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re:publica XI: Bohemian Rhapsody

Im echten Leben gibt es keine Hyperlinks. Deswegen funktionieren Insiderwitze nur für Insider, deswegen ist Twitter für den gemeinen Internetnutzer kein Äquivalent zu Facebook. Weil sich auf der diesjährigen Social-Media-Konferenz re:publica XI, die vergangene Woche in Berlin zu Ende ging, deutsche und internationale Internetinsider der ersten und zweiten Stunde trafen (Twitterer, Blogger, Netzaktivisten), wirft man ihr und ihren Besuchern auch im fünften Jahr noch Selbstreferentialität vor. „Wir sind kein Einführungskurs“, sagte re:publica-Gründer Johnny Haeusler vorab im Interview, aber er sagt immer wieder auch, dass Netzthemen in der Gesellschaft angekommen sind. Wer da beispielsweise an Wikileaks, den Fall (von) zu Guttenberg, iPhone-Vorratsdaten oder eben Facebook denkt, kann dem nur zustimmen. Bei Twitter sieht das trotz Justin Bieber oder dem Regierungssprecher noch anders aus.

Das Managermagazin Cicero schreibt auf seinem Onlineauftritt, die „Geeks und Nerds“ hätten die Chance vertan und sich auch dieses Jahr nicht für die Gesellschaft geöffnet. Ein Bekannter, der andere Klischees über Blogger und Berlin-Mitte zu kennen scheint, fragte mich am Freitagabend: „re:publica, sind da nicht nur Hipster?“. Unabhängig vom Wahrheitsgehalt: Allein die Tatsache, dass solche Bilder existieren, beweist, dass mit der Öffnung noch einiges gehen kann (ob das ein Muss ist, ist eine andere Frage). Zumal es ja sogar Besucher, die zu einer vermeintlichen Kernzielgruppe gehören, gibt, die Sinn oder Unsinn der re:publica noch weniger verstanden haben. Aber von vorne.

Was habe ich gesehen?

  • Anonymous. Nicht persönlich, versteht sich, aber in Form eines Vortrag-Rundumschlags über das Schaffen der virtuellen Protestgruppe
  • Einen hochunterhaltsamen und mit einer intelligenten Portion Doppelironie auftretenden Sascha Lobo, der in einem so genannten Startrant erst alle Internetmenschen im Friedrichsstadtpalast beleidigte, die ihr Expertentum nicht so vermarkten wie er selbst – und dann über Trollforschung referierte
  • Johannes „Jojo“ Kretzschmar a.ka. Beetlebum, der von Webcomics schwärmte und auch deren Geschichte nicht vergas
  • Eine Mitarbeiterin der University Of Maryland, die mit einer Umfrage zur gegenseitigen Skepsis zwischen „etablierten Medien und Blogs“ herzlich wenig überraschte und elf Politblogger als deutsche Blogosphäre pauschalisierte
  • Eine junge Akademikerin, die 1:1 aus ihrer Diplomarbeit über Twitter vorlas und damit Eulen ins einschlafende Athen trug
  • Die gehörlose Bloggerin Julia Probst, die bei der letzten Fußball-WM den Spielern von den Lippen ablas und mit ihrer Dolmetscherin auf Nachfrage und vor begeistert-entrüstetem Publikum erklärte, wie man Namen wie „Merkel“, „Guttenberg“, „Westerwelle“ und „Lafontaine“ in Gebärdensprache übersetzt (es zählen die, äh, Äußerlichkeiten)
  • René Walter von Nerdcore/Crack-A-Jack, der daneben saß und aus seinem Streit mit Euroweb und deren fragwürdigen Geschäftspraktiken scheinbar immer noch nichts gelernt haben will („Man sollte besser auf Anwaltsschreiben reagieren? Das ist doch keine Weisheit!“ „Ja, ich glaube ich unterliege irgendwelchen Verpflichtungen. Welchen? Keine Ahnung.“ „Ich bezeichne Arschlöcher auch weiterhin als Arschlöcher“. „Joa, das könnte nochmal passieren.“)
  • Richard Gutjahr, der sich, als er da neulich so vom Tahrir-Platz aus bloggte, noch nie in seinem Leben „mehr als Journalist gefühlt habe als zu dieser Zeit“
  • Blogopas und –omas, die sich erinnern
  • Einhornsex und andere Abseitigkeiten aus dem Netz
  • Nilz Bokelbergs und Markus Herrmanns erwartungsgemäß kurzweilige GTT-Revue inklusive Bingo, Nasenaffenmasken und Freibier

Und bestimmt noch ein paar andere Sachen.

Ja, in der Kalkscheune war es spätestens dieses Jahr viel zu eng, in viele Veranstaltungen kam man praktisch leider nicht rein (ein Umzug in eine größere Location ist zwangsläufig geplant). Vor allem aber geht es offline vor Ort bekanntlich darum, worum es online im Internet auch geht: Networking, Socialising, Hallo sagen, von Anderen lernen. „Ein Klassentreffen“, wie Twitterer der ersten Stunde gerne behaupten und bei der alljährlichen und für Nicht-Twitterer vollkommen sinnbefreiten Twitterlesung vorleben.

Dafür, dass diese mancherorts also tatsächlich gegenwärtige (und oft in der Natur der Sache liegende) Selbstreferentialität abnehmen wird, sorgt, auch dank Facebook, die breitere Gesellschaft selbst für. Und für die Insider rief re:publica-Mitgründer Markus Beckedahl indes die Digitale Gesellschaft ins Leben, die, so der Interview- und Medientenor, ein bisschen wie Greenpeace sein soll, nur anders. Für das Internet eben – und eben doch nicht: „Wir wollen auch die erreichen, die nicht den ganzen Tag bei Twitter rumhängen“, sagt Beckedahl. Johnny Haeusler weiß offenbar auch, dass da draußen noch einiges mehr zu holen sein wird, wenn er die #rp11 wohlweise mit Queens „Bohemian Rhapsody“ verabschiedet und Freddie Mercury fragen lässt: „Is this the real life, is this just fantasy?“. Es ist das echte Leben, mittlerweile, irgendwie, nur mit Hyperlinks.

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