Vom Eremit zum Dirigent: Wie groß Justin Vernon seine einstigen Folk-Kleinode kollektiv, elektronisch und live erwachsen lässt, ist nicht nur packend und Strukturen sprengend. Bei seiner Headliner-Show beim Melt beweist er als Bon Iver schiere Weltklasse vor perfekter Kulisse.
Justin Vernon hat schon immer ziemlich viel richtig gemacht: Nach dem zweiten Album BON IVER, BON IVER etwa, für das er 2012 einen Grammy gewann, hat der Songwriter, Multiinstrumentalist und Produzent nicht etwa schnell nachgelegt, wie es ihm jedes Majorlabel der Welt empfohlen hätte – sondern fünf Jahre lang Bon Iver auf Eis gelegt. Er verdingte sich beim Volcano Choir, den Shouting Matches, organisierte mit The Nationals Aaron Dessner ein Festival in seiner Heimat Eaux Claire, arbeitete mit Kanye West und James Blake, blieb also Musiker durch und durch – und nahm Bon Iver wieder auf, als IHM es passte.
Die ersten paar Minuten der letzten Show seiner laufenden Tour stehen trotzdem unter keinem guten Stern. Als Vernon mit seiner Liveband pünktlich um 21:30 Uhr die Melt Stage betritt, ist die Abendsonne zwar einem klaren Sommernachtshimmel gewichen. Erstens aber ballert Ross From Friends noch von der Gremmin Stage am Ufer des Gremminer Sees, in dem die Halbinsel Ferropolis mit ihrer beeindruckenden Stahl- und Naturkulisse liegt, so lautstark herüber, dass die für eine Bon-Iver-Show so wichtige Intimität kaum aufkommen kann. Zweitens ist das Melt Festival 2019 mehr denn je ein Festival, zu dem ein Großteil seiner über 20.000 Besucher wohl weniger wegen bestimmter Acts, sondern wegen der Party und der Atmosphäre reist. Klassische Mainstreamacts sucht man im Line-up (zum Glück) vergebens, selbst Headliner – wie eben Bon Iver – sind Unbekannte im Vergleich zu anderen Headlinern deutscher Festivals, wie The Cure, Foo Fighters, Die Ärzte und Co. – und für das typische Early-Adopter-Hipster-Hype-Publikum beim Melt schlichtweg schon fast zu alt. Die Indiedarlings Bon Iver wären aber nicht Bon Iver, wenn Vernon sie nicht trotzdem alle für sich einnahmen könnte.
Die Snares klingen anfangs zwar noch wie ein geplatzter Verstärker, die für die jüngeren Bon-Iver-Shows (sprich: seit dem aktuellen Album 22, A MILLION) so typische Wall Of Sound steht im Opener „Perth“ trotzdem, sobald die bombastischen Drums einsetzen. Justin Vernon trägt Stirnband und „Discwoman“-Shirt und hat, wie immer, zwei Schlagzeuger dabei, verzichtet diesmal aber auf die Bläser-Sektion, die er 2018 in der Berliner Max-Schmeling-Halle noch dabei hatte. Darüberhinaus besteht die heutige Fünfer-Aufstellung aus drei Synthesizern, deren Tongeber zwischendurch Gitarre, Bass, Percussions und sonstiges Instrumentarium in die Hand nehmen. Der Superstar der Indieherzen, wie wir den einstigen Folksongwriter aus Wisconsin damals nannten, ist Vernon noch immer, aber eben auch ein visionärer Kauz. Das zeigt sich in Songtiteln wie „10 d E A T h b R E a s T ⚄ ⚄“ und „666 ʇ“, am beeindruckendsten aber in der Liveversion von „Woods“, für die er nichts als seine zwischen Falsett, Autotune und großen Harmonien antizipierende Stimme loopt. „Blood Bank“, von seiner gleichnamigen und von Kanye West stellenweise gesampelten EP, türmt sich in der Melt-Kulisse aus Bagger-Dinosauriern und Lasershow als frühes Highlight auf, auch Vernon lobt diesen „rad place“ und all die tolle Musik, die hier passiere. Man glaubt es ihm sofort.
Den Indiehit „Skinny Love“ vom Holzhütten-Herzschmerz-Debüt FOR EMMA, FOREVER AGO bietet Vernon alleine auf der Akustischen und in einer kompakten Version dar, „Holocene“ kommt mit pluckernden Gitarren nahezu konventionell daher. Im das anderthalbstündige, messianische Festivalset sowie die Tour abschließenden „22 (OVER S∞∞N)“ gibt es dann doch Bläser – in Form einer ausufernden Saxofon-Passage. Und hey: Wer „Hey, Ma“ schon für einen fantastischen neuen Song hält, dem sei gesagt: Das beste neue Stück auf dem im August erscheinenden neuen Album „i, i“ hat Vernon noch gar nicht gespielt oder gar veröffentlicht. Da kommt einmal mehr Großes auf uns zu.
Der beste Moment eines an guten Momenten nicht armen Sonntagabends aber war der, als Justin Vernon in einer Ansage darum bittet, dass alle bitte auf sich und auf ihr Umfeld aufpassen und sicherstellen sollen, dass sich auch alle anderen Gäste jederzeit sicher fühlen – und gleichzeitig eine Sternschnuppe in der Ferne über der Melt Stage gen Gremminer See hinabfliegt. Eine Bitte übrigens, die auch ungehört befolgt wird: Im Vergleich zu rocklastigeren deutschen Festivals ist beim Melt Festival nicht nur das Booking ausgewählter. Das Publikum ist zudem sehr viel relaxter und angenehmer. Und ja, noch immer auch ein bisschen hipper.
Bon Iver live beim Melt Festival 2019 – Videos und Fotos:
https://www.instagram.com/p/B0Nwn-nnMTR/
https://www.youtube.com/watch?v=q6v14k88Dlo
https://www.instagram.com/p/B0NiG_6nPl3/
https://www.instagram.com/p/B0MeBwjix1j/
Bon Iver live beim Melt Festival 2019 – die Setlist:
Dieser Text erschien zuerst am 22. Juli 2019 auf musikexpress.de.