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Was von der Insel bleibt

Achtung, Spoiler!

Es waren nicht die verschwendetesten Stunden meines Lebens. Es hätte schlimmer kommen können, und alles auch ganz anders. Sechs Staffeln „Lost“, 121 Folgen, jeweils rund 42 Minuten lang, macht 5082 Minuten oder 84,7 Stunden Rätselraten und kein Ende. Anfangs wollte ich verstehen, was den Hype um diese Serie ausmachte. Ich wurde bald unterhalten und verwirrt. Und habe alles gesehen: Rauch, der Menschen zerfleischt. Eisbären auf einer Pazifikinsel. Tote, die auferstehen. Rollstuhlfahrer laufen. Kinder mit mysteriösen Fähigkeiten. Männer nicht altern. Schwangere Frauen ihre Ungeborenen verlieren. Verfluchte Lottozahlen. Heroin in Maria-Statuen. Zeitreisen wie springende Schallplatten. Bibelreferenzen und Religionssymbolik. Elektromagnetismus, Licht und Dunkel. Und bekam selbst eine Ahnung davon, wie weit die immer fantastischere Geschichte aus Geschichten von Gestrandeten ein Spiegelbild der Gesellschaft seines Publikums, oder, noch größer, der Menschheit ist und sein soll: Es gibt keine eindeutigen Antworten. Was natürlich sehr schade ist, weil ich doch, wie ein paar Millionen anderer Zuschauer, noch die ein oder andere kleine Frage hätte. Zum Beispiel:

Ist die Menschheit gut oder böse? Herrscht in ihrem Grundzustand Krieg oder Frieden? Wo kommen wir her? Wo gehen wir hin? Warum sind wir hier? Glaube oder Wissenschaft? Ist das überhaupt ein Widerspruch? Gibt es einen Gott? Und wenn ja, sollen wir ihm folgen?

Von Hirten und Jüngern, von Anfang und Ende: TV-Hype "Lost" und seine Charaktere. Amen.

Kann, was einmal geschehen, nicht mehr verändert werden? Würde ich den Lauf der Zeit ändern, wenn ich es denn könnte? Regiert Schicksal oder Zufall? Gibt es einen freien Willen? Haben oder Sein? Ist Macht der Ursprung allen Übels? Gibt es eine objektive Realität? Sterben wir alle allein? Sind wir in Wahrheit längst tot? Gibt es ein Leben nach dem Tod? Und was ist mit Wiedergeburt? Bekommt jeder eine zweite Chance? Bleibt die Erinnerung? Kann, was einmal gedacht und erlebt, nicht mehr zurückgenommen werden? Gibt es Himmel und Hölle und einen gemeinsamen Vorort? Hat das Böse keinen Namen? Ist Liebe alles was wir brauchen? Ist (die Darstellung von) Zeitreisen ohne Paradoxon möglich (bei „Zurück in die Zukunft“, „Day Of The Tentacle“ oder „Bill und Teds verrückte Reise durch die Zeit“ war das alles ein bisschen einfacher)? Sind die „Lost“-Produzenten Damon Lindelof, Carlton Cuse und J.J. Abrams und ihr Team Genies oder auch nur Blender?

Solche Sachen.


I’m totally Lost

Ein Mann liegt auf seinem Rücken. Blutverschmiert, im Anzug. Er schlägt die Augen auf, orientierungslos. Wald. Ein Golden Retriever streunt vorbei. Idylle? Über einem Baum hängt ein Schuh. Geräusche. Aufstehen. Umherirren. Plötzlich: weißer Sandstrand. Meer. Und schreiende Menschen. Flugzeugwrackteile. Rotierende Turbinen. Ein anderer Mann unter Trümmern. Eine schwangere Blondine. Ein angeblich ausgebildeter Rettungsschwimmer, der einen Luftröhrenschnitt mit einem, wie heißt es doch gleich, genau, Kugelschreiber vorschlägt. Keiner zur Hand. Herunterbrechende Tragflächen, Explosionen. Es sind noch soviele Menschen zu retten, unter diesem blauen Urlaubshimmel. „Hier, ich wusste nicht, welchen Sie brauchen“, sagt der Rettungsschwimmer, als er mit mehreren Stiften von seinem Trümmerstreifzug zurückkehrt und dem noch unbekannten, gutaussehenden Gentleman aus dem Wald mehrere Stifte hinhält.

