Bieber aus Güsen in Sachsen-Anhalt, sähe das anders aus.

Bill: In Amerika waren wir nie Mainstream, unser dortiger Erfolg ist kommerziell nicht vergleichbar mit dem in Deutschland. Hier in L.A. waren wir immer der coole Indie-Scheiß. Wir spielten im „The Roxy“, im „House of Blues“. Zu den Konzerten kamen coole Leute, wir galten als cooler Indie-Act aus Europa. Unsere Musik haben sie hier deshalb viel ernster genommen. Das war eine ganz andere Karriere, im Gegensatz zu der, die wir Deutschland hatten. Klar hat uns das gestört, dass es in Deutschland so war.

Bill, Deine gerade erschienene Autobiografie heißt „Career Suicide“. Hat sich der Titel schon erfüllt?

Bill: Nein, und ich bin erstaunt darüber. Ich dachte, dass mir gerade aus der Branche viel mehr Leute einen Strick daraus drehen würden, was ich so schrieb. Ich habe im Buch viele bridges geburnt. Die meisten haben darüber gelacht. Ein alter Bekannter von einer Plattenfirma, den ich beschrieb, schickte mir eine SMS: Er freute sich, dass ich mich an ihn erinnere und hat sehr gelacht, dass ich ihn als Arschloch und großen Wichser umschrieb. Es habe ihn unterhalten. Ich hatte hingegen hier und da Klagen erwartet. Die blieben bisher aus.

Du rechnest in Deinem Buch mit der Musikbranche ab. Was lief warum falsch?

Bill: Was ich richtig kacke fand, war, dass wir so lange in Verträgen gefangen waren, aus denen es kein Entkommen gibt. Die werden heute zum Glück nicht mehr so aufgesetzt. Unser damaliger Künstlerexklusivvertrag mit Produzenten wäre heutzutage sehr unüblich. Damals, vor über 15 Jahren, war das gang und gäbe. Mich störte vor allem, dass man uns so wenig gehört hat. Heute schaue ich als Erwachsener auf diese Zeit zurück und denke: Hätte ich heute eine talentierte Kinderband unter Vertrag, ich hätte sie ganz anders gefördert und auf ihren Instinkt als Künstler vertraut. Bei uns war es das Gegenteil. Niemand wollte wissen, was wir selbst wie machen wollen, sondern es wurde ausgenutzt, dass wir gar nicht die Zeit dazu hatten, uns richtig einzubringen.

Was würdet Ihr heutigen jungen Bands mit auf den Weg geben?

Tom: Selbst bei der Vertragsgeschichte ist es ja leichter gesagt als getan: Wir waren damals eine junge Band aus Magdeburg. Dort gab es keine Perspektive. Dann packt dir jemand einen Vertrag auf den Tisch mit ein paar zehntausend Euro Vorschuss. Wer würde das in so einer Situation nicht unterschreiben?

„WENN DU EINEN SONG NICHT ALS SINGLE HERAUSBRINGST, VERSAUERT ER AUF DEM ALBUM“

Habt Ihr die Doku über den korrupten Musikmanager und Boybanderfinder Lou Pearlman gesehen? Da sitzen N*Sync mit ihm im Restaurant in Vorfreude auf ihre ersten Schecks nach jahrelanger ausbeuterischer Arbeit. Sie spekulieren jeweils auf eine sechsstellige Summe – und werden mit knapp 10.000 Dollar abgespeist.

Tom (lacht): Bei uns war es ja noch extremer. Mit 15 dachten wir, 10.000 Euro reichen bis ans Lebensende.

Bill: Es gehört auch ein bisschen dazu, Fehler zu machen. Ich kenne fast niemanden, der nicht heute noch sagt, er wurde von seinem ersten Manager abgezockt, mein erstes Label hat nichts getan und so weiter. Diese Storys gehören irgendwie dazu.

Euer aktuelles Album DREAM MACHINE erschien 2017. Seitdem sind bereits fünf neue Singles erschienen, aktuell „White Lies“ mit Vize. Kommt dieses Jahr also ein neues Album?

Tom: Auf jeden Fall dieses Jahr. Wir haben eine Tour für Ende des Jahres angekündigt, dazu wollen wir unser Album herausbringen.

