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Was da klappert, trennt den Körper vom Geist

Mit der Schreibmaschine begann die Automatisierung intellektueller Tätigkeiten: Rückblick auf ein altertümliches Instrument

Jack Nicholson hämmerte in Stanley Kubricks „The Shining“ mechanisch diesen einen Satz tagelang in seine Schreibmaschine: „All work and no play makes Jack a dull boy“ – „Arbeit statt Spiel macht Jack zum dumpfen Jungen“. Dies ist die zweitbekannteste Interpretation einer Errungenschaft des späten 19. Jahrhunderts: Die Schreibmaschine erscheint hier als verlängerter Arm des Geistes – und zwar eines zerrütteten. Der niedergeschriebene Wahnsinn in „The Shining“ führte 1980 ein Bild fort, das der Romancier Bram Stoker 83 Jahre früher in „Dracula“ zu zeichnen begonnen hatte. (Fiktive) Manuskripte, Briefwechsel und Zeitungsartikel, gerade aber die eifrig getippten Tagebucheinträge von Jonathan Harkers Verlobter Mina als „Diskursangestellte“ dokumentieren im ersten Vampirroman der Literaturgeschichte die Klimax des Grauens. Denn mit welchen Mitteln wird der Vampir, diese Erscheinung aus einem geographisch abgelegenen und historisch völlig überholten Osteuropa überwunden? Mit dem Grammophon, der Schallaufzeichnungsmaschine eines Wissenschaftlers, und der Schreibmaschine, dem Schriftaufzeichnungsgerät einer frühen Sekretärin.

Der Bau der ersten marktfähigen Schreibmaschine geht auf ein dänisches Taubstummeninstitut im Jahr 1865, über 400 Jahre nach dem ersten Typenbuchdruck, zurück. In Deutschland hält die Technik des mechanisch reproduzierten Wortes 17 Jahre später Einzug; im Jahr 1898 nehmen die Adler-Werke, damals noch Heinrich Kleyer GmbH, die Produktion auf. Seit Menschengedenken wurde all jenes Gedankengut nachfolgenden Generationen überliefert, das in die jeweiligen „Aufschreibesysteme“ ihrer Zeit aufgenommen wurde. In seinem gleichnamigen Standardwerk beschrieb der Medientheoretiker Friedrich Kittler 1985 Aufschreibesysteme primär als technische, analoge wie digitale Einrichtungen zur Speicherung von Daten – von der Höhlenmalerei über Tonaufnahmen bis zum Schriftdruck und darüber hinaus. „Akten verlieren an Macht“, heißt es im Vorwort zu Kittlers „Grammophon. Film. Typewriter“, „wenn die realen Datenströme unter Umgehung von Schrift und Schreiberschaft nur noch als unlesbare Zahlenreihen zwischen vernetzten Computern zirkulieren.“ Der Anfang vom Ende der Handschrift war in den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts, als Friedrich Kittler dieses Buch verfasste, längst eingeläutet, argumentieren Kulturpessimisten. Und es stimmt ja auch: ein papierloses Büro ist kein Büro. „Von den Leuten gibt es immer nur das, was die Medien speichern und weitergeben können“, heißt es in jenem Vorwort zeitlos weiter. Von den Auswirkungen des heutigen Datenverkehrs war Kittlers Arbeit damals noch unbehelligt.

Tatsächlich spinnt sich um die Einführung der Schreibmaschine im späten 19. Jahrhundert eine Kulturgeschichte in vielen Kapiteln. Die Alphabetisierung großer Bevölkerungsgruppen lag noch nicht lange zurück, die Handschrift in ihrer Schulform – als unendliche, geschwungene Linie – hatte sich gerade durchgesetzt, auch als Ausdruck der Person, des einzigartigen Menschen. Da löste die Schreibmaschine diese Bindung wieder auf, indem sie (nach einiger Übung) die Schrift blind werden ließ: Man musste ja nicht einmal mehr hinschauen. Und gleichzeitig waren die Grundlagen für eine bald unendliche Reproduktion gelegt – zuerst als Durchschlag, dann als Kopie. Es dauerte also nicht mehr lange, bis Heerscharen von Stenotypistinnen damit beschäftigt waren, unendliche Mengen von Texten anzufertigen, die sie oft nicht verstanden und auch nicht verstehen mussten. Und auch die Philosophie entdeckte die Schreibmaschine: Friedrich Nietzsches (minus 14 Dioptrien) Aphorismen wären kaum entstanden – und vor allem: so nicht entstanden –, hätte er nicht eine Schreibmaschine benutzen können.

