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Eine Blase für sich

So einfach ist das auch nicht: Jetzt werden die Zugezogenen schon per Steckbrief gesucht
Was wäre Berlin ohne seine Gentrifizierungsdebatten. Drüben beim Medienpiraten diskutierten sie zwischen den Jahren erschöpfend über das gute alte und eventuell nicht mehr so gute neue Prenzlauer Berg, und auch Neukölln lebt ja seit geraumer Zeit von Existenzängsten der zugezogeneren Art. Im Sommer wurde ein ehemaliger Puff in meiner Straße in eine Kneipe umfunktioniert, und jetzt, kaum ein halbes Jahr später, hat die Pigalle Bar nach offenkundigen anhaltenden Anlaufschwierigkeiten und wegen mangelndem Charme, Schaumweinabenden und PR-Veranstaltungen schon wieder geschlossen. Vielleicht machen sie ja wieder einen Puff auf, wahrscheinlicher aber eine neue Bar oder ein Restaurant. Ich werde das noch früh genug in Erfahrung bringen.

In der Zwischenzeit sind hier aber auch andere Dinge passiert. Der verschneite Winter konnte Kreuzkotze nicht von den Dächern schmelzen. Allein die Sanderstraße verzeichnete mit einem „Vintage Coffee & Clothes“-Laden namens Sing Blackbird, dem zu einer Clubbar umfunktionierten Heartbreaker und dem Restaurant Pika Pika gegenüber vom Sanderstüb’l mindestens drei Neueröffnungen. In der Friedelstraße gibt es mit Aapka (vorher: Mona Lisa) und Chelany nun ein indisches und ein pakistanisches Restaurant innerhalb von 200 Metern und einen neuen Galerieraum (Soy Capitan), im richtigen Nord-Neukölln hat Barry Burns von der schottischen Postrockband Mogwai aus dem Donau-Eck den Hipstertreffpunkt „Das Gift“ gemacht. Und in der Hobrechtstraße gibt es jetzt einen Hipstery Store.

„Mit Hipstern hat das nichts zu tun“, sagt der 27-jährige Geschäftsführer Adam Fletcher. Fletcher ist Brite und möchte lieber Dr. Willem genannt werden, und der Laden, für dessen Anmietung er und sein Team die 90-jährige Vermieterin nach eigener Aussage sehr lange überzeugen mussten („Keine Kneipe, keine Spielothek, kein Lärm“), ist Büro sowie Ausstellungs- und Lagerfläche für seinen Mystery Shirt-Onlineversand Hipstery.com. Für die zitty hatte ich mit Fletcher und seinem Kollegen Manuel Meurer/Mad Dog über die Beweggründe zur Geschäftsidee dahinter gesprochen – und am Rande natürlich auch über die Wahl des Viertels.

Hipstery Store, Hobrechtstraße, Neukölln

Adam, Manuel: Warum Neukölln?

Dr. Willem: Wir hatten bereits ein Büro in der Nähe, in der Friedelstraße. Außerdem wohnen Mad Dog und ich am Schlesischen Tor und unser Programmierer in Schöneberg, also suchten wir irgendwas dazwischen. Wir mochten die Gegend und fanden das Objekt, eine bewusste Vorab-Entscheidung für diesen Kiez gab es aber nicht. Außerdem bin ich erst seit März 2010 in Berlin und kenne mich kein Stück aus. Meine Freundin und ich haben uns 35 Wohnungen angesehen, jeweils mit rund 50 Mitbewerbern. Wir hätten also auch ganz woanders landen können. So aber kamen wir an unser erstes Büro in der Friedelstraße und haben dort den Kiez schätzengelernt. Es passierte dort seitdem soviel, wir überlegen bereits, noch näher an unser Büro zu ziehen.

Mad Dog: Hier ist es noch nicht so überflutet von Touristen, Hipsters und Spaniern. Es fühlt sich noch so an wie das frühere, entspannte Kreuzberg.

Dr. Willem: Wenn wir richtig Geld machen wollten, hätten wir den Laden nicht hier eröffnet. Sondern in Mitte. Aber dann müssten wir auch härter arbeiten – worauf wir keine Lust haben!

Mad Dog: Oder auf in den Bergmannkiez. Und dann aber doppelte Miete bezahlen.

Warum heißt das Geschäft dann Hipstery?