Eine Tour klingt wegen Corona optimistisch.

Bill: Wir müssen optimistisch bleiben. Bis jetzt steht alles.

Tom: Bisher hat uns auch noch niemand gezwungen, die Tour wieder abzusagen. Ich hoffe für alle, dass es klappt. Vorher wollen wir noch weitere Songs herausbringen. Wir sind aktuell jeden Tag im Studio.

Weitere Songs, um die Aufmerksamkeit zu halten?

Tom: Ja. Früher lief es anders: Dein Album kam heraus und du startetest die Rakete. Heute läuft die Rakete andauernd – bis das Album kommt.

Bill: Das Album ist das Ende der Kampagne.

Die „Kids“ hören ja auch nur noch Spotify-Playlists und kaufen keine Alben.

Tom: Wir genießen den Luxus einer Fanbase, deshalb können wir auch physische Produkte machen – mit Fanboxen, Collector’s Items und so weiter. Aber außer den richtigen Fans hören kaum Leute ganze Alben. Wenn du einen Song nicht als Single herausbringst, versauert er auf dem Album.

„WENN MAN EIN PROBLEM MIT CASTING HAT, DARF MAN DIESE SENDUNGEN EINFACH NICHT GUCKEN“

Eine Frage zu „Germany’s Next Topmodel“ möchte ich mit einem Kompliment einleiten: Meine Kollegin Julia Lorenz hat mal ein Plädoyer für Tokio Hotel geschrieben. Darin heißt es unter anderem:

„’Durch den Monsun‘ war mehr als ein Witz. Es war der Aufschrei der Mobbingopfer. Die Hymne der Magic-Karten-Kinder. Ein Song gegen das Diktat der Schul-Bullys und -Beautys. Denn, wir erinnern uns: 2005 gab es im deutschen Popfernsehen zwar polyphone Klingeltöne für jede Gefühlsschattierung, aber keinen echten Star für zarte Jungs, laute Mädchen und alle dazwischen. Bis Tokio Hotel ein bisschen Queerness in die Kinderzimmer brachten. Der androgyne Bill Kaulitz mit seinen Pandaäuglein, sein wursthaariger Zwilling Tom, das ewige Jugendclub-Duo Georg und Gustav: Für ein paar goldene Jahre waren sie die Allergrößten. Geliebt in Amerika. Big in Taiwan. (…) Sie waren da, als Chris aus der 8b unsere Brille zum Klo runterspülte. Und das sollten wir ihnen nie vergessen.“

Bill: Aww, das ist süß.

Der Titelsong zur 14. Staffel von „Germany’s Next Topmodel“ kam 2019 von Euch, der neue ebenfalls. Die Message der Sendung ist umstritten und eine andere als die gerade zitierte. Schönheitswahn, Perfektionismus, es kommt nur auf Äußerlichkeiten an, man muss allen gefallen und gleichzeitig soll man individuell sein, aber bitte nicht zu sehr. Ist das wirklich das, was Ihr heutigen Teenager*innen mitgeben wollt?

Bill: Die Message der Sendung ist eine andere. Ich glaube, wenn man daran teilnimmt oder sie schaut, schaut man sie, weil ein Model gesucht wird. Eine Frau, die toll aussieht. Entweder man interessiert sich für diese Welt oder nicht. Vielleicht kommt man aus einer anderen, nicht jeder muss sich damit identifizieren, das ist völlig ok. Ich zum Beispiel liebe die Modewelt schon immer und „Germanys‘ Next Topmodel“ ist Kult, doch nicht alle müssen diese Sendung lieben. Viele gucken sie aus Unterhaltung, wegen der Spannung, weil es eine andere Welt ist. Andere gucken zu wegen des Wettkampfs. Weil sie es lustig finden. Wenn man dort nach 16 Jahren Showgeschichte mitmacht, weiß man genau, was einen da erwartet. Das Konzept Castingshow wird in unserer Gesellschaft von Jahr zu Jahr immer schwieriger, weil die Menschen so sehr dagegen sind zu beurteilen. Man darf das nicht mehr, heißt es. Ich kann verstehen, wo dieser Gedanke herkommt, aber gleichzeitig funktioniert der zusammen mit dem Konzept Castingshow gar nicht. Man sucht also nach neuen Wegen, nennt die Jury „Coaches“. Letztendlich ist es aber so: Wenn man ein Problem mit Casting hat, darf man diese Sendungen einfach nicht gucken. Auch Konzepte wie das von „Deutschland sucht den Superstar“ oder „American Idol“ sind welche, die heute für viele nicht mehr vom Herzen her reinpassen.

