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„Lost“-Abklatsch „The I-Land“ auf Netflix: Urlaub fürs Gehirn

Gestrandet ohne Hirn: In der neuen Netflix-Miniserie „The I-Land“ findet sich eine Handvoll egaler Charaktere mit Gedächtnisverlust auf einer geheimnisvollen und bald mörderischen Insel wieder. Eine eventuell unfaire Kritik.

Die Gestrandeten auf „The I-Land“: Nein, das ist keine Szene aus „Lost“ (Netflix)
Die Gestrandeten auf „The I-Land“: Nein, das ist keine Szene aus „Lost“ (Netflix)

Stellen Sie sich vor, Sie wären mit einer Handvoll gleichgekleideter Fremder auf einer einsamen Insel gestrandet. Wie Sie dort hinkamen, was geschah, wie Sie heißen, wer Sie sind – Sie erinnern sich an nichts davon, Gedächtnisverlust.

Testfragen: Würden Sie nur Stunden später eine der anderen Personen küssen? Nicht wissend, wer sie ist oder ob Sie selbst vielleicht Partner und Familie haben? Würden Sie sich in der Sonne baden und ein am Strand angespültes Buch mit dem Titel „The Mysterious Island“ (es hätte auch „Herr der Fliegen“ oder „Gilligans Insel“ sein können) kaum eines Blickes würdigen und wieder wegwerfen? Würden Sie mit einer blutigen Schnittwunde am Fuß ins Meer schwimmen, weil dort ein Paddelboot treibt – obwohl einer von Ihnen kurz davor von einem Hai oder Haiwesen halb zerfetzt wurde? Und während Sie nun rätseln, was es mit Ihrer mysteriösen Situation auf sich hat und einer von Ihnen findet ein Schild am Strand mit der Aufschrift „Find Your Way Back“, würden Sie diesen Hinweis als egal und nichtssagend abtun, weil er garantiert nichts zu bedeuten habe?

Denken Sie ruhig nach, auch wenn Sie nicht müssen.

Sie haben alle Fragen mit „Nein“ beantwortet? Sehen Sie: Damit hätten wir einen maßgeblichen Unterschied zwischen den Zwangsbewohnern von „I-Land“, dem nahezu lächerlichen neuen „Lost“-Abklatsch auf Netflix, und ihren Zuschauern ausgemacht. Von Sekunde 1 der ersten Folge an, die auch noch „Brave New World“ heißt, wünscht man ihnen keine Rettung, sondern einen brutalen Tod. Was man über die weiteren der insgesamt sieben Folgen von „The I-Land“ so hört und liest, wird der zum Glück – und bestenfalls gar zur besseren Unterhaltung – die ein oder andere der Figuren noch ereilen. Aber es gehört schon viel Langeweile und Unfalltourismus dazu, um diese neue Serie länger als eine Pilotfolge lang auszuhalten.

Moses, KC, Chase, Cooper, Mason und wie sie alle laut Einsticker in ihren weißen Hemden heißen, sind keine gewöhnlichen Menschen wie du und ich. Sie sind schön, gut gebaut, selbst in einer Notsituation geschminkt und frisiert, wissen auf der Stelle um ihren Platz in einer Gruppe – und wirken völlig austauschbar. Sie streiten sich, sie spalten sich in Lager auf, sie flirten und sie sammeln Holz. Total verblödet sind sie nicht, schließlich erkennen sie, dass sie in den exakt gleichen Abständen am Strand aufwachten, jeder einen Gegenstand neben sich fand und ahnen so bald, dass sie Teil eines perfiden Spiels sein müssen. Gut, hätte Chase noch einen Blick auf die zerschellte Hörmuschel geworfen, bevor sie ins Meer sprang, hätte sie die Gravur „Property of I-Land“ samt Produktnummer und Peilsender sehen können. Aber wen interessieren schon Kleinigkeiten.

„The I-Land“: Die Ähnlichkeiten zu „Lost“ sind dreist und offensichtlich

Die Ähnlichkeiten zum Mysteryklassiker „Lost“ – der legendären ABC-Serie, die ihre Zuschauer zwischen 2004 und 2010 über sechs Staffeln hinweg in Atem und am Rätseln hielt – liegen auch abseits der zu schönen Hauptdarsteller (Sawyer, Kate, Sie erinnern sich) auf einer geheimnisvollen Insel auf der Hand: So wie J.J. Abrams damals die erste Szene mit dem Augenaufschlag von Jack eröffnete, zeigt „The I-Land“-Autor, -Showrunner und -Regisseur Neil LaBute den Augenaufschlag von Hauptdarstellerin Natalie Martinez als Chase. Sekunden später folgt der erste von unzähligen Bass-Drops und Bläser-Crescendi, also dem Soundeffekt, der wie kein zweiter für die Vertonung mysteriöser Momente in „Lost“ (und anderen Mystery-, Sci-Fi-, Thriller- und Horrorproduktionen) steht. Irgendwann erinnert sich jemand plötzlich an Flashbacks aus seinem alten Leben. Und auch die Sätze, die die Protagonisten sagen, klingen wie unfreiwillig komische Holzhammer-Referenzen. „Vielleicht sind wir ja abgestürzt“, mutmaßt einer, worauf der andere bemerkt, dass nirgends ein Wrack oder angespültes Gepäck oder gar Leichen zu sehen seien. „Vielleicht träumen wir ja nur und sind längst tot“, sagt die nächste Gestrandete. Hat wohl selbst „Lost“ gebingt, dessen viel diskutiertes Ende missinterpretiert und dafür die Schauspielschule geschwänzt.

Mit Alex Pettyfer und Kate Bosworth stehen immerhin ein paar Schauspieler vor der Kamera, die man von zweitklassigen Filmproduktionen, Teeniefilmen oder vielversprechenden Nebenrollen kennt. Die Kosten von zwei Millionen US-Dollar pro Folge aber sind mutmaßlich dafür draufgegangen, Crew und Cast in die Dominikanische Republik zu fliegen. Die stümperhaften Schnittbilder von Spinnen und Echsen aus irgendeinem Terrarium, die angeblich im Dschungel lauern, der Hai oder gar das Drehbuch können so teuer jedenfalls nicht gewesen sein. Es deutet sich an: Wer „Lost“ noch nicht gesehen hat, sollte seine Zeit lieber damit verbringen. Wer „Lost“ gesehen hat, schaut es lieber nochmal als „The I-Land“. Und wer aufgrund der späteren Geburt von „Lost“ noch nie gehört hat, dem sei gesagt: Auch „Die Tribute von Panem“ und „Maze Runner“ sind eine weitaus bessere Idee als das hier.

https://www.youtube.com/watch?v=GxpwiwOdMHk

„The I-Land“, Staffel 1, 7 Folgen à 37-43 Minuten, seit 12. September 2019 auf Netflix im Stream verfügbar

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Dieser Text erschien zuerst am 13. September 2019 auf musikexpress.de.

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