Dr. Willem: Auch das war, wie die Idee zum Geschäft an sich, keine bewusste Entscheidung, was jetzt klingen muss, als hätten wir ein Geschäft ohne einen einzigen Gedanken aufgebaut. Ich fuhr mit dem Rad Richtung Kneipe und sprach mit einem Kumpel über die Idee. „Hip“ sollte es sein, im Sinne von alter englischer Hipness, aber auch Mystery musste eine Rolle spielen. Eine hippe Mystery. Hipstery. Als wir in der Bar ankamen, sind wir gleich ins Internet und haben uns die Domain gesichert. Das war im Juni oder Juli 2009 in Leipzig, im August sind wir online gegangen mit der englischen Version. Die deutsche folgte im Mai 2010. In Leipzig gibt es keine Hipsters, da war der Name kein Problem.

Hier in Berlin provoziert er gleich ein ganz bestimmtes Bild im Kopf.

Dr. Willem: Ja, hier in Berlin. Das ging so richtig letztes Jahr los, diese Hipsterwelle, mit entsprechenden Blogs und Büchern dazu. Gentrifizierung und Hipsters, die zwei großen Wörter hier. Wir werden auch ständig gefragt, ob wir ein Service für Hipsters seien.

Mad Dog: Das Wort bekam erst in den letzten fünf Jahren diese negative Konnotation.

Dr. Willem: Das Wort „hip“ mag ich eigentlich sehr gerne. Es kommt, glaube ich, ursprünglich aus den 1940ern. Erst nachdem wir das Geschäft starteten, wandelte sich das Wort wirklich zum Schlechten. Das ist schade. Berlin ist da aber eine Blase für sich.

„Offending the Clientele“, Freies Neukölln, Pannierstraße Ecke Weserstraße

via Mit Vergnügen

Die Berliner Gentrifizierungsdebatten werden weitergehen. Ich mag diese Stadt.

Ein washechter Berliner

Im achso hippen Berlin gilt es ja nicht mehr als allzu hip, über Hipster zu lachen. Zu der Zeit, in der Beobachtungen über solche Szenemenschen noch „unique“ waren und der Trend nach dem Bionade-Biedermeier erst langsam als solcher erkannt wurde, gab es noch gar keinen Namen. Dann sprachen sie alle darüber, erst in Mitte, dann von Prenzlauer Berg bis Neukölln, und man musste sich fragen, ob es diese dann so genannten Hipster selbst waren, die sich hochstilisierten. Übergroße Fensterglasbrillen und Schals, neonfarbene Leggins von American Apparel, V-Ausschnitte bis zum Bauchnabel, T-Shirts mit ironischen und verwaschenen Aufdrucken, gürtelbreit abgeschnittene Jeans, you name it: Die modischen scheinbaren Fehlgriffe sind aus dem Stadtbild nicht mehr wegzudenken, neuerdings gibt es sogar eine kritische Hipster-Vertretung. Eine Parallelgesellschaft schlägt zurück.

Einer von denen: Blogger und Buchautor Wash Echte auf seinem Twitter-Profilbild @washechte

Aber wenn es nur die Äußerlichkeiten wären: „Wahre ‚Hipster‘ würden sich selbst nie so nennen“, sagt Wash Echte. Und dieser Wash Echte, über den ich nur und neuerdings weiß, dass er ein 30-jähriger gebürtiger Europäer mit der Muttersprache Englisch ist, nach dreijährigem Studium in Hongkong 2003 nach Berlin zog, erst in eine WG in Prenzlauer Berg, dann nach Friedrichshain („Leider hat sich die Berliner Elite nach dem Prenzlberg ja Friedrichshain als nächstes Ziel ausgeguckt. Neukölln? Ist sowas von Mainstream. Da wohnen nur noch Anwälte und Zahnärzte. Wedding ist das neue Ding!„), und in einer Firma arbeitet, die mit Internet zu tun hat, er aber dort was „technisch/mathematisches“ und „nichts mit Webdesign“ macht, dieser Wash Echte also muss es wissen: Seit über einem Jahr bloggt er anonym über „Ze Elite Germans“ auf ichwerdeeinberliner.com. Jetzt ist das dazugehörige Buch mit 21 neuen Geschichten und in deutscher Sprache erschienen, und man kann und muss sich und ihm ein paar Fragen stellen. Zum Beispiel: Ist das Thema noch nicht durch? Ist anonymes Bloggen feige? Was hat Berlin-Mitte mit dem Rest von Deutschland zu tun? Für die zitty habe ich mit Wash Echte ein Chatinterview geführt, das ich an dieser Stelle fast ungeschnitten raushaue – und mich freue, endlich einen Grund zu haben, die gesammelten Hipsterlinks zu posten, die ich ja dann irgendwie doch immer lustig fand. (mehr …)