Seit der flächendeckenden Einführung elektronischer Datenverarbeitung, seit nunmehr rund 20 Jahren also, fristet die Schreibmaschine ein immer blasser werdendes Schattendasein. In ihren Erben lebt sie als Computer, Laptop oder Handy freilich weiter, in immer höheren Automatisierungsgraden. In Film und Fernsehen aber versinnbildlicht die Darstellung ihrer Nutzung den Schreibenden als letzten Puristen seiner Art, als Romantiker – oder als heillosen Chaoten, der im Wahnsinn seines Genies von der Klippe springt. Das längste geläufige englische Wort übrigens, das sich mit einer Buchstabenreihe einer amerikanischen „QWERTY“-Schreibmaschine wie auch mit dem US-Computer-Keyboard tippen lässt, lautet: „typewriter“.

(erschienen in: Süddeutsche Zeitung, 19. November 2008, Seite 20, Wirtschaft)

Tod in der Weißen Nacht

Zum 30. Jahrestag des Massenselbstmordes von Jonestown gibt es neue Dokumente

Die Utopien starben in der Nacht des 18. November 1978 in Jonestown. Der Massenselbstmord der Sektenmitglieder traf Amerika tief, denn er stellte so vieles in Frage – das Ideal der Gründerväter von einer Neuen Welt als Zufluchtsort der freien Religionen, die Hoffnungen der Hippiegeneration mit einem Ausstieg aus der bürgerlichen Gesellschaft eine gerechtere Welt zu schaffen. „Liebe Leute“, eröffnet Phyllis Chaikin ihren Eltern noch am 15. April 1978 in jetzt aufgetauchten Schriftstücken, „ich bin überglücklich, dass Gail und David in einer Kommune aufwachsen, die ihre Ideale unterstützt. Ihr wäret stolz, wie stark und unabhängig sie sind. Ich arbeite jetzt als Krankenschwester.”

Als Phyllis Chaikin diese Worte verfasst, lebt die 39-jährige Tochter von Herbert und Freda Alexander seit drei Jahren in Jonestown. Mit ihrem Mann Gene, ihren zwei Kindern sowie über tausend weiteren Anhängern der „Peoples Temple“- Sekte folgt sie ihrem Führer Jim Jones erst in die selbst erbaute Zufluchtssiedlung im südamerikanischen Guyana, ein halbes Jahr nach ihrem Brief an die Eltern in den frei erwählten Tod.

30 Jahre nach den Ereignissen des 18. November 1978, die als „Weiße Nacht“ in die Kriminalgeschichte Amerikas eingingen, findet ein Handwerker im Keller des Hauses der Familie Isaacson in Los Angeles, einen Koffer. Der Inhalt: Zeitungsberichte über den religiösen „Peoples Temple“-Kult und Briefe von Phyllis, Gail und David Chaikin. Erst 1992 zog das Ehepaar Alexander aus dem Haus aus, in dem ihre einzige Tochter aufwuchs. Familie Isaacson zog ein. Die Briefwechsel, Barry Isaacsons Recherchen sowie lange unter Verschluss gehaltene FBI-Akten untermauern nun die durch Berichte von Überlebenden und Fernsehdokumentationen gestützten Vermutungen, dass der berüchtigste religiöse Massenfreitod in der amerikanischen Geschichte so frei gar nicht war.

Der Kalte Krieg und das psychologische Tief nach dem Wirtschaftswunder treibt suchende Seelen in die Arme und Lehre des „Peoples Temple“. 1972 lernen die Chaikins den kommunistischen Prediger Jim Jones aus Indianapolis und seine Vision von einer altruistischen Welt ohne Rassismus kennen.

Jones, der sich selbst als eine Art „Elvis Presley der Religion“ sieht, untersagt seinen Jüngern jeglichen Kontakt zu Familie und Freunden. Sie nennen ihn Vater, doch nach seinem raschen Aufstieg werden erste öffentliche Zweifel laut. Ein Jahr nach Beitritt der Chaikins gerät sein 1956 begründeter Kirchenersatz zunehmend in Verruf. Jones sei ein Scharlatan, der Wunderheilungen vortäusche und den Mittleren Westen der USA vom drohenden nuklearen Holocaust erretten wolle. Er kultiviert eine Religion der Angst. Schließlich verbarrikadiert er sich und seinen „Peoples Temple“ 1975 im guyanesischen Jonestown.

Zyankali für die Kinder

Phyllis, längst zu Jones’ Mitdenkerin aufgestiegen, während sich in anderen Jüngern ebenfalls Zweifel an der nie gewollten Diktatur und Sklaverei regen, plant den Massenselbstmord in einem Brief an ihren Übervater mit erschreckendem Kalkül: „Dad. Diejenigen unter uns, die sich einem revolutionären Selbstmord verweigern, um ihren Arsch zu retten, werden zu ihrem Todesort eskortiert (ich traue niemandem, seinen eigenen Tod zu arrangieren, aber mit Druck von außen und ohne Alternativen sollte es funktionieren). Ein Kopfschuss, im Zweifel ein Skalpellschnitt durch den Hals. Ich helfe, falls es notwendig wird. Die Leichen werfen wir in ein Loch. Es könnte hilfreich sein, den Leuten vorher die Augen zu verbinden, damit das Blut und die leblosen Körper ihrer Vorgänger ihre Beunruhigung nicht steigern.“

Was am Abend des 18. November 1978 wirklich geschah, bleibt im Dunkel. In den Monaten zuvor rief Jones die „Weiße Nacht“ mehrfach aus, verteilte den Punsch aus Brausepulver der Marke Kool-Aid ohne Gift, um die Loyalität seiner Anhänger zu prüfen.

Nach einem Fluchtversuch und einer mutigen wie gefährlichen Aufbegehrung von Jones’ Consigliere Gene Chaikin eskaliert die Lage: Der kalifornische Abgeordnete Leo Ryan will sich ein Bild von Jonestown machen, fliegt am 14. November nach Guyana. Die Glückseligkeit im scheinbaren Paradies ist nichts mehr als eine Inszenierung. Einzelne Bewohner riskieren ihr Leben und das ihrer Kinder, stecken dem Politiker Hilferufe zu, bitten um Befreiung aus den Fängen eines Wahnsinnigen. Jones erfährt davon, Ryan und sein Team werden angegriffen und während ihrer Flucht erschossen. Jones, mittlerweile selbst Vater eines Sohnes, verkündet die endgültige „Weiße Nacht“. Tonbandaufnahmen belegen Jubel, Aufruhr und Schüsse. Über 250 Kinder, die den tödlichen Zyankali-Fruchtpunsch nicht trinken, werden erschossen. Mindestens 913 Menschen sterben in dieser Nacht, durch Selbstmord oder Mord. Augenzeugen berichten später, dass unter der Gruppe, die die Giftmischung an die Sektenmitglieder verteilte, auch Phyllis Chaikin war.

Das Massaker von Jonestown markiert keineswegs den letzten gemeinsamen Selbstmord einer Sekte. In das kollektive Gedächtnis der Amerikaner aber hat es sich eingebrannt wie kein zweites. Es gibt bis heute eine stehende Redewendung, dass jemand „Kool-Aid“ getrunken habe, wenn er blind an eine Sache glaubt. Herbert und Freda Alexander ist damit freilich nicht geholfen. „Falls Reverend Jones und der ‚Peoples Temple’ gegen das biblische Gebot ‚Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren’ ist,“ schreibt Vater Herbert seiner Tochter ein Jahr vor der „Weißen Nacht“, „so liegt es an dir, jeden Kontakt mit deiner Familie für immer abzubrechen. Wir haben nur ein Recht, von dieser Entscheidung zu erfahren. Die Vergangenheit ist in dem Moment vergessen, an dem du zurückkehren willst.“ Phyllis kam nicht wieder.

(erschienen in: Süddeutsche Zeitung, 18. November 2008, Seite 12, Feuilleton)

Die Frau von der Bank

Sie pflanzte Rosen und kümmerte sich um die Nachbarn: Edith Heller wohnt seit 44 Jahren im Hansaviertel und kennt dort jeden

Ihre linke Hand hält sich am Geländer fest, die rechte versteckt sich in der Tasche ihrer roten Sommerjacke. „Ich bin ’ne Blumentante!“, sagt Edith Heller und zupft an einer der farbigen Blüten im Kasten. In braunem Rock, hellgrüner Bluse und Netzpantoffeln mit goldfarbenen Pailletten steht die 72-Jährige auf ihrem großen Balkon, atmet schwer und freut sich über ihre Stiefmütterchen und Geranien. Ein bisschen stolz ist sie auch, während sie von ihrem einzigen Hobby erzählt. „78 Balkons“, sagen zu ihr die Leute, „und keiner sonst hat Blumen!“

Seit 44 Jahren wohnt Edith Heller in ihrer 68-Quadrameter-Wohnung im ersten Stock des langgestreckten Scheibenhauses von Oscar Niemeyer. Alleine war sie nie. Ihr Mann starb vor acht Jahren, aber Klaus, ihr jüngster Sohn, wohnt bei ihr und pflegt sie. Bis sie vor elf Jahren in Rente ging, hat sich Edith Heller um Haus und Garten gekümmert. „Mein Mann und ich, wir haben hier alles bepflanzt. Auch die Rosenbüsche da unten. Nur die Dornenhecke“, sie zeigt auf die weitläufige Wiese an der Altonaer Straße, „die hamse wieder weg jemacht.“ Für die Geschichte des Hansaviertels hatte sie sich nie interessiert, von der Internationalen Bauausstellung kaum etwas mitbekommen. „Suchen wir uns ’ne Hauswartsstelle“, sagte Edith Heller 1963 zu ihrem Mann. Und im Niemeyer-Haus brauchten sie gerade jemanden.

