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Ein Pilgerleben

Gestern vor zehn Jahren sind bei einem Auftritt von Pearl Jam in Roskilde neun Menschen gestorben. Gestern hat mich Eddie Vedder persönlich daran erinnert. Mit Tränen in den Augen und der Rotweinflasche in der Hand. Es war das vierte Konzert von Pearl Jam in der wunderbaren Berliner Wuhlheide, und eigentlich war alles wie immer: Die Show war seit Monaten ausverkauft, 18000 Menschen aus der ganzen Welt, darunter Gruppenreisende aus Italien, Spanien oder Polen, Die Hard-Fans, die für eine Tour ihrer Lieblingsband ihren Jahresurlaub in Anspruch nehmen, trafen sich bei über 30 °C im Schatten schon mittags, um ihre alten Helden, ihre eigene vergangene Jugend und somit auch sich selbst zu feiern. Und weil eine der größten und aufrichtigsten Rockbands der Welt sich in meiner jugendlich unverdorbenen Wahrnehmung nicht nur das Venue ihres Gastspiels, sondern auch die Vorbands aussuchen kann, spielte um 18:30 Uhr schon ein gewisser Ben Harper auf und an seiner Lapsteel-Gitarre herum. Zwischendurch lud Harper seinen Kumpel Eddie auf die Bühne, und beide coverten gemeinsam Queens „Under Pressure“. Und weil ich in dem Moment gar nicht wusste, wie sehr Pearl Jam tatsächlich unter Druck gestanden haben müssen, fühlte ich mich lediglich darin bestätigt, was ich schon vorher wusste: Das wird ein guter Abend.

Ben Harper und Eddie Vedder unter Druck

Wie sich das für Lieblingsbands gehört, könnte ich jetzt über Pearl Jam viele persönliche und unpersönliche Geschichten erzählen. Wie ich 2006 vom Ruhrgebiet bis nach Berlin fuhr (Fanclubs wie der Vitalogy Health Club werden über solche Lappalien nur müde schmunzeln), den Weg fast ohne Hilfe fand (siehe Foto oben) und auch deswegen so froh war, weil ich bei ihrer „No Code“-Tour 1996 als 15-Jähriger NICHT nach Berlin oder Hamburg fahren durfte (EinsLive übertrug damals von Radio Fritz, ich kann dank Kassettenrekorder jede Moderation mitsprechen). Wie ich nach diesem Konzert bis 6 Uhr morgens im Magnet Club war, nur um zwei Tage später zu erfahren, dass Eddie Vedder, dank seines Bodyguards angeblich unübersehbar, ebenfalls dort abhing, um sich die Black Keys anzusehen. Wie ich mir 2003 am ersten Tag des australischen Vorverkaufs um Punkt 9 Uhr mein Online-Ticket für Melbourne sicherte, nur um damit unter die Hallendecke der Rod-Laver-Arena verdammt zu werden. Wie ich mir wann und wo welches Album kaufte, wie es mir davor und danach ging und wie das Wetter war. Oder wie ich bei Rock Am Ring 2000 Pearl Jam zum ersten Mal live sah – rund drei Wochen, bevor Roskilde passierte.

Es sind solche Geschichten, die Lieblingsbands ausmachen. Geschichten, die man selbst gerne erzählt und die doch nur den interessieren, der sie auch erzählen könnte. Mehr als solche Peripherien sind es aber die Momente, die einen Unterschied machen. Wenn in Melbourne trotz aller Sicherheitsvorkehrungen ein Kerl auf die Bühne rennt, Vedder bei „Bushleaguer“ die George W.-Maske klaut und Vedder selbst die Securitys zur Entspannung auffordert und den Flitzer auf die Schultern nimmt. Wenn gestern Abend statt eines erwartungsgemäßen Ben Harpers plötzlich Peter Buck und Scott McCaughey von R.E.M. auf die Bühne kommen und mit Pearl Jam „Kick Out The Jams“ von MC5 dahinbrettern (sie waren wegen ihrer neuen Band Tired Pony in der Stadt, vermute ich). Wenn 18000 Kehlen „Black“ mitjaulen und diesen Song trotz „Dudududuudududuuuu“-Lauten einfach nicht kaputt kriegen. Näher können sich Leidenschaft und Wirtschaftsunternehmen, das eine Band und Marke wie Pearl Jam auch längst ist, nicht sein, zumindest habe ich das noch nicht erlebt. Oder wenn einer auf dem Höhepunkt des Sets sagt, dass heute vor zehn Jahren vor seinen Augen neun Menschen zu Tode getrampelt worden sind, nur weil Boxen ausfielen und die hinteren Reihen ihre Lieblingsband hören wollten (über diese Gründe sprach er natürlich nicht). Vedder fragte vorher schon, ob es allen gut ginge, ob jeder bitte auf seinen Nebenmann achten könne. Aber seit Roskilde sagt er das immer. Danach wollten sie schließlich eigentlich nur noch bestuhlte Konzerte spielen.

Es wurde ruhig in der Wuhlheide, es wurden Feuerzeuge gezückt und nach einer Gedenkminute von ungefähr 20 Sekunden fegten Mike McCready, Stone Gossard, Jeff Ament, Matt Cameron, Boom Gaspar und Eddie Vedder mit dem Doppelschlag „Comeback“ / „Alive“ alle Zweifel hinweg: Dieser Moment der Erinnerung an einen anderen Moment, der alles veränderte, hat die Stimmung des Abends nicht gedrückt. Im Gegenteil: Er hat aus einem außerordentlich soliden, zweieinhalbstündigen Konzert, auf dem es längst nicht mehr um gespielte oder nicht gespielte Songs ging, ein besonderes gemacht. Pearl Jam bleiben noch ein bisschen, ich habe mir wieder ein T-Shirt gekauft.


2 Gedanken zu „Ein Pilgerleben

  1. Pearl Jam! Wenn ich das so lese, wünsche ich mir nicht mit Hip Hop aufgewachsen zu sein :)

  2. Schöne Hommage!
    Maaaann, wenn ich das lese bereue ich total, dass ich mir diesmal kein Ticket gekauft habe. Ich bin 1996 bis nach Zürich gefahren… und viele viele weitere Geschichten :-)
    Gibts eigentlich nen Namen für die fanatischen Pearl Jam Fans, die nachreisen und so? So wie die Deadheads? Jamheads vielleicht?

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