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Jana Prochnow im Interview: „Ohne Kunst würden wir alle krank werden“

Künstler*innen und Soloselbständige müssen sich seit Anbeginn der Coronapandemie und den Maßnahmen zur Eindämmung auf ein noch prekäreres Leben als zuvor einstellen. Was macht das mit ihrer mentalen Gesundheit? Wie kommen sie resilient durch die Krise? Ich habe bei Jana Prochnow, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, nachgefragt – und unter anderem erfahren, warum Kunstschaffende unbedingt systemrelevant sein müssten.

Jana Prochnow ist Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie in Gera. Ich sprach mit ihr darüber, was die Krise mit der mentalen Gesundheit anstellt und wie man sich helfen kann. (Foto: Sabrina Weniger)

Alarmstufe Rot: Die ohnehin oft prekär lebenden Künstler*innen und Soloselbständigen Deutschlands stehen seit Beginn der anhaltenden Corona-Pandemie wahlweise vor dem Scherbenhaufen ihrer Existenz oder vor der wohl größten Herausforderung ihrer Karrieren. Während für Bundesligen, Biergärten, Airlines und Autohäuser Rettungsschirme oder andere Lösungen gefunden werden, scheint der brachliegende Kunst- und Kulturbetrieb – eigentlich einer der größten Wirtschaftszweige Deutschlands – als Kollateralschaden hingenommen zu werden. Selbst etablierte und vermeintlich erfolgreiche Musiker*innen sind betroffen oder zeigen sich solidarisch: Joy Denalane gesteht im „Tagesspiegel“-Interview, dass sie bis nächstes Jahr noch durchhalte, danach aber auch nicht weiterwisse. Die Ärzte brechen in den „Tagesthemen“ eine Lanze für all die aktuell arbeitslosen Roadies, Tontechniker*innen, Booker*innen, Clubs und Veranstalter*innen, die seit Monaten niemand bucht. Trompeter Till Brönner hält ein vielgeteiltes Video-Plädoyer dafür, dass Kultur ein Menschenrecht und kein Luxusgut sei. Comedians von Micky Beisenherz über Caroline Kebekus bis Dieter Nuhr und Mario Barth posten Seite an Seite mit Musiker*innen wie Bela B, Donots, Die Prinzen und Johannes Oerding einen offenen Brief an die Bundesregierung mit der Forderung, die Forderungen der Initiative #AlarmstufeRot, für die auch Die Toten Hosen und Arnim Teutoburg-Weiß (Beatsteaks) auf die Straße gingen, ernstzunehmen und umzusetzen. „Sonst werden wir in ein paar Monaten ein kulturell ärmeres Land sein. Vieles von dem, was dann verschwindet, wird nicht wiederkommen. Damit wird nicht nur produktiven Mitgliedern eines Wirtschaftssystems die Lebensgrundlage genommen, sondern eine Gesellschaft ihrer Seele beraubt“, heißt es darin zum Abschluss.

Nun: Gehört wurden all diese Menschen anscheinend nicht. Am 28. Oktober 2020 verkündete Bundeskanzlerin Angela Merkel verschärfte Maßnahmen zur Eindämmung der Verbreitung des Coronavirus im gesamten Monat November. Theater, Opern, Konzerthäuser, Messen, Kinos, sie alle gelten als Freizeiteinrichtungen und müssen komplett schließen, sofern sie in den vergangenen Monaten unter den zuvor bestehenden Auflagen überhaupt öffnen konnten, ohne dabei rote Zahlen zu schreiben. Ja, es werden finanzielle und dank Helge Schneider vom Bundesfinanzministerium angepasste Hilfen angeboten. Wirklich gesehen und ernst genommen fühlen sich Künstler*innen und Soloselbständige dennoch nicht. ME-Autor Linus Volkmann fasst die Gemütslage in einer Videokolumne so zusammen: „Ey, für was für Bauernopfer-Dullis haltet ihr uns Kulturschaffende bitte?“

Es geht in diesen Tagen, Wochen und Monaten aber nicht allein um das wirtschaftliche Überleben, sondern auch um dessen Folgen: Was macht die Corona-Krise mit der mentalen Gesundheit und den behandelnden Einrichtungen? Inwiefern begründet oder verstärkt sie psychische Probleme? Wie kommen Betroffene halbwegs resilient durch die Krise? Warum sollten Künstler*innen systemrelevant sein? Und was ist an der Phrase dran, dass aus einer Krise doch auch eine Chance erwachsen könnte? Darüber haben wir mit Jana Prochnow im Oktober gesprochen. Sie ist Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie im SRH Wald-Klinikum Gera, Dozentin an der Kunstschule Gera und kennt die Probleme von Künstler*innen auch privat aus nächster Nähe: Ihr Mann Thomas Prochnow studierte an HfBk Dresden und arbeitet und lebt seitdem als Bildender Künstler. Seine jüngste Ausstellung in Berlin, auf die er jahrelang hinarbeitete, würde im Frühjahr wegen Corona ersatzlos gestrichen.

Frau Prochnow, Sie leiten als Oberärztin zwei Stationen, eine kombinierte sucht- und allgemeinpsychiatrische Station mit Entzugsbehandlung, eine allgemeinpsychiatrische Station mit dem Schwerpunkt Psychotherapie. Wie hat sich Corona auf Ihre Arbeit ausgewirkt?

Jana Prochnow: Als der erste Lockdown kam, wurde aufgrund der nötigen Änderungen unser Haus großflächig umstrukturiert. Um Platz für Covid-Patienten zu schaffen, wurde ein ganzes Bettenhaus leer– und Kollegen abgezogen. Viele Therapien durften wir nicht mehr weiterführen. Für die Psychosomatik, in deren Bereich ich damals tätig war, bedeutete das, dass wir nichts mehr machen konnten. Die Station musste geschlossen werden, das war ziemlich traurig und heftig. Wir behandelten gestörte und komplex traumatisierte Patienten. Diese entlassen zu müssen, war für viele eine retraumatisierende Erfahrung. Für uns als Team auch.

Die Patient*innen wurden buchstäblich im Stich gelassen?

Im Grunde ja. Dies gilt aber für viele Bereiche. Wir haben Telefonsprechstunden angeboten, sind in Kontakt geblieben, haben Listen geschrieben. Sobald wir sie hinter Plexiglas empfangen durften, haben wir sie wieder einbestellt. Da wurden viele Federn gelassen.

Die Situation wird in den kommenden Tagen, Wochen und Monaten nicht leichter.

Vermuten wir auch. Uns werden jetzt schon wieder Räume weggenommen. Man kann sagen: Der psychisch kranke Patient fällt in dieser Zeit ziemlich weit hinten runter. Wir durften zum Beispiel während des ersten Lockdowns nur akut eigen- oder fremdgefährdende Personen behandeln. Patienten etwa, die mit einer akuten Panikstörung kommen oder anderem, was behandelt werden muss, die konnten wir alle nicht aufnehmen. Alle Fälle, bei denen angeblich kein größeres Unheil unmittelbar drohte, wurden nach hinten geschoben. Das fällt uns jetzt auf die Füße.

Bei Ihnen werden überwiegend Langzeitpatient*innen behandelt. Was änderte sich durch Corona? Kamen trotz der von Ihnen geschilderten Maßnahmen Patient*innen, die vorher nicht da waren?

Ja, Patienten kamen und kommen mit leichten und schwereren psychischen Erkrankungen, die sich durch den Lockdown derart verschlechtert haben, dass sie sagten: So geht es nicht mehr, jetzt kann ich nicht mehr.

Was macht man da zuerst?

Wenn ich Platz habe, nehme ich sie auf, dann werden sie in unser stationstherapeutisches Programm eingebunden. Habe ich keinen Platz, dann stellen sich die gleichen Fragen wie jederzeit auch ohne Corona: Gibt es ambulante Versorgungsmöglichkeiten? Kann die über unsere Ambulanz gehen oder über einen niedergelassenen Psychiater? Auch soziotherapeutische Angebote wurden total heruntergefahren. Veranstaltungen in Einrichtungen, in denen sich psychisch Kranke treffen können, finden nicht oder kaum statt. Auch deshalb wird es schlechter. Wir arbeiten alle unter erschwerten Bedingungen. Das spüren die Patienten und wir.

Was bedeutet das für aktuell betroffene Künstler*innen?

In meinem Bereich habe ich nicht explizit welche aufgenommen. Aber ein Beispiel: Neulich stellte sich ein Mann vor, der in seiner frühen Erwachsenenzeit schon an einer akuten Psychose erkrankt ist, die bei ihm heute ein chronisches Krankheitsbild darstellt. Er hat mal Musik studiert, musste wegen der Erkrankung aber abbrechen. Bis heute gibt er aber Gitarrenunterricht und spielt immer wieder mal in der Öffentlichkeit. Der erklärte uns nun, ihm gehe es gerade sehr schlecht, wegen Covid und dem Lockdown, weil er nicht raus kann und keine Schüler mehr unterrichten kann. Wer Musik macht, will sie ja zeigen und weitergeben können. Die neue Situation verstärkt seine Krankheit. Wenn er als Symptom ein paranoides Beziehungserleben hat, dann wird das verstärkt durch Einsamkeit. Wir Menschen regulieren uns durch Kontakt zu anderen Menschen.

Was haben Sie ihm konkret geraten?

Den habe ich aufgenommen, das war notwendig. Die Psychose ist im Moment deutlich erkennbar.

Fallen coronabedingte psychische Probleme bei Künstler*innen und anderen Freiberufler*innen besonders auf oder auch in ganz anderen Berufsgruppen?

Schwer zu sagen. Den Künstlerberuf kriege ich ganz individuell hier zuhause bei meinem Mann mit. Es braucht eine gute Widerstandsfähigkeit. Eine Freundin von mir ist Fotografin. Für sie wog die Coronakrise bisher besonders schwer, obwohl sie schon immer daran gewöhnt war, unter prekären Bedingungen zu leben. Sie hatte wie viele schon eine gewisse Angepasstheit daran. Das einzig Gute: Weil sie nun dem Geld eh nicht hinterher hetzen konnte, hatte sie Raum sich auf ihre freien Projekte zu konzentrieren, dort mehr Energie reinzulegen. Wer die sozialen Medien verfolgt, bekam mit: Viele habe Corona, Covid und den Lockdown in ihrer Kunst verarbeitet und neue Ausdrucksmöglichkeiten gefunden. Wie oft ich über Instagram Livekonzerte, Performances, Vernissagen und Lesungen verfolgt habe! Mit der Schriftstellerin Mirna Funk zum Beispiel war es herrlich, fast wie eine Privatvorführung zuhause.

Dieses Ventil funktioniert nicht bei allen. Was ist treibender: Einsamkeit oder berufliche Ungewissheit?

Das Grundbedürfnis jedes Menschen ist erstmal: Ich brauche was zu essen. Dafür brauche ich Geld. Ich muss meine Miete zahlen, unter Umständen sogar meine Familie ernähren. Das ist das vordergründige Problem. Danach kommt das Problem, dass der Inhalt verloren gehen kann. Weil man keine Aufträge hat, sich nicht ausdrücken kann. Gerade dann, wenn man darauf angewiesen ist, seine Kunst anderen zu zeigen. Das wiegt am schwersten. Künstler sind oft auch Überlebenskünstler. Mein Mann etwa war schnell und schon immer gut aufgestellt in der Frage, wie er zu Geld kommt. Notfalls aber hat er ja auch mich, das muss man klar so sagen.

Das klingt auch deshalb schön, weil es bei vielen umgekehrt ist. Da bringt traditionell der Mann mehr Geld nach hause. Viele Betroffene aber haben dieses Netz gar nicht. Warum haben Künstler*innen und Soloselbständige keine Lobby oder eine so geringe, wie sonst nur arbeitende Eltern? Gerade der Veranstaltungsbereich ist doch einer der wirtschaftlich wichtigsten Deutschlands.

Dazu eine kleine Anekdote: Ich habe mit meinem Mann neulich herzlich und traurig gelacht. Bei Instagram habe ich eine Umfrage vom britischen „Guardian“ entdeckt. Welche Berufe sind während der Coronapandemie die notwendigsten Berufe, welche die am wenigsten sinnvollen? Wir waren beide auf Platz 1: Er, der Künstler, bei den am unnötigsten. Ich bei den notwendigsten.

Warum ist das so?

Es ist so ähnlich wie bei psychischen Erkrankungen, die ja auch nicht sichtbar sind: Die Leistungen eines Künstlers sind nicht zu sehen und werden deshalb oft nicht wertgeschätzt. Aber fast alle Menschen konsumieren sehr gerne. Das mag mit einer gewissen Bildung zu tun haben, mit einem Zugang zu Kunst und Kultur. Ich sage immer wieder: Die Leute sollen sich mal ein Leben ohne Kunst vorstellen. Keine Bücher, keine Gedichte, keine Musik, keine Zeitungen, keine Computerspiele. Nichts, was Kurzweil, Unterhaltung und Förderung des Geistes unterstützt. Nichts was die Auseinandersetzung mit unserem Leben fördert. Wenn das alles nicht mehr stattfindet, würdet ihr euch umgucken! Das würde unser Leben leer machen und wir würden alle krank werden.

Dann wären wir bei George Orwells „1984“. Gerade im so genannten Lockdown sind Bücher, Filme, Serien und so weiter doch wichtiger denn je. Müssten Kulturschaffende so gesehen nicht eigentlich als systemrelevant eingestuft werden?

Absolut! Wir durften zum Beispiel unsere Kinder anfangs nicht in die Kita bringen, weil nur ich in einem systemrelevanten Beruf arbeite. Wir hatten ein schlechtes Gewissen, als wir irgendwann doch durften. Mein Mann musste seiner Kunst nachgehen. Ihm waren Aufträge weggebrochen. In der Galerie Weißer Elefant in Berlin-Mitte stand eine Einzelaustellung von ihm bevor, auf die er Jahre hingearbeitet hatte. Die ist ersatzlos aus dem Programm gestrichen worden, weil sie mitten im Lockdown gelegen hätte. Man kann überhaupt nicht ermessen, welchen Verlust das bedeutet.

Die verbreitete Denkweise lautet eben: „Ist ja nur Kunst, braucht keiner zum Überleben.“ Das stimmt vielleicht kurzfristig, langfristig nicht.

Auch kurzfristig stimmt das nicht. Wir haben jeden Tag mit Kunst und Kultur zu tun. Ich sehe täglich Bilder an der Wand. Auch die komische Makrofotografie im Klinikum gehört dazu. Der Mann der bei uns im Foyer eigentlich Klavier spielt gehört dazu. Das bricht alles weg. Selbst Seelsorger durften übrigens nicht mehr kommen. Wenn ich kein Buch mehr in die Hand nehmen kann, weil keiner mehr eines schreibt, fällt mir das auf.

Oder wenn bei Netflix plötzlich neue Serien nicht mehr synchronisiert oder untertitelt sind oder gar nicht mehr erscheinen. Mal angenommen, ich bin Musiker und auf Konzerte und Tourneen angewiesen. Plötzlich brechen die weg, wie bei Ihrem Mann. So is es vielen passiert. Was empfehlen Sie mir, um nicht zu verzweifeln und nicht gleich an die Supermarktkasse wechsle, weil ich dort besser und konstanter verdiene?

Komplizierte Frage. Die Antwort hat mit der jeweiligen Grundpersönlichkeit zu tun. Welche Resilienz bringe ich mit? Wie gehe ich mit Krisen um, die es ja so oder so immer mal gibt? Es geht im ersten Schritt um Rationalisierung, um einen Überblick der Möglichkeiten. Ein guter Abwehrmechanismus erlaubt es, Emotionen kurz zur Seite zu schieben und sich anzugucken, was gerade Sache ist, was ich gerade alles tun kann. Im nächsten Schritt sollte man schauen: Habe ich ein soziales Netzwerk, das mich auffängt? Wo kann ich mit wem im Gespräch sein? Finde ich Alternativen, um meine Kunst zu zeigen? Wie oft habe ich selbst mir Christine And The Queens aus ihrem Home Office angesehen! Weil die so coole Performances gemacht hat.

Aber das kann ja nicht jede*r.

Aber sich einen Plan davon machen, was gerade geht und was nicht und wer mich unterstützen kann, das kann und sollte man. Wichtig ist, immer aufs soziale Netzwerk zurückzugreifen, Menschen anzusprechen, im Gespräch zu bleiben und zu schauen, wie es anderen geht und was die so machen. Bei einer massiven emotionalen Krise muss man natürlich einen Ansprechpartner finden, der einem hilft.

Wer kann das sein?

Eigentlich stehe ich der Landschaft der Coaches kritisch gegenüber, gerade hilft sie aber. Ob sie sich Mental Health, Resilienz oder Wingwave auf die Fahne schreiben – sie fangen eine Menge an akuten emotionalen Krisen ab, die wir als Psychotherapeuten wegen der Vielzahl gar nicht bewältigen können. Eine Freundin von mir zum Beispiel nimmt gerade an einem Seminar teil: Was ist positives Denken? Was ist Resilienz? Wie kann ich das erlernen? Das hilft ihr. Ich glaube: Durchkommt, wer in der Lage ist, die Krise als gegeben hinzunehmen. Wer sich vom Irrglauben freimacht, man könne selbst was dafür, wen keine Schuldgefühle plagen. Wer keine Fragen aufkommen lässt, ob es nicht eh unverantwortlich ist, als Künstler leben zu wollen. Dann ist es wichtig eine Ausdrucksform für die Kunst zu finden. Im künstlerischen Ausdruck liegt ja bereits sehr viel Bewältigung drin. Wer in der Lage ist, eine weitere Form zu finden, wie man seine Kunst weiterhin betreiben kann, hat eine Form von Selbsttherapie gefunden.

Zumal der Tag X, an dem Corona endlich Geschichte ist, so ja auch nicht eintreten wird.

Es nützt auch nichts, sich stets zu vertrösten mit Sätzen wie „Wenn es denn vorbei ist“. Am Anfang gehört es dazu, sich rational und sachlich mit Zahlen und Fakten zu beschäftigen. Danach aber muss ein anderer Weg gefunden werden: Es reicht, die Zahlen und Nachrichten einmal täglich anzuschauen und sich ansonsten auf seine Kernkompetenz zu konzentrieren. Auf das, was ich gut kann. Wenn das gelingt, ist die Kunst auch heilsam.

Wenn man so fokussiert bleiben kann. Die wirtschaftlichen und psychologischen Spätfolgen sind ja noch gar nicht absehbar.

Das stimmt. Möglicherweise haben wir „nach Corona“ ein gesamtgesellschaftliches Trauma.

Auch für die Kinder wird diese Zeit einschneidend gewesen sein und nie vergessen werden.

Ich erkläre es meinen Kindern so: Den Virus und andere Viren wird es immer geben. Es geht darum, wie wir damit umgehen. Ob es gelingt, nicht nur uns, sondern das große Ganze zu sehen. Und die Verantwortung, die wir als Gemeinschaft haben.

Man zweifelt manchmal daran, ob wir eine sind, wenn man zu viele Facebook-Kommentare liest.

Das darf man eh nicht tun.

Wenn Weltstars an Depressionen erkranken oder andere mentale Probleme haben, werden sie oft nicht ernst genommen. „Was beschwert ein Millionär wie Avicii sich, der hat doch alles!“, heißt es dann. Bis es zu spät ist. Siehe auch Chris Cornell, Chester Bennington…

…oder Kanye West…

Der ja zum Glück noch lebt, bei dem ein Urteil für Außenstehende aber noch unmöglicher ausfällt, weil die Grenzen zwischen „Wo muss ich ihn ernstnehmen?“ und „Wo redet er wirklich nur dummes Zeug?“ oft verschwimmen. Woher kommt das aber, dass die Probleme solcher Menschen oft nicht ernst genommen werden? Psychische Probleme sind doch keine Frage der sozialen Schicht.

Das hat was damit zu tun, dass die psychische Erkrankung eine unsichtbare ist und große Angst auslöst in uns allen. Solche Reaktionen sind Abwehrmechanismen, weil man selbst damit nichts zu tun haben will. Menschen tun außerdem sehr viel dafür, sich nach außen hin glücklich zu zeigen und sich nicht damit zu beschäftigen, was in ihnen passiert.

Stimmt es denn überhaupt, dass psychische Probleme keine Frage der sozialen Schicht oder des wirtschaftlichen Erfolgs sind? Oder war ein Weltstar wie Avicii wirklich anfälliger, weil er in seinem Alltag extremem Stress und Druck und Erwartungshaltungen ausgesetzt war?

Es ist nicht davon abhängig, ob man viel Geld, viele Frauen, viele Männer, viel Autos oder viele Häuser hat. Jede emotionale Krise und psychische Erkrankung unterliegen so genannten multifaktoriellen Entstehungsbedingungen. Es gibt bestimmte Anlässe, Fragen der Genetik und andere Umstände, durch die eventuell alles zusammentrifft. Viel Geld schützt davor nicht. Es gab mal Untersuchungen, nach denen Schizophrene häufiger in unteren Gesellschaftsschichten anzutreffen wären. Das stimmt zumeist nicht. Die verarmen erst, weil sie krank werden, keine Lobby mehr haben und von Erwerbsunfähigkeits-Rente leben müssen. Und möglicherweise ist es ein Fakt, der einen Ausbruch wirklich verstärkt, der Druck den man erlebt, weil man eine Person des öffentlichen Lebens ist.

Sollte Corona doch eines Tages mal im Alltag hinter uns liegen, könnte ein Worst Case Scenario so aussehen, dass wir nur noch Starbucks-Ketten und Mercedes-Benz-Arenen besuchen können. Weil es die Kleinen nicht geschafft haben. Was wäre ein Bestfall? Warum könnte es Selbstständigen, Künstler*innen und Kreativen vielleicht sogar gut gehen?

Krise als Chance ist ein Motto, was ich unterschreiben kann. In jeder Krise steckt viel Motor zur Neuauslotung und zum Gucken, was denn geht. Checken, wie ich dem, was ich gerne mache, weiterhin Ausdruck verleihen kann. Ich kann nicht sagen, was dabei herauskommen könnte. Aber unter kleinen Händlern, Kreativen und Kulturschaffenden erlebe ich derzeit, dass sie stark unterstützt werden. Dass die Leute zunehmend dort einkaufen. Vielleicht finden sich so nicht nur neue Ausdrucksmöglichkeiten, sondern wir alle rücken ein Stück weit näher aneinander. Nicht unbedingt im physischen, aber im psychischen Sinne.

Wertschätzen, was man vorher nicht wertschätzte.

Und erkennen, dass es nicht notwendig ist, die fünfte Jeans gekauft zu haben. Auch wen wir das alle gerne mal tun. Dass es schön ist, vieles nicht zu haben. Ich fand im ersten Corona-Lockdown zum Beispiel erholsam, dass ich keinen Freizeitstress hatte. So habe ich auch weniger Geld ausgegeben. Konsum interessierte mich weniger. Ich genoss die Ruhe. Und dass man trotz Entfernung näher zusammenrücken konnte.

Dieses Interview erschien zuerst am 4. November 2020 auf musikexpress.de. Ein Outtake daraus habe ich auf newkidandtheblog.de veröffentlicht.

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