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Ein kleines Quäntchen Größenwahn

Ohne Popkomm, aber mit neuem Optimismus will die Berlin Music Week weg vom Messe-Image – und endlich hinein in das musikalische Herz der Stadt

Anfang September soll es soweit sein. Dann wird die dritte Berlin Music Week (BMW) über die Bühnen der Hauptstadt gehen, aber sie wird dann ganz auf sich allein gestellt sein. Die Popkomm nämlich, einst einer der weltweit größten Branchentreffs der Musikindustrie, wird dieses Jahr „nicht im Rahmen der Berlin Music Week stattfinden“. So teilten es im Januar die Kulturprojekte Berlin, Veranstalter der Berlin Music Week, mit. Tatsächlich wird die Popkomm in diesem Jahr gar nicht stattfinden. Man wolle „konzeptionell neue Wege gehen“, sagte eine Popkomm-Sprecherin. Gemunkelt wird aber, dass die Messe gar keine Zukunft mehr hat.

Gewundert hat die Absage deshalb niemanden. Eine radikale Neuausrichtung der BMW, da sind sich alle Akteure einig, war und ist bitter nötig. Denn schon 2003, als die Branchenmesse Popkomm von Köln nach Berlin umzog, ging es der klassischen Musikindustrie schon längst nicht mehr so gut wie in den goldenen 90er-Jahren. 2009 legte sie eine Zwangspause ein, laut Popkomm-Gründer Dieter Gorny wegen den mit Internetpiraterie verbundenen Umsatzausfällen der Branchenteilnehmer. Tatsächlich aber hatten die damals großen Player zu lange versucht, an alten Geschäftsmodellen festzuhalten und so den rechtzeitigen Schritt ins digitale Zeitalter verpasst. Vermarktung im Internet wurde als Fluch, nicht als Chance begriffen; Standortwechsel allein halfen da wenig. Als Antwort auf diesen Ausfall gründeten Macher der hiesigen Musik- und Medienszene, darunter die Veranstalter der Internetkonferenz re:publica, die Konferenz all2gethernow. Die wiederum war 2010 und 2011 wie die Popkomm Teil der Berlin Music Week, die seit 2010 stattfindet, bislang aber Defizite in der öffentlichen Wahrnehmung aushalten musste. Zu zerfasert schienen die Parallelangebote von all2gethernow und Popkomm, zu dezentral das umfassende Programm aus Workshops, Panels und Konzerten. Selbst das Berlin Festival auf dem Tempelhofer Flughafen hatte mit seiner Aufgabe als öffentlichkeitswirksames Aushängeschild der BMW zu kämpfen und produzierte schlechte Presse: 2010 musste die Veranstaltung wegen Sicherheitsbedenken abgebrochen werden, danach wurden Vorwürfe an die Veranstalter laut.

Das Berlin Festival 2010, schon dort im Rahmen der Berlin Music Week und auf dem stillgelegten Flughafen Tempelhof
Das Berlin Festival 2010, schon dort im Rahmen der Berlin Music Week und auf dem stillgelegten Flughafen Tempelhof

Das alles weiß auch Björn Döring, von den Kulturprojekten Berlin als BMW-Projektleiter eingesetzt. Gemeinsam mit der all2gethernow e.V. hatte er Anfang März dieses Jahres ein Dutzend Vertreter der Verbände der Musikwirtschaft, BMW-Vertreter und einige Akteure aus der Musikszene zu einem Workshop ins Michelberger Hotel geladen. Einziger Tagespunkt des Brainstormings: die Neuerfindung der Berlin Music Week und die Beantwortung der Frage, wie man die Chance, dass die Popkomm ausfällt, nutzen kann. Da saßen sie plötzlich alle an einem Tisch, die Entscheider von Berlin Music Commission, Green Music Initiative, CTM Festival, Seedlab, all2gethernow, dem Verband unabhängiger Musikunternehmen und der einstige Universal-Boss Tim Renner. Sie dachten nach, stritten, argumentierten und tauschten gute und schlechte Erfahrungen von anderen Events aus wie etwa der „South By Southwest“ in Austin, Texas (gut) und der MIDEM in Cannes (schlecht). Einige waren sich alle Anwesenden darin, dass die BMW im Idealfall „eine Plattform für das, was in Berlin eh schon das ganze Jahr passiert“ (Döring) werden könnte, dass man die Euphorie, die Clubtouristen in Berlin spüren, aufgreifen müsse, dass das Konzept der Messe sowieso überholt sei, und dass fortan die Künstler im Mittelpunkt stehen sollten. Die Berlin Music Week 2012 sollte anders werden, die Botschaft lautete: hier wird über die Zukunft nachgedacht.

