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Der Künstler, das Arschloch: Wie Hollywoods Sex-Skandal unser Kunstverständnis ändert

Nach Weinstein, Spacey und Louis C.K. erntet nun auch Brand-New-Sänger Jesse Lacey schwere Vorwürfe. Ist sexueller Missbrauch deshalb im Indierock angekommen? Nein. Er war schon immer da, wo männliche Idioten Macht ausüben. Ein Kommentar.

Brand New mit Jesse Lacey (2. v.r.) (PR / Brandon Sloter)
Brand New mit Jesse Lacey (2. v.r.) (PR / Brandon Sloter)

Neulich auf einer Party. Smalltalk-Thema Weinstein, Spacey, Louis C.K., Missbrauchsvorwürfe und wie sie nun auch in der Indierockszene um sich griffen. „Ich will die Taten all der Männer, die jetzt an die Öffentlichkeit gezerrt werden, nicht entschuldigen“, schiebt mein männliches, weißes Gegenüber in seinen späten 30ern seiner folgenden These entschuldigend voraus: „Aber die ganze Idee des Rock’n’Roll lebt doch von solchen Verhältnissen. Davon, dass junge Frauen die meist männlichen Rockstars anhimmeln und sich unterwürfig verhalten.“ Sich jetzt darüber aufzuregen, sagt er, sei doch etwas scheinheilig; jede „Me Too“-Geschichte auf Facebook zu posten, gar gefährlich.

Ich habe länger über diese schwierige bis asoziale Behauptung nachgedacht und bin zu einem vermeintlich einfachen Schluss gekommen: Stimmt schon, Groupies haben der Legendenbildung von Rock- und Popbands selten geschadet, von Stones-Muse Anita Pallenberg bis hin zu kreischenden Teenagern bei Beatles, Boygroups oder The Kelly Family. „Es war schon immer so“ war aber noch nie ein gutes Argument, eine Entschuldigung schon gar nicht. Außerdem geht es um die Einvernehmlichkeit, und die ist in der Regel nur scheinbar eindeutig auszumachen.

Vordergründig und für Außenstehende sieht die Sachlage doch so einfach aus: Man könnte behaupten, wenn beide volljährig sind und wollen, was auch immer da geschehen ist, dann so what. Erstens aber glauben junge Frauen (oder Männer) wohl oft nur zu wollen, sie sind geblendet von der Figur, die ihr Star darstellt. Wenn sie merken, dass auch er – Machtmissbrauch ging in den bisher bekannt gewordenen Fällen ausschließlich von Männern aus – nur ein „Raubtier“ ist, ist es oft schon zu spät. Anna Graham Hunter hat diese Situation recht eindrücklich beschrieben, als sie in einem Gastbeitrag für den „Hollywood Reporter“ von ihren Erlebnissen mit Dustin Hoffman berichtete. Auch Louis C.K. dachte, er tut nichts Schlimmes, schließlich habe er die betroffenen Frauen vorher gefragt, ob er vor ihnen masturbieren dürfe. Dass er schon beim Stellen dieser Frage seine Macht missbrauchte und Frauen in Situationen brachte, in denen sie niemals stecken wollten, war ihm schlichtweg nicht bewusst. Womit wir beim zweiten Punkt wären: Allen Männern, die sich nun mit öffentlichen Vorwürfen konfrontiert sehen, müsste eigentlich klar gewesen sein, dass hier ein Abhängigkeitsverhältnis ausgenutzt wurde: Harvey Weinstein, der gar ein Netz aus Privatdetektiven aufbaute, um seine Taten zu vertuschen, wusste eben so genau, dass er Schauspielkarrieren auf- oder verbauen konnte, wie etwa ein Barbetreiber in Neukölln weiß, dass er mehr Schichten gegen Sex versprechen kann, wenn sein Personal es finanziell besonders nötig hätte (anderes Beispiel meines Gegenübers). Drittens gibt es da noch die besonders unschöne Zwischenform der Manipulation.

Und damit kommen wir zu Jesse Lacey: Der Sänger der Hardcore-Emo-Rockband Brand New sieht sich seit Freitag den Vorwürfen ausgesetzt, er habe als 24-Jähriger ein damals 15-jähriges Mädchen sexuell belästigt. Auf Facebook schrieb das mutmaßliche Opfer, dass Lacey sie damals in Nacktposen sehen wollte. „He manipulated the hell out of me, demanded specific poses/settings/clothing, demeaned me, and made it clear that my sexuality was the only thing I had to offer”. Lacey soll sich seines Fehlverhaltens durchaus bewusst gewesen sein: „He knew what he was doing was shitty so he wouldn’t touch me until I was 19“, sagt die Frau, die Skype-Screenshots eines masturbierenden Lacey angeblich auf ihrem Rechner hat, heute und erklärt: „I should’ve known better by then, but he had screwed me up so much psychologically that all I wanted was his approval.”

https://www.facebook.com/BrandNew/posts/10155923794753023

Lacey hat in einem ausführlichen Facebook-Post öffentlich reagiert und damit offenbart, dass er sich gegenüber mehreren Frauen – nicht zuletzt seiner  eigenen – falsch verhalten habe. Auf den Vorwurf, dass er als Erwachsener eine Minderjährige sexuell belästigt haben soll, ging er konkret nicht ein. Livegitarrist Kevin Devine hat seine Tourteilnahme mit Brand New in der Zwischenzeit abgesagt; die ohnehin schon angekündigte Trennung von Brand New im Jahr 2018 dürfte hiermit endgültig besiegelt sein. Zumal es kommt, wie es kommen musste: Seit dem Wochenende haben sich weitere mutmaßliche Opfer von Jesse Lacey zu Wort gemeldet und berichten von ähnlichen Fällen, ein Vorwurf lautet gar „child grooming“.

Wird Musik schlechter, wenn ihre Schöpfer Arschlöcher sind?

Für Fans von Brand New stellt sich nun die gleiche Frage wie Zuschauern von „House Of Cards“: Kann man die Kunst und den Kerl dahinter getrennt voneinander betrachten? Wem außer den Einnahmen an der Kinokasse hilft es, Kevin Spacey in letzter Sekunde aus einem Hollywoodfilm herauszuschneiden? Kann und darf ich noch über Louis C.K.s Witze über Männlichkeit lachen? Und wird Brand News Szeneklassiker DEVIL AND GOD ARE RAGING INSIDE ME schlechter, weil sein Songwriter, Sänger und Gitarrist offenbar ein Arschloch ist? Micky Beisenherz, selbst nicht immer bester Freund von politisch und moralischen korrekten Witzen, benannte die Problemstellung in seiner „Stern“-Kolumne neulich so: „Ist Kunst nicht überwiegend ein Produkt, das von Menschen gemacht ist, die über ein beschädigtes, völlig übersteigertes Ego, eine beschädigte Psyche, ein fast schon groteskes Selbstbild verfügen? Ja, muss man nicht sogar mächtig einen an der Mütze haben, um so drauf zu sein, Wildfremden sein Zeug zuzumuten? Und ist dieser ungesund starke Drang nach Zuspruch, Beantwortung, Bestätigung, der als kreative Triebfeder dient, im Privatleben so zu zähmen, dass er den moralischen Ansprüchen von uns Normalbürgern genügt? Kann ich das Aufbrausende in der Kunst lieben, obwohl ich es im Privatleben meines Helden verabscheue?“

Eine Antwort hat Beisenherz auf diese Fragen nicht, aber eine Idee: „John Lennon war kein netter Mensch, Lou Reed ein Volltrottel und Klaus Kinski soll auch sehr aufbrausend gewesen sein. Ben Kingsley war in „Sexy Beast“ definitiv näher bei sich selbst als in „Ghandi“. Steve McQueen hat Frauen geschlagen und Marvin Gaye, nun ja, den Louis C.K. gemacht. Wollen wir nur Kunst von moralisch einwandfreien, ja, „guten“ Menschen konsumieren, werden wir vermutlich für lange Zeit DJ Bobo und Rolf Zuckowski hören müssen. Und Walt-Disney-Filme sind auch gestrichen. So viel Konsequenz muss sein. Kunst hat keinerlei Verpflichtung. Kunst verlangt vom Schaffenden weder Führungszeugnis noch Wesenstest. Sie lebt von der Perspektive, der Interpretation des Publikums. Und das ist gut so. Ob ich mich als Betrachter aber noch auf das Werk einlassen kann, das kann kein Gericht der Welt entscheiden.“

Eben: Es gibt keine eindeutige Antwort auf die Fragen danach, wie mutmaßliche Opfer mit ihren Erfahrungen umzugehen haben und was die Vorwürfe mit der Rezeption des Werks des mutmaßlichen Täters anstellen. Aber zu behaupten die Lösung zu kennen, ohne selbst in irgendeiner Art und Weise betroffen gewesen zu sein („Warum reden die erst jetzt alle, warum nicht früher?“), ist auch nicht souveräner. Nur empathieloser. Einen positiven Nebeneffekt haben die wohl noch länger nicht abbrechenden Vorwürfe übrigens dennoch: Männer Idioten, die bisher Abhängigkeiten ausnutzten und Macht missbrauchten, stehen plötzlich vor der Frage: „Wie benehmen, wenn nicht nehmen?“ Die Antwort zumindest darauf ist gar nicht so schwer.

Weil sich jetzt – von Produzenten über Rockmusiker bis hin zu Privatmenschen – so viele Männer fragen, ob sie denn überhaupt noch mit einer Frau flirten dürfen, ohne Gefahr zu laufen, bei Misserfolg vom sozialen Mob hingerichtet zu werden, ist die folgende Faustregel vielleicht nicht die schlechteste: Behandelt Frauen – ob auf der Arbeit, auf Partys oder in Online-Foren – doch bitte einfach so respektvoll und auf Augenhöhe, wie Ihr Euch wünschen würdet, dass andere Männer mit Euren Müttern, Schwestern, oder (erwachsenen) Töchtern umgehen. Dann kann eigentlich nicht so viel schief gehen.

Dieser Kommentar erschien zuerst am 14. November 2017 auf musikexpress.de.

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