Die Nachbarn kennen Edith Heller auch von ihrem Lieblingsort: Im Sommer sitzt sie gern auf der Parkbank am kleinen Spielplatz vor der Akademie der Künste, allein oder mit anderen Familien, um zu erzählen. „Über Edith kann ich nur Gutes sagen. Sie ist immer hilfsbereit und höflich“, sagt ihre langjährige Nachbarin Sabine Krüger aus Aufgang Vier, „rund um die Bartningallee kennen sie viele“. „Ich bin ja ein bunter Hund hier“, sagt Edith Heller und lacht. Früher ging sie mit ihren Söhnen und später mit ihrer Enkelin zum Spielplatz. „Das war wie eine große Familie, alle kannten sich von dort“, sagt sie, geht langsam vom Balkon zurück in ihre Wohnung und setzt sich auf die dunkelblaue Couch.

Edith Heller hat ihr Leben lang gearbeitet. Zehn Jahre hatte sie neben ihrem Job im Niemeyer-Haus eine Putzstelle im Rathaus Tiergarten, wollte von ihrem Mann unabhängig sein. Als Schülerin bekochte sie ihre Familie und die Nachbarskinder, in ihrem Heimatdorf in Mecklenburg-Vorpommern. Als 19-Jährige packte sie 1954 das Nötigste zusammen und reiste zu Verwandten nach Westberlin, „bei uns gabs ja keene Arbeit mehr“. Dort lernte sie 1960 ihren Mann kennen. Ein Jahr darauf heirateten sie, später kamen drei Söhne. Während sie erzählt, stützt Edith Heller sich auf ihr geschwollenes Bein. Seit drei Jahren leidet sie an Krebs. „Hellerchen, lass dir dat machen!“, zitiert sie ihren Hausarzt, lacht wieder und haut mit der linken Hand auf den Tisch, so, wie andere sich auf die Schenkel klopfen.

Im Hansaviertel lebt Edith Heller immer noch gern – „so viele gute Erinnerungen“ habe sie. In den Sechzigern wohnten hier, „trotz des sozialen Wohnungsbaus“, viele Anwälte, Doktoren, Architekten, „alles nette Leute, keiner war hochnäsig!“. Das Grün, die Spielplätze, die freien Flächen, die Gemeinschaft, der Supermarkt Bolle – an nichts habe es gefehlt.

Etwas Unschönes fällt ihr doch noch ein. „Oben, in dem schon immer ungenutzten Gesellschaftsraum, da konnten die Kinder ja eigentlich gut spielen. Aber ich musste das verbieten, weil der damalige Besitzer Holzmann das so vorschrieb. Da gab es wohl Beschwerden.“ Die Hauswartin Edith Heller war „eigentlich immer die gute Seele hier im Haus“, sagt Christiane Wolff, eine andere Nachbarin aus Aufgang Acht.

Seit die meisten Wohnungen privaten Eigentümern gehörten, findet Edith Heller, trügen viele Bewohner ihre Nase doch etwas höher, obwohl sie ja noch immer nett seien. Wenigstens die Dealer, die schonmal vor ihrem Haus Rauschgift unter den Steinen zwischenlagerten, seien kaum noch da. Und ein schlechtes Gewissen hat sie, in einem anderen Viertel in einem günstigeren Supermarkt einzukaufen, „weil die Rente doch so knapp is‘ und die Miete nicht ganz billig“. Fast 600 Euro zahlt sie warm. Aber wegziehen? „Nich für Jeld und jute Worte!“

Edith Heller fährt sich durchs dunkelgraue Haar, schaut am großen neuen Fernseher, an den alten Möbeln vorbei, blickt aus dem großen Fenster und lächelt zufrieden. Nur an ihrem Lieblingsplatz war sie wegen ihrer Krankheit schon lange nicht mehr. „Am Spielplatz“, sagt Edith Heller, „da läuft der Film meines Lebens nochmal ab“.

(erschienen in: die tageszeitung, 09. November 2007, Sonderbeilage „50 Jahre Hansaviertel Berlin“)