Aus diesem ersten Brainstorming ist nun ein handfestes Konzept geworden. Das Programm, das Mitte Juni auf einer Pressekonferenz im Spreespeicher an der Stralauer Allee, zwischen nhow-Hotel und Universal, vorgestellt wurde, steht zwar immer noch nicht bis in die letzte Clubecke. Die Macher aber waren fleißig – und haben aus der Vergangenheit gelernt. Zur Eröffnung am 5. September spielen das Filmorchester Babelsberg und verschiedene Bands im Tempodrom auf. Es folgen „Word On Sound“-Debatten in Postbahnhof und Spreespeicher, Berlin Festival mit The Killers, Franz Ferdinand, Sigur Ros, Paul Kalkbrenner, Kraftklub u.v.m. am Tempelhofer Flugfeld, New Music Award 2012 im Admiralspalast, Blogger- und Songwritercamps im Michelberger und nhow-Hotel, Clubabende in Lido, Magnet, Watergate und Co: Berlins neues Medienzentrum zwischen Oberbaumbrücke und Schlesischem Tor soll zum Mittelpunkt der neuen BMW werden.

„Die wichtigsten Geschäfte passieren morgens um drei an der Bar“, sagt Döring über die Absage an Messekonzepte und will auf seiner BMW auch keinen Betroffenheitstalk über die kränkelnde Branche: „Ich kann all das Krisengerede nicht mehr hören.“ Die BMW soll Vernetzungsformate bieten für die, „die damit Geld verdienen oder verdienen wollen“, der Künstler solle im Zentrum stehen. Von Auftritten in Kreuzberger Wohnzimmern über Dachkonzerte des Online-Musiksenders tape.tv an der Spree bis hin zur Silent Disco in Tempelhof mit über 10.000 Kopfhörern haben sich die Kooperationspartner und Gastgeber tatsächlich viel Großes und Kleines vorgenommen, dessen Gegensätze und Bandbreite sie einhellig begeistert wie vollmundig als „kleines Quäntchen Größenwahn“ umreißen.

Ob die Zukunft so großartig wird, wie sie scheint, wird man im September sehen. Neben Döring saß auch Christoph von Knobelsdorff auf dem Podium der Pressekonferenz. Knobelsdorff ist Staatssekretär für Wirtschaft, Technologie und Forschung. Außerdem ist er neuerdings Stammgast bei allen öffentlichkeitswirksamen Groß-Veranstaltungen, die vom Berliner Senat gefördert werden. Auch er weiß zu sagen, dass das Konzept Musikmesse nicht mehr funktioniere, es deshalb toll wäre, das weiterzudenken und dass der Senat will, dass hier Geschäfte entstehen. Die Förderung der Berlin Music Week sei mit 500.000 Euro pro Jahr für die nächsten zwei Jahre schon gesichert, nach Fashion Week und Web Week sieht Knobelsdorff die Zukunft der BMW gar als eine Art „Berlinale der Musik“. Scheinbar gute Nachrichten – aber er hat auch Pläne, die eigentlich gar nicht im Interesse der BMW-Veranstalter liegen dürften: Knobelsdorff denkt laut darüber nach, die alljährliche Verleihung des deutschen Musikpreises „Echo“ ebenfalls unter dem BMW-Dach zu organisieren, weil „die Branche dann eh schon in der Stadt ist“. Doch der „Echo“ steht eben nicht für die Zukunft, nicht für Innovation, sondern ist Symbol einer sterbenden Branche, die sich an überkommene Vorstellungen klammert. Bisher scheitert das Vorhaben allerdings an der Terminfindung. Doch eine „Spring Conference“, ein gemeinsam von BMW und „Echo“ organisierter Warm-Up, sei für das nächste Frühjahr immerhin bereits geplant.

(erschienen in: zitty, 15/2012)

Ego auf vier Rädern

Die Wirtschaftskrise und ihre Opfer: Geht mit General Motors auch die Ära des Hummers zu Ende? Eine kleine Kulturgeschichte.

Der Kalte Krieg lag noch in seinen letzten Zügen, aus dem Irak rückten die US-Truppen ab, der amerikanische Drang nach Wettrüsten verlagerte sich ins Landesinnere – das Jahr 1991 markierte auch militärisch den Beginn einer neuen Dekade. Die Popmusik ließ da nicht auf sich warten: Als pazifistische Protestform nutzten HipHop-Bands wie Public Enemy schon seit den Achtzigern Worte statt Waffen, das rhetorische „Battlen“ wurde gesellschaftsfähig. Ihre Gegner aber, die Bürger des amerikanisches Establishments, schlossen die aufklaffende Lücke in ihren rivalisierenden Seelen durch den Erwerb von Luxusgütern auf vier Rädern: Als wahrer Nachlass amerikanischer Expansionsindustrie und Symbol der Aufrüstung des Wohlstands wurde der „Humvee“ auf den Garagenstellplatz der aufblühenden „gated communities“ vorgefahren.

