Vor 13 Jahren veröffentlichten Kante mit ihrem vierten Album DIE TIERE SIND UNRUHIG unsere Platte des Jahres 2006, danach verzogen sie sich ins Theater. Wärme, nein, Hitze und Schwüle hat seitdem keiner drückender vertont. Über einen fast vergessenen Klassiker und die Band dahinter.
Kennt Ihr diesen Instagram-Account „Deutsche Dings“? Auf dem zum Beispiel ein Foto einer Packung Leberwurst gezeigt wird mit dem Zusatz „Deutsche Hummus“? Oder ein Bild von Gzuz mit dem Hinweis „Deutsche Bobby Brown“? Schiefe (und sehr lustige) Vergleiche also, die in der Regel dazu dienen sollen, Deutschland, nun ja, weniger glamourös als den Rest der Welt erscheinen zu lassen? Nun, wäre der Name Peter Thiessen nicht schon in den Nuller-Jahren nur Indiefans ein Begriff gewesen, man müsste ein Foto von diesem Schlacks nehmen und dazu texten: „Deutsche Josh Homme“. Es wäre als Kompliment gemeint.
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Thiessen ist Gründer, Sänger und Gitarrist der deutschen Band Kante. Gegründet wurde sie unter diesem Namen 1995 in Hamburg – und damit noch ein Jahr bevor Thiessen bei Blumfeld als Bassist einstieg. Sie veröffentlichten vier allesamt von der Kritik gefeierte Alben. Ihr bisher letztes Studioalbum DIE TIERE SIND UNRUHIG ist mittlerweile 13 Jahre alt. Es erschien 2006 und gilt vielen nicht nur als das beste, sondern auch das „rockigste“ Album der Band. Im Musikexpress kürten wir es zur Platte des Jahres 2006, noch vor WHATEVER PEOPLE SAY I AM, THAT’S WHAT I’M NOT (Arctic Monkeys) auf Platz 2.
ME-Redakteur Oliver Götz erkannte damals in Arrangement und Handwerk eine „überaus gekonnte Rückwendung zum Rock, die Kante bis hin zur Queens-Of-The-Stone-Age-Blutsbrüderschaft führte und darüber hinaus noch gar zum Classic Rock“. Das habe Spaß gemacht und wir hielten am Ende des Jahres „eine Platte in der Hand, die einen in ihrer melodischen Wucht, Leidenschaft und Schwermut immer wieder umwirft.“
Aufgelöst haben sich Kante bis heute nicht. Sie haben sich bloß aus dem Popzirkus und -zyklus zurückgezogen. „Für uns war dieser normale Rhythmus, dass man alle zwei Jahre eine Platte macht und auf Tour geht, irgendwann langweilig. Das haben wir auch so zehn Jahre oder so gemacht und das wiederholt sich dann zwangsläufig irgendwann“, sagte Peter Thiessen 2015 in einem Interview mit Deutschlandradio Kultur und erklärte: „Es ist aber auch so, dass während unserer Karriere die gesamte Musikindustrie zusammengebrochen ist. Da verdient man als Musiker kaum noch was an einer CD. Also arbeitet man entweder sehr speziell oder sehr massenkompatibel.“
Das Theater steckte schon längst in Kantes Musik
Thiessen und seine Band haben sich für Ersteres entschieden: Seit 2007 verdingen sie sich am Theater. Was mit einigen Songs für die Revue „Rhythmus Berlin“ am Berliner Friedrichstadtpalast begann (zu finden auf KANTE PLAYS RHYTHMUS BERLIN von 2007), nahm bald darauf im Rahmen einer Inszenierung von Peter Handkes „Spuren der Verirrten“ am Wiener Burgtheater Fahrt auf und entwickelte sich für das Quintett zu einer langjährigen Obsession. Als Bühnenband fügten sich Kante in Stücke am Dresdner Staatsschauspiel, an der Berliner Schaubühne und am Münchner Residenztheater ein, vertonten Texte, Gedichte und Partituren zu Inszenierungen nach Sophokles, Goethe, Voltaire, Dostojewski und Bertolt Brecht. Als Dokument dieses Ausflugs ohne Rückfahrschein erschien 2015 das Sammelsurium IN DER ZUCKERFABRIK. Ein auch im Pop wahrgenommenes Lebenszeichen von Kante, was mit Hamburger Schule oder Rockmusik aber bloß noch den Bandnamen gemein hatte.
Wirklich überraschend war dieser Schritt nicht, das Theater steckte schon längst in ihrer Musik. Auf dem von Moses Schneider produzierten DIE TIERE SIND UNRUHIG dauert jeder der sieben Songs mindestens fünf Minuten. Thiessen übernimmt Sprechparts ins Publikum („Die Wahrheit“), Gitarrist Felix Müller übernimmt den Rappart im funkig-loungigen „Die größte Party der Geschichte“, man hätte auch Fischmob, Eins, Zwo, die Beginner oder Fünf Sterne Deluxe fragen können. Das instrumentale „Ducks And Daws“ klingt mit Cello und Trompete wie der Soundtrack zu einem Film noir, einer Verbrecherjagd in den 20ern. Der Opener und Titeltrack entwirft ein Szenario, wie wir es ganz besonders im aktuellen Hitzesommer tagtäglich erleben: „Es ist heiß, und es ist schwül. Das Licht zu hell, die Farben grell. Die Vögel stumm, die Hunde bellen Gespenster an. Die Hitze kriecht die Straßen lang. Das Fieber steigt, die Stadt vibriert. Meine Nerven pulsieren, irgendwas passiert“ singt Thiessen zu einem repetitiven Alarmton, der sich hinter einem wie die Sonne flirrenden Postrockgitarreneinsatz verliert, um im Refrain ein Hitzegewitter heraufzubeschwören.
Womit wir wieder bei Josh Homme wären: Mit welcher Leichtigkeit Thiessen, Müller, Sebastian Vogel, Florian Dürrmann und Thomas Goebel auf DIE TIERE SIND UNRUHIG mit Stonerrock, Postrock, Avantgarde, Druck, Kraft, Opulenz, Breitbeinigkeit und Kopfarbeit spielen, ist auch 13 Jahre später ziemlich beeindruckend. Als Untertitel würde 2019 für diese Platte beziehungsweise den Versuch, sie nachfolgenden Generationen im Internet näherzubringen, auch „Deutsche Desert Sessions“ durchgehen.
„Die Hitze dauert an“, der letzte Song, beginnt wie ein neunminütiges Reprise von „Die Tiere sind unruhig“, gipfelt als großer Abspann eines Dramas, das wir zu gern gesehen hätten und endet mit Thiessens Zustandsbeschreibung der Ruhe nach dem Sturm, der im Opener „Die Tiere sind unruhig“ noch bevorstand. Eine Platte wie dieser Sommer, in dem man vor lauter Hitze Fata Morganas zu sehen glaubt, wie sich der Asphalt von den Straßen löst, während jede eigene Bewegung schwer fällt. Großartig.
Ein neues Album, so hieß es ebenfalls 2015, solle in naher Zukunft folgen. Die Theaterband hatte sich „das Jahr jetzt aber mal reserviert, um an einer neuen Kante-Platte zu arbeiten“, wie Thiessen im im Interview mit der Süddeutschen Zeitung sagte. Nun: Kollege Götz ruft gerade rüber, die Aufnahmen hätten bereits irgendwann begonnen, wären aber – offensichtlich – irgendwie irgendwo hängen geblieben. Wir haben uns bei Thiessen nach dem aktuellen Stand erkundigt, seine Antwort reichen wir nach.
Und sollte das mit der neuen Platte leider auch weiterhin nix werden: Bitte, Kante, spielt wenigstens mal wieder eine Festivaltour. Auf das Wetter und auf Euch.
Dieser Text erschien zuerst am 2. Juli 2019 auf musikexpress.de.