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Noch acht Minuten, Dad

9/11-Kitsch, Fantasie und Familienfindung: Stephen Daldrys Bestseller-Adaption „Extrem laut und unglaublich nah“ lief auf der 62. Berlinale außer Konkurrenz

Oskar hat eine scheinbar unlösbare Aufgabe vor sich. Sein Vater, der Juwelier Thomas Schell, kam bei den Anschlägen am 11. September 2001 im World Trade Center ums Leben. Zwei Jahre nach dem „schlimmsten Tag“, wie Oskar ihn nennt, findet der zurückgezogene Neunjährige in Papas Kleiderschrank einen Schlüssel, aber keinen Hinweis darauf, in welches Schloss er passt. Und weil sein Dad nie etwas dem Zufall überließ und seinen Sohn schon zu Lebzeiten animierte, genauer hinzusehen („Wenn man glauben will, findet man Gründe dafür“), macht Oskar sich minutiös auf die Suche – nach dem Schlüsselloch, nach Vergangenheit, Gegenwart und nach der Lösung des letzten Rätsels seines Vaters, nach Fremden und Familie und somit am Ende auch nach sich selbst.

Extrem laut und unglaublich nah
Alt- und Jungstar: Max von Sydow und Thomas Horn in "Extrem laut und unglaublich nah"

„Extrem laut und unglaublich nah“ bemüht sich, das Innenleben von Oskar Schell vor und nach seinem persönlichen 9/11 zu sezieren. In Rückblicken lernt der Zuschauer etwa, dass Oskar schon vor dem Tag, an dem sein Vater starb, ein Schisser war, dem selbst die Schaukel im Central Park zu gefährlich ist. Jetzt, auf seiner Suche quer durch New York, erzählt der Junge einer fremden Frau, dass er mal auf Asperger-Syndrom getestet worden wäre und begegnet neuen irdischen Ängsten; Zügen, U-Bahnen, Brücken, Hochhäusern, alten Menschen, zum Beispiel. Er gibt nicht auf, alles muss schließlich einen Sinn ergeben, findet er. Aber es gibt, so mahnt ihn seine verzweifelte Mutter in einer der bewegendsten Szenen unter Tränen, nichts Sinnloseres als den Tod seines Vaters und all der anderen Menschen, weil ein anderer Mann in ein Hochhaus geflogen sei. Das erkennt Oskar freilich nicht, sein Motiv indes selbst am besten: „Wenn die Sonne plötzlich nicht mehr wäre, wäre die Welt noch acht Minuten heil“, sagt er im Verlauf seiner Suche, weil es noch acht Minuten dauern würde, bis ihr Licht die Erde nicht mehr erreicht. Diese acht Minuten will er sich seinen Dad mindestens bewahren. Vielleicht ja auch für immer.

Die Romanvorlage zu „Extrem laut und unglaublich nah“ von Bestsellerautor Jonathan Safran Foer galt wie so viele Bestseller als unverfilmbar, weil Foer ein so unkonventioneller Erzähler ist und sich Bildern, Briefen, Illustrationen und Oskars Gedanken bediente. Regisseur Stephen Daldry („Billy Elliot“, „Der Vorleser“) ist es mithilfe seines Ensembles dennoch gelungen, aus der komplexen Geschichte einen zweistündigen und recht konventionellen Kinofilm zu drehen, der gleichzeitig Drama, Liebesfilm, Märchen, Fantasie und Generationsporträt ist, ohne jemals in ein Extrem abzudriften. Der vielversprechende Hauptdarsteller Thomas Horn sieht in seiner allerersten Rolle aus wie ein sehr junger Elijah Wood, allein mehr Kindlichkeit als Maskerade hätte ihm hier noch besser zu Gesicht gestanden. Max von Sydow brilliert als Großmutters Untermieter, dem es seit seiner Flucht aus dem Dresden des Zweiten Weltkriegs die Sprache verschlagen hat. Und die Besetzung von Sandra Bullock und Tom Hanks als Oskars Eltern hätte mehr Kitschmomente hergegeben, als Daldry sie zulässt. Am Ende sind es trotzdem Bullock und die nach Tränendrüsen geifernden letzten 30 Minuten, die aus einem überkandidelten Blockbusterversuch ein rührendes Familien- und Sozialdrama machen. Dessen Romanvorlage danach noch mehr herzugeben verspricht.

(erschienen bei: teleschau, 10. Februar 2012)

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