Der Provokateur

In den letzten Jahren der DDR reizte Jörg Prüße das Regime bis aufs Blut – indem er seinen Kunden „antisozialistische Frisuren“ verpasste. 20 Jahre nach dem Mauerfall erinnert er sich

Das Licht geht aus, „The War“ von Bruce Springsteen tönt durch die Messehalle. Schüsse, Gefechtsdonner, Handgranaten. Models in NVA-Uniformen marschieren auf das Publikum zu, tragen im Schwarzlicht leuchtende Gasmasken im Gesicht und Panzer, Flugzeuge und Kriegsschiffe auf dem Kopf. Plötzlich stoppt die Musik, Finale: die Models kämpfen, sich der Maskerade zu entledigen. Als Sowjetpräsident Michael Gorbatschow verkleidet betritt Jörg Prüße die Bühne – und befreit die jungen Frauen von ihren Kriegsgerätschaften.

„Auch als Friseur konntest du dir Gedanken machen und gegen das Regime protestieren“, erinnert sich Prüße über 20 Jahre nach dem Mauerfall an seine skandalträchtige Abrüstungsshow auf der „Messe der Meister von Morgen“. Er sitzt im Geschäft seines Sohnes, „John’s ARTiger Frisiersalon“ in Prenzlauer Berg. Prüße ist mittlerweile 58 Jahre und immer noch ein bunter Hund. Er trägt Laufschuhe und Jeans, Lederjacke und Hut, blättert durch alte Zeitungsartikel, erzählt einer Kundin amüsiert von der angeblichen Bisexualität, die in seinen Stasi-Akten vermerkt war. Jahrelang reizte Prüße in der DDR die Funktionäre und den Sicherheitsapparat bis aufs Blut – trotzdem oder gerade deswegen war der Friseurmeister aus Prenzlauer Berg ein Star in einem Regime, das jede Form von Individualismus unterdrücken wollte. Er fiel auf in einer grauen Republik, in der sich niemand etwas trauen durfte.

Ende 1980 eröffnet „Jörgs Frisierstübchen“ in der Greifswalder Straße. Prüße, im väterlichen Salon in Stralsund quasi aufgewachsen, lebt zu diesem Zeitpunkt bereits seit elf Jahren in Ost-Berlin und tobt sich aus. Er ging zur Armee, wurde Diplom-Ingenieur, lernte Arzthelfer, trat in TV-Shows auf. Er musste das alles ausprobieren, sagt er, „um zu merken, dass ich wirklich Friseur werden will.“ Schnell mausert sich der Laden zum Geheimtipp – die unkonventionellen Frisuren grenzen an offene Regimekritik. „Wenn wir damals Haare färbten, war das ein unvorstellbarer Protest. Ich musste zum Ministerium, weil die jugendlichen Kunden wegen roter oder blauer Haare von der Schule geflogen sind“, erinnert er sich an die alte Zeit in seinem ersten Salon, diesem „Sammelbecken der bunten Hunde“. Gabi, Amanda, Mike, jeder Mitarbeiter war ein Original, bei Prüße konnten sie es sein. Frank Schäfer fällt ihm zuerst ein, „den kannte zu Ostzeiten jeder“. Schäfer war tätowiert, frisierte auf Rollschuhen. Prüße ließ ihn machen.

Sein Team sorgte besonders wegen seines künstlerischen Selbstverständnisses für Aufsehen. Jeden Donnerstag war Shownacht, Prüße stylte die Besucher, es gab Live-Musik und immer viel zu trinken. Der Salon wird zum Anlaufpunkt für Punks und Bohemians – aber bald auch für Kunden aus der Politik und sogar aus West-Berlin. Zum Beispiel Frau N., die gerne mal den „Spiegel“ und andere Westzeitungen im Salon liegen ließ. Weil Frau N. „eine nicht unbedeutende Mitarbeiterin der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik“ war, ließ der rasch informierte Abschnittsbevollmächtigte den Vorfall durchgehen.

Weil er eine öffentliche Person war, konnte sich Prüße einiges erlauben – die Aufmerksamkeit schützte ihn. Aber immer öfter provozierte er die Auseinandersetzung mit dem Regime auf der größeren Bühne. Er wollte nicht bloß Haare schneiden, sondern Entertainer sein und entwickelte eine eigene Schaufrisiershow namens „Chic und Choc mit Jörg“. Ein Scout von Vidal Sassoon sah eine seiner ersten Shows in Ost-Berlin und holte ihn, den Exoten, nach Paris. Ein Beamter des Ministeriums für Kultur ließ sich mit harter Währung schmieren, stufte Prüße als Unterhaltungskünstler ein. Mittlerweile musste er selbst an Narrenfreiheit glauben. Von Rostock bis Dresden schnitt er Haare mit Samuraischwertern, präsentierte Intimfrisuren in Schwarz-Rot-Gold. Bei der Premiere seiner Abrüstungsshow, dem Gipfel der Gratwanderung zwischen Kunst und Protest, saß Konrad Naumann im Publikum. Naumann war erster Sekretär der SED-Bezirksleitung Berlin, seine Frau Vera Oelschlegel Schauspielerin und längst Kundin von Prüße. Ihr verdankte er auch seinen Lada, während andere Ostbürger noch auf ihren Trabant warteten.

Von jetzt an schien es nur noch eine Frage der Zeit, bis Prüße von der Bühne verschwinden musste. Die Berliner Friseurinnung attestierte ihm einen antisozialistischen Frisurenstil und distanzierte sich nach der Abrüstungsshow ganz von ihm. Prüße war das egal. Dann aber, während einer weiteren „Chic und Choc“-Show in der Berliner Kongreßhalle am Alex, stürmte ein Trupp der Bereitschaftspolizei auf die Bühne, nahm Prüßes Leute fest. Die Stasi legte ihm die Ausreise nahe – ein unerhofftes Privileg für jeden anderen Ostbürger. Aber Prüße wollte nicht. Also häuften sich die Repressalien, Steine flogen durch die Fenster von „Jörgs Frisierstübchen“. Prüßes Team ließ sich nicht unterkriegen, bemalt die Steine und lässt sie als Kunstwerk liegen. „Der Letzte macht das Licht aus“ war ihr Running Gag. Dann fiel die Mauer.

"Früher war ich ein Casanova": Jörg Prüße über die Entstehung seiner Biografie "Haarscharf - Geständnisse"„Wir waren uns einig“, sagt Prüße und rührt in seinem Milchkaffee, „hätten die uns verhaftet, dann sollte das so sein.“ Er nimmt seine mittlerweile elf Jahre alte Biografie „Haarscharf – Geständnisse“ zur Hand, sieht sich auf dem Cover und lacht auf: „Mensch, hab mich ja kaum verändert seitdem!“ Die Glatze ist geblieben, der Schnurrbart ist jetzt ab. Auch die unzähligen Frauengeschichten während der Frisiertouren, von denen seine Frau in dem Buch erfuhr, sind Vergangenheit, die Ehe hat es überstanden. Die Aufmerksamkeit hat er immer genossen, er genießt sie auch heute noch. „Natürlich habe ich das Buch auch wegen meiner Profilneurose geschrieben. Nach der Wende aber wollte mir jeder Wessi erzählen, wie wir im Osten gelebt haben. Denen wollte ich zeigen, dass nicht alles scheiße war.“

Je näher das wiedervereinigte Deutschland zusammenrückte, desto ruhiger wurde es um Prüße. Nach der Wende tingelte er durch Talkshows und eröffnete „Jörgs Frisiercabinet“. Sogar Lothar de Maizière, der letzte DDR-Ministerpräsident, ließ sich die Haare schneiden, weil seine Frau Ilse ihn mitbrachte. Von 1997 an schmiss das Ehepaar Prüße jeden Donnerstag Clubshows im neuen Domizil am Ostbahnhof, das sie bis 2005 betrieben. Heute, an der Danziger Straße, ist es ruhiger, obwohl der Laden besser läuft. Auf Show und Livemusik verzichten Prüße und sein Sohn inzwischen ganz. Wahrscheinlich würden sie damit auch kaum noch auffallen. Bunte Hunde gibt es in Berlin schließlich längst überall.