Arnold Schwarzenegger, bekanntlich weder Musiker noch Soldat, läutete dieses Machtspiel ein: Nach dem zweiten Golfkrieg kaufte der ehemalige „Mr. Universum“ als erster Zivilist zwei Hummer. Diese überdimensionalen, 1983 von AM General für Kriegseinsätze entwickelten Geländefahrzeuge hatten ihre Schuldigkeit getan. Jeder gewöhnliche Jeep mutete daneben wie ein Spielzeugauto an. Das Militär gab deshalb seine „High Mobility Multipurpose Wheeled Vehicle“ als H1 zur Massenproduktion frei – und zum Spielen. Ironischerweise nämlich war Schwarzenegger nicht nur der einzige Mann, der kein weiteres Muskelpaket an seiner Seite gebraucht hätte. Er war auch einer der wenigen Menschen, deren physische Erscheinung der eines Hummers gerecht wurde.

Vom Golfkrieg zum Gangsta Rap

Der Bodybuilder und Schauspieler ging Jahre später als „Gouvernator“ in die republikanische Politik, der Hummer als Statussymbol in den schwarzen HipHop. Dessen ursprüngliche Motivation, den Kapitalismus und eine konservative Politik anzuklagen, hatte sich in seiner Mainstreambewegung schon Mitte der Neunziger ins Gegenteil verkehrt. Der „Gangsta Rap“ zog als muskelbepackte Spielart des HipHops von den Straßen in die Charts – und nahm die Knarren als Sinnbild wieder sehr physischen Kräftemessens gleich mit. Das Geld floss. Der Hummer überlebte den erschossenen Tupac Shakur und die Karrieren anderer zeigefreudiger Fans, vom Boxer Mike Tyson bis zum Basketballer Shaquille O’Neal. Größer, breiter, glänzender und argwöhnischer konkurrierte der Wettbewerb auch außerhalb ihrer vom echten Leben mitunter abgeschotteten Villen. Goldbehangene Rapper wie Snoop Dogg, Xzibit oder 50 Cent schmückten ihre HipHop-Videos mit fast barbusigen Bikini-Mädchen, die sich auf Motorhaube oder Rückbank eines Hummers H2 rekeln durften. So etablierten sie den Hummer im Musikfernsehen als mobile Gartenmauer, Ort der Geborgenheit, Phallussymbol und ironischen Seitenhieb auf die Kollegen – ganz eindeutig zu interpretieren war das nie. Wer früher in den Slums auf der Straße kämpfen musste, so schien es, zelebrierte auch in den Bergen Hollywoods noch ein Leben in Angst – obwohl die Nachbarn keine schwer bewaffneten Verbrecher waren, sondern Meg Ryan oder Kevin Costner hießen.

Im Jahre 2002 erleichterte die Steuerpolitik der Bush-Regierung den Kauf der so genannten „gas guzzler“, der Spritschleudern. Der H1 kostete immer noch rund 40 000 US-Dollar und verbrauchte durchschnittlich stolze 30 Liter pro hundert Kilometer. Längst waren es nicht mehr nur Sportler und Musiker, die ihren ultimativen Starstatus mit dem Besitz titanischer Geländefahrzeuge beweisen wollten: Playboy-Gründer Hugh Hefner oder Hotelerbin Paris Hilton gehörten zu den „celebrities“, deren Karrieren durch Amerikas Hinwendung zum Hedonismus erst möglich wurden. Die Industrie erkannte den Trend und baute, als eine Art fahrer- und stadtfreundlicheren Hummer „light“, so genannte SUVs (Sport Utility Vehicles), die fortan die Familienkarosse gehobener Mittelstandsfamilien werden sollten.

Doch das Klima drehte sich. Die Ölpreise stiegen. Ein globales Bewusstsein gegen Ressourcenverschwendung und die Bush-Administration machte sich breit. Im Sommer 2003 zerstörten Vandalen mehrere Autohandlungen in Kalifornien und sprühen Aphorismen wie „fette, faule Amerikaner“ an Wände und Fahrzeuge. Andere Kritiker forderten General Motors auf, spritökonomische Standards einzuhalten. Der Detroiter Konzern reagierte auf sinkende Verkaufszahlen, brachte 2005 den noch kleineren H3 auf den Markt und stoppte ein Jahr später die Produktion des ersten Zivil-Hummers H1, von dem insgesamt 12 000 Stück verkauft wurden. Der H3 verkaufte sich bis dahin 50 000-mal, der H2 doppelt so oft. Seit General Motors Anfang 2008 den Produktionsstop des H2 ankündigte, jubeln seine Feinde auf ihrer Homepage www.fuh2.com („Fuck You And Your H2“): „Mission accomplished – Mission erfüllt“.

Nur in Russland steigen die Absätze

Zuletzt ging alles rasend schnell. Renault traute sich unter dem Slogan „Mehr Sein als Schein“ 2007 eine Werbespot, in dem Celebrities in Beverly Hills ihre protzigen Karren nur so lange vor ihren Villen parkten, bis die Touristenbusse weiterfuhren und fuhren dann ihre Kleinwagen vor. Schwarzenegger ließ einen seiner mittlerