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Von der Philharmonie bis in die Eckneipe: In Berlin boomt der Chorgesang. Warum eigentlich?

Der Berliner Kneipenchor bei den Proben
Der Berliner Kneipenchor bei den Proben. Foto von Matze Hielscher.

„Da ist was schief“, ruft Yvonne und stoppt ihr Metronom. „Nochmal“, fordert sie, dann „das Ganze nur in Alt und Sopran“ und „einmal bis zum Refrain von ganz vorne“. Yvonne Esins ist ausgebildete Jazzsängerin und Gesangslehrerin. Vor rund anderthalb Jahren rief sie in ihrer Freizeit einen Popchor ins Leben, der sich anfangs noch „Chor für angewandte Mehrstimmigkeit“ nannte. Jeden Donnerstag treffen sie und ihre Schüler sich in einem Tanzstudio in der Mittenwalder Straße in Kreuzberg. Die Leute kommen, „weil es hier nicht so angestaubt ist, weil nicht nur Spießermuttis mitmachen“, glaubt Yvonne; noch mehr Stimmen, vor allen Dingen männliche, wünscht sie sich trotzdem. Die 35-Jährige klatscht, springt auf, lacht, haut in die Tasten, sie animiert und motiviert die heute anwesenden zehn Hobbysängerinnen und sechs -sänger, bis sie sich während Madonnas „Like A Prayer“ alle in der Zeile „I have no choice, I hear your voice“ treffen. Als nächstes steht die erste Strophe von Robbie Williams’ „Angels“ auf dem Notenblatt. Ein Song, der allen gefällt, und einer, den Yvonne für mehrstimmigen Chorgesang umarrangiert hat.

Christian Wittstock ist einer der Mitsänger. Mit seinen 41 Jahren ist er der Älteste hier, als Mann in der Minderheit und kommt jede Woche aus Teltow her. Eigentlich hatte er eine neue Rockband gesucht und ist dabei zufällig auf den Chor gestoßen. Vorher hatte er es schon beim Kammerchor Nikolassee probiert, aber Songauswahl, Gruppenstärke und Unverbindlichkeit gefallen ihm bei Yvonne Esins besser. Ob Madonna, Robbie Wiliams oder Coldplay: „Der Kammerchor war rhythmisch auch nicht zu schwer, tonal aber sehr anspruchsvoll.“ Der noch namenlose Chor – ihren ersten kleinen Auftritt hatten sie letztes Jahr bei der Fête de la Musique – aber ist längst keine Ausnahme mehr. Er ist einer von vielen Chören in Berlin, die mit Piefigkeit und schlechtem Image nicht mehr viel gemein haben wollen.

Einer dieser Popchöre, der es im Vergleich zu Yvonnes Truppe schon zu eingermaßen medialer Berühmtheit gebracht hat, ist der Berliner Kneipenchor. Gegründet wurde er vor zwei Jahren von Ex-Virginia-Jetzt!-Bassist Mathias Hielscher und Dirigentin Jana Klepers, sein Name ist Programm: In loser Regelmäßigkeit treten ein bis zwei Dutzend jungen Frauen und Männer in Bars wie dem Ä in Neukölln und dem Michelberger Hotel auf und singen gemeinsam Songs von Phoenix, Jay-Z und Alicia Keys und sogar der Münchener Freiheit. Scheuklappen trägt hier keiner, bloß Spaß soll es machen. Diese Motivation und die Vernetzung der Mitglieder sorgt dafür, dass die kleinen Kneipen regelmäßig aus allen Nähten platzen. Während seiner ersten Berliner Kneipentour hat der Berliner Kneipenchor an jedem auf dem Weg liegenden Späti ein Lied geträllert und Bier getrunken. Zuletzt sangen sie sogar mit den Manic Street Preachers in den Hansa Studios.

Der Berliner Chorverband bestätigt einen Aufwärtstrend. 250 Chöre mit insgesamt knapp 10.000 Mitgliedern sind allein dort gemeldet, dazu kommen etliche aus anderen Verbänden, den Kirchen und loseren Zusammenkünften. Ganz Berlin dürfte deshalb über 2000 Chöre mit rund 60.000 Mitgliedern haben, schätzt Chorverband-Sprecher Meiko Köhler. Die meisten Chöre gebe es in Charlottenburg-Wilmersdorf, die wenigsten in Reinickendorf, „wegen der besseren Vereinstruktur im ehemaligen Westen“, sagt er. Den meisten Zulauf erlebt er bei den 25- bis 45-Jährigen. Im vergangenen Jahr bekam allein der Berliner Chorverband über 50 Neuanmeldungen pro Monat, vor zehn Jahren noch waren es maximal fünf. Die Gründe für diesen Zulauf findet Köhler, der selber singt, seit er 13 Jahre ist, naheliegend: Gemeinsam singen macht Spaß, weil es nicht um die Stärke des Einzelnen geht, sagt er, und gerade für Zugezogene, von denen Berlin immer mehr hat, und Hobbysuchende ist ein Chor eine gute erste Anlaufstelle. Diese Zahlen, Events wie das Weihnachtssingen im Union Berlin-Stadion „Alte Försterei“, „Ich kann nicht singen“-Chöre im Radialsystem, Charterfolge von Popbands von Polyphonic Spree über Gaggle bis hin zu Scala, beweisen: Chorgesang boomt tatsächlich. Und das nicht nur im Kleinen.

Eines der nationalen Chorhighlights jedes Jahr ist das Mitsingkonzert der Philharmonie unter Dirigent Simon Halsey. Seit zehn Jahren pilgern Fans in Reisebussen aus ganz Deutschland und dem Rest der Welt dafür nach Berlin, die Anmeldungen überschreiten regelmäßig die Kapazitäten bei Weitem. Im vergangenen Jahr probten 1275 Menschen gemeinsam die „Nelson-Messe“ von Joseph Haydn an einem Sonntagmorgen und brachten sie am Nachmittag zur Aufführung. Rund die Hälfte sind Berliner, die meisten von ihnen sind Rentner und Frauen. Darunter aber auch die 21-jährige Sina Kleine mit ihrer Freundin Elisa Wittig aus Wilhelmsruh. Den Schülerinnen ist bewusst, dass sie hier eine Ausnahme sind. Aber Singen macht ihnen einfach Spaß, seit sie vor vier Jahren gemeinsam mit dem Schulchor ihr erstes Mitsingkonzert besuchten. Die Altersspanne finden sie lustig, beobachten gerne, wie „die Omas nervös in ihren Notenblättern wühlen“. Und überhaupt macht ja „alles mehr Spaß, wenn man es gemeinsam macht“, sagt Sina. Jetzt kommen sie alleine her, bereiten sich lieber vor als um die Häuser zu ziehen. Und Klassik – auch das unterscheidet sie von vielen Mitschülern – mögen sie sowieso. Das kommende Mitmachkonzert ist schon seit Monaten ausgebucht, die Anmeldung für 2014 beginnt bereits im März dieses Jahres.

„Haben wir die Bridge schon gemacht?“, fragt Yvonne Esins ihre Hobbyschüler und lenkt kurz danach ein. „Ihr verhaut den Bass, das passiert ganz oft an dieser Stelle“, sagt sie, stoppt nach der Zeile „…and I feel that love is dead, I’m loving angels instead“ die Tenorstimmen, als die erneut zu jener schwierigen Passage in Robbie Williams’ „Angels“ ansetzen wollen und erklärt, was gerade die Jungs schon selber merkten: „3/4 haltet Ihr, aber das reicht noch nicht.“ Notenlesen muss hier keiner können, es schadet aber auch nicht. Als versöhnenden Abschluss singt die Gruppe „Yellow“ von Coldplay, ein Klassiker aus ihrem noch kleinen Repertoire. Und eines hat Yvonnes Chor trotz Zulauf und gesteigertem Interesse mit fast allen anderen Chören der Stadt gemein: Sie alle suchen noch mehr männliche Stimmen.

(erschienen in der zitty, Februar 2013)

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