Weil man aber auch weiß, wie es ausgeht. Früher entwickelten sich Karrieren durch solche Shows, zum Beispiel von No Angels oder Lena Gehrke. Seitdem ist es gefühlt so, dass die Teilnehmerinnen nur medial interessant sind, während die Shows laufen, nicht mehr danach.

Tom: Steffi Giesinger zum Beispiel, die Gewinnerin aus Staffel 9, hat auch eine tolle Karriere hingelegt. In Staffel 14 zum Beispiel war sie einmal Gastjurorin. Es gibt auch einige Gewinnerinnen und Ex-Teilnehmerinnen, die nicht im TV auftreten und Celebrities sind, sondern ganz klassisch modeln. Bei den Musik-Castingshows hast Du aber total recht: Dort geht es oft viel weniger um den Gewinner als um das Entertainment. Das ist bei „The Voice“ und auch bei „Deutschland sucht den Superstar“ so. Wobei dort zum Beispiel wir ja selbst mal in der Jury saßen – in der Staffel, in der Beatrice Egli gewann. Und wer hat danach keine Karriere gemacht, wenn nicht sie?

Bill: Es kommt immer auf den Weg an, den die Leute selbst einschlagen wollen. Beatrice hat Schlager gemacht. Stefanie Giesinger hat eine Social-Media-Karriere gemacht. Die Show kann immer nur ein Start sein.

„WENN WIR GEORG UND GUSTAV HEUTE TREFFEN WÜRDEN, HÄTTEN WIR NICHT VIEL MITEINANDER ZU TUN“

Wo seht Ihr Tokio Hotel in zehn Jahren – idealistisch und realistisch betrachtet?

Tom: Ich sehe uns auf jeden Fall nach wie vor Musik machen. Aber den Sound kann ich nicht vorhersagen. Unser Musikgeschmack verändert sich. Bill und ich schreiben die meisten Songs selbst, ich produziere sie. Die letzten Platten habe ich im Alleingang aufgenommen, gemischt, gemastered und so weiter. Ich bin in meiner Arbeit stark von meinem persönlichen Musikgeschmack beeinflusst. Der hat sich über die Jahre verändert und wird das wahrscheinlich in den nächsten zehn bis 15 Jahren weiter tun. Tokio Hotel werden deshalb eine musikalische Entwicklung durchmachen. Ob wir eines Tages noch elektronischer klingen oder back to the roots, zur klassischen Formation, zur Rockband, das lässt sich nicht absehen. Die Band aber wird es immer geben. Weil wir zusammen aufgewachsen sind. Wir vier sind zuerst Familie. Wenn wir Georg und Gustav heute treffen würden, hätten wir nicht viel miteinander zu tun. Wir sind total unterschiedliche Charaktere. Träfen wir uns in einer Bar, wir würden uns wahrscheinlich gar nicht angucken. Uns verbindet aber eine so tiefe Freundschaft und ein Vertrauen. Sie sind wie unser dritter und vierter Bruder. Deshalb werden wir uns nie auflösen und sagen, dass wir nie wieder was miteinander machen. Das wird bestimmt mal weniger, mal wieder mehr.

Bill: Das Abschiedsvideo von Daft Punk fand ich schon so traurig!

Tom: Wir haben verschiedene Leben, finden in der Band aber immer wieder zusammen. Ich kann mir deshalb nicht vorstellen, dass es einen Punkt geben wird, an dem jemand nicht mehr will oder kann, um endlich mal was anderes zu tun. Georg und Gustav machen eh schon sehr viele andere Sachen. Wir ja auch. Die Band ist unser common ground, auf dem wir immer wieder zusammenkommen. Wenn einer gerade keine Zeit hat, kommt die Platte halt ein Jahr später.

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