(erschienen in: zitty, Februar 2009)

Dann trinken wir aus Tüten

Die Berliner CDU fordert ein Alkoholverbot an allen öffentlichen Plätzen. Die Drogenbeauftragten des Landes stimmen ein. Muss die Institution Kiosk Angst vor schwindenden Kunden haben?

Die vor Monaten entbrannten Diskussionen um das bundesweite Rauchverbot vernebelten noch die klare Sicht der Berliner Ordnungsämter, als zum Jahreswechsel ein weiteres Gesetz für dünne Luft in der Innenstadt sorgen sollte: Eine Umweltplakette musste her. Während Gastwirten und Autofahrern gleichermaßen der Kopf raucht, wer denn nun wo was darf und was nicht, kommen im Überwachungswahn auch die partylustigen Fußgänger, egal welchen Alters, nicht ungeschoren davon. Frank Henkel, parlamentarischer Geschäftsführer und innenpolitischer Sprecher der Berliner CDU-Fraktion, forderte vergangene Woche „ein generelles Alkoholverbot auf Straßen, Plätzen und im öffentlichen Nahverkehr.“ Entsprechende Anträge will er dieser Tage im Landesparlament einreichen, weil „niemand mit der Flasche am Hals über den Kurfürstendamm spazieren muss.“

In anderen Städten ist so ein Verbot teilweise bereits Realität: In Magdeburg herrscht rund um den Hasselbachplatz seit dem 01. Februar Trinkverbot, das Kneipenviertel „Bermudadreieck“ in Freiburg ist bereits seit Jahreswechsel alk- und glasfreie Zone. Zumindest abends und am Wochenende und erstmal auf Probe. Marburg zieht nach. Die Stadt Hamburg sprach bisher nur eine Empfehlung an ihre Tankstellen und Trinkhallen aus. Berlin-Spandau bemühte sich erst vor drei Jahren um die Einführung eines öffentlichen Alkoholverbots, vergeblich. Das Berliner Straßengesetz untersagte 1999 erstmalig öffentlichen Alkoholkonsum, 2006 wurde dieses Verbot wegen mangelnder Durchsetzung wieder gestrichen. Seit sich im vergangenen Jahr ein Jugendlicher zu Tode gesoffen hat – in einer Bar – halten die Diskussionen erneut an. Der Prozess gegen den Wirt und zwei Angestellte begann letzte Woche, Henkel nahm das Thema wieder auf seine Agenda. Er argumentiert, die Bürger hören nur bedingt zu.

Das Bier auf der Hand hat sich besonders in jungen Berliner Bezirken wie Kreuzberg, Friedrichshain oder Prenzlauer Berg genauso im Ortsbild verankert wie Dönerbuden, Latte Macchiato-Trinker oder Kinderwagen. Berlin ist groß, die Wege lang, der nächste Kiosk immer in Sichtweite. Längst ist das Geschäft mit Alkohol nicht mehr nur ein Nebenverdienst, sollte man meinen. Würden wegen eines Konsumverbots in der Öffentlichkeit etliche Kleinunternehmer um ihre Existenz bangen müssen, weil Ihnen die Kunden ausblieben?

Flanieren und trinken

„Ach, der Verkauf von Alkohol macht vielleicht 20 Prozent unseres Gesamt-Umsatzes aus“, sagt Jonas Gebrelassie und beschwichtigt. „Den größten Umsatz machen wir mit Tabakwaren, den größten Gewinn mit Süßigkeiten.“ Gebrelassie arbeitet im Akuna Matata, Berlins wahrscheinlich höchstfrequentiertem Kiosk. Seit über 18 Jahren steht das Geschäft im Zentrum von Prenzlauer Berg, am Treppenaufgang zur U-Bahn-Station Eberswalder Straße. Die Linie U2 verkehrt hier überirdisch, unter ihr treffen Kastanienallee, Schönhauser Allee, Pappelallee, Danziger Straße und Konnopkes alteingesessener Currywurst-Imbiß aufeinander. Ein Verkehrsknotenpunkt, ein Magnet und Ausgangspunkt gleichermaßen.

Hier wird nicht nur getrunken: Das Akuna Matata an der Eberswalder Straße, © prenzlauerberger.wordpress.com

Am Freitagabend um 21 Uhr feiert das Akuna Matata – bei den Suaheli bedeutet sein Name „keine Probleme“ – Hochbetrieb. Es ist warm für einen Februartag und die Leute kaufen sowieso mehr Bier als unter der Woche. Vor allem Touristen landen hier freitags und samstags regelmäßig, die alternative Flaniermeile Kastanienallee findet in jedem Reiseführer Erwähnung. Die nächste U-Bahn fährt unter lautem Geröll ein, die nächste Meute Unternehmungslustiger fällt in das Szeneviertel ein. Flaschen klimpern, Koffer rollen, Sprachen treffen aufeinander. Gebrelassies Radio beschallt das Fußvolk mit lauter Musik. Ein Mann mit Anzug und Aktentasche ist in Eile, kauft eine Packung Zigaretten und verschwindet mit dutzend anderen Passanten über die Straße. Ein Pärchen hat mehr Zeit, kauft auch Zigaretten und wählt aus der durchschnittlichen Bierauswahl zwei Flaschen Becks. 1,40 € pro halber Liter, „günstig hier in Berlin“. Die gleiche Menge Sternburg kostet sogar nur 80 Cent. Andere kaufen ein Bier oder kein Bier, trinken, lesen, beobachten andere Passanten und warten. „Das ist ein Treffpunkt hier“, sagt Gebrelassie gutgelaunt und verkauft eine Flasche Cola über den Tresen.

Christine Köhler-Azara, Berlins Drogenbeauftragte, sieht in Läden wie dem Akuna Matata ein Problem. Alkohol sei in Deutschland viel billiger und überall verfügbar. Zwar hält sie Verbote für kontraproduktiv, wenn sie nicht umzusetzen sind und entkräftet somit die Realisierung von Henkels Vorhaben. Es sei aber „eine Überlegung wert“, in den Spätkaufläden oder Tankstellen den Alkoholverkauf in Abend- und Nachtstunden zu verbieten.

Das Akuna Matata gleicht einem Flagschiff unter den Seinen. Nicht wegen der eigentlich überschaubaren Auslage, sondern wegen seines Durchlaufs. Allein in einem 200 Meter-Radius lassen sich über eine Handvoll weiterer Geschäfte finden, die Alkohol verkaufen. Konkurrenzdenken herrscht nicht. Die Kiosk-Kultur in Berlin boomt. 695 Unternehmen sind in der Branche „Einzelhandel mit Getränken, darunter Wein, Sekt, Spirituosen und sonstige Getränke“ bei der Industrie- und Handelskammer der Hauptstadt gemeldet. Dazu kommen 304 Tankstellen. Das Geschäft mit Alkohol zieht Kunden. Zeitungsläden und Trinkhallen in ehemaligen Arbeiterbezirken wie Moabit oder Wedding begrüßen schon morgens Stammgäste zu Bier und BZ. Touristen oder Discobesucher verlaufen sich in der Regel nicht dorthin. Die Betreiber sind auf jeden Kunden angewiesen.

Das Akuna Matata ist das nicht, und Alkoholiker lungern vor dem freistehenden Kiosk heute Abend keine. Uwe Witter, Stammkunde und Kiezkenner, trinkt Kaffee aus der Selbstbedienungsmaschine, raucht und beobachtet das Treiben. Nebenan begrüßt eine Gruppe Jugendlicher unter Jubel und Applaus zwei verspätete Freunde, die einen Kiste Sternburg im Handgepäck haben. Ein konkretes Ziel haben sie noch nicht, „aber wir gehen hier gerne raus. Manchmal auch an der Warschauer Straße. Discos, Bars, nix Spezielles, Hauptsache Stadt“, sagt die 17-jährige Birgit aus Charlottenburg. Auch ihre Freunde Robert und Moni, beide 18, sind sich einig, dass ein Alkoholverbot Ihnen das Bier auf der Hand vor dem Bier in der Bar nicht nehmen würde. „Dann würden wir es heimlich trinken, aus der Jacke oder einer Tüte. Das ist billiger als in der Kneipe“, erklärt Robert mit tief ins Gesicht gezogener Wollmütze, „und außerdem gehört Vorglühen doch einfach dazu.“ Moni beschreibt die Problematik eines Verbots noch pragmatischer: „Ob ich mich zuhause besaufe und dann auf die Straße gehe oder gleich hier trinke ist doch egal“.

Alter Wein in neuen Tüten?

Jonas Gebrelassie verdient sein Geld nicht zuletzt dank dieser Mentalität seiner Kunden, deren Streifzüge immer öfter in Saufgelage ausarteten. Aber ein Alkoholverbot, wie Henkel es wieder vorgeschlagen hat? „Am liebsten sofort, da wäre ich absolut dafür!“ sagt Gebrelassie entschieden wie überraschend. Der 42-Jährige lebt seit 15 Monaten in Berlin, kam aus Kassel. So was wie hier habe er noch nie gesehen, die Kinder hätten keinerlei Hemmungen mehr, wie die hier alle die Sau rausließen. Natürlich würde der Verkauf etwas zurückgehen, aber das Geschäft mit Alkohol sei eben nicht die Haupteinnahmequelle, und außerdem müsse man nur wegen der paar Euro mehr nicht an sich denken, sondern auch an die anderen. Die Kids würden immer dreister, beauftragten fremde Erwachsene, wenn er Ihnen nichts verkauft. Während er davon erzählt, greift ein Jugendlicher wortlos zur Kaffeemaschine, erschleicht sich drei Pappbecher und stiehlt sich gewollt unauffällig davon. „So geht das nicht, Kollege“, ruft Gebrelassie freundlich und bestimmt, man würde doch wohl noch mal fragen können. Geduckten Hauptes entschuldigt sich der Junge, bedankt sich für die Plastikbecher, die er stattdessen bekommt und geht. Amüsiert wie verständnislos kommentiert Uwe Witter, seit 18 Jahren trockener Alkoholiker, das Geschehen: „Der will sich und seinen Kumpels natürlich um die Ecke ne Schnapsmischung basteln.“ Gebrelassie und seine Kollegen passen auf, nicht nur auf ihre Kunden, auch auf sich selbst und ihren Ruf.

Großstadtidylle. © reifenwechsler.blogspot.com
Ein paar Meter weiter, im Ladenkiosk Notlösung, sieht Besitzer Ingo Reckin das alles nicht ganz so streng: „Dit jehört ins Sommerloch“, schimpft der Berliner, „wieder sone bepisste Idee von Deutschland, die nich umzusetzen is“. Neben Lebensmitteln, Süß- und Tabakwaren hat er außer Bier auch eine große Auswahl an Wein und Spirituosen. Auch sein Umsatzanteil von Alkohol liegt bei vielleicht 25 Prozent, und obwohl hier regelmäßig junge Leute auf dem Weg zur Diskothek Icon vorbeikommen, lebt Reckin von seinen Stammkunden, 60-70 Prozent der Verkäufe machten die aus. Wenn mal jemand zu sehr schwanken würde, ginge Reckin sicherheitshalber selbst zum Kühlschrank und hole dem Kunden sein Bier. Nur wenn der viel zu hacke wäre, würde er sich das mit dem Verkauf noch mal überlegen. Und bei einem Alkoholverbot draußen? „Papptüte und erledigt, wie in Amiland“.

Ein mögliches Alkoholverbot in der Öffentlichkeit: Alter Wein in neuen Tüten? Eine Verschiebung des Problems von außen nach innen? Ein ernstzunehmendes Zukunftsszenario oder ein Thema fürs post-karnevalistische Loch? Fest steht: Wo kein Kläger, da kein Richter. Über einen U-Bahn-Fahrgast mit Feierabend-Bier wird sich wohl kein Berliner echauffieren. Über ausschreitende Besoffene, egal welchen Alters, schon. Sind die Teilverbote von Magdeburg und Freiburg vielleicht tatsächlich ein Vorbild? Unwahrscheinlich. Berlin hat nicht ein Zentrum, sondern jeder Stadtteil sein eigenes. Die Ordnungsämter kämpfen auch in Zukunft weiter mit dem Anti-Raucher-Gesetz, die Polizei hat ebenfalls anderes zu tun. Köhler-Azaras Frage in allen Ohren: Wer soll das alles bloß kontrollieren? Solange es die Gesellschaft nicht tut, lässt sich der Berliner sein Wegebier nicht nehmen.