Screenshot Lost
"Wo bitte geht's zum Strand?" Dr. Jack Shepard, noch ganz am Anfang einer Odyssee (Screenshot)

Was in seiner nach Aufmerksamkeit gellenden Gratwanderung aus Galgenhumor, Situationskomik und Mystery-Drama schon jetzt wie ein Assoziations-Mash-Up aus „Airplane“, „Cast Away“, „Giant Shark vs. Mega Octopus“, „Braindead“ und unzähligen B-Katastrophenmovies aussieht, waren die ersten acht Minuten von „Lost“. Der Sendung, deren Pilotfolge am 22. September 2004 dem Sender ABC mit über 18 Millionen Zuschauern die beste Einschaltquote seit dem Start von „Who Wants To Be A Millionaire?“ bescherte; die in sechs Staffeln und 121 Folgen einer bis dato nicht dagewesenen Fangemeinde aus Bloggern, Verschwörungstheoretikern, Philosophen und Kulturkritikern rund um den Globus schlaflose Nächte und Rätsel bereiten und als Golden Globe- und achtfacher Emmy-Gewinner in die Geschichte des Fernsehens als gehyptester Mystery-Dauerbrenner seit „Twin Peaks“ (gefühlt) eingehen würde. Genug Grund zur Skepsis. Die beschriebene Anfangsszene dürfte für Fans im Rückblick wie ein nostalgisches Kinderfoto aussehen, das Dazwischen konnte keiner eindeutig einordnen, nur Vermutungen anstellen und Deutungsmuster bemühen. „Mit die beste Serie, die es je gab“, sagt auch Tanja vollkommen unironisch. „Das Ende hätte schlechter sein können“, sagt Malcolm. Einig sind sich alle Befragten anscheinend in einer Sache: Zum Kapieren ist „Lost“ tatsächlich nicht gemacht.

Der Typ, ein Kerl namens Jack Shephard (Matthew Fox), entpuppt sich im weiteren Verlauf dieser ersten aller Folgen als Arzt mit einem Alkoholproblem. Er trifft die hübsche Kate Austen (Evangeline Lilly), und das Mysterium beginnt. Nach dem flammenden Inferno kehrt Stille ein, die Gestrandeten sammeln und beraten sich und ihre Rettung am Lagerfeuer – und beobachten plötzlich ein unsichtbares Etwas, das die Palmen plattmacht und wie Godzilla röhrt. „Was immer es auch ist, es ist nichts Natürliches“, stellt einer prophetisch fest – der Bruchpilot, den Jack, Kate und ein anderer Kerl während ihrer ersten Inselerkundung samt Cockpit finden, wird das am Ende dieser Episode am eigenen Leib erfahren. Ich stelle fest: Wer oder was immer es auch ist, das dieser Truppe noch widerfahren wird – falls ich dranbleibe (und ich mochte schließlich früher auch „Gilligans Insel“ und „Herr der Fliegen“), bin ich als Spätzünder klar im Vorteil. Schließlich wurde die allerletzte Folge, der die „Lost“-Jünger der ersten Stunde ob einer etwaigen Auflösung noch sechs Jahre lang entgegenfiebern mussten, am 23. Mai dieses Jahres in den USA ausgestrahlt. Ich könnte mir also die werbefreie Breitseite geben – wenn ich mir nicht lieber die achte Staffel von „24“, die bereits in den USA und auf einem deutschen Pay-TV-Sender läuft, gebe. Deren sieben Vorgänger habe ich mal mit mehr, mal mit weniger Leidenschaft verfolgt, in Jack Bauers Leben ist dafür noch kein Ende in Sicht. Spoiler sind hier in beiden Fällen nicht willkommen. Und ich habe immerhin neben ein paar anderen wackeligen Bildern ein besonders wackeliges Bild als Aufhänger für mein erstes Blogposting bemühen können: Ich kram dann mal meine Stifte zusammen und bin jetzt auch verloren. Hier.

Screenshot Lost
Ein Pilot, ein Baum: "Lost" (1. Staffel, 1. Episode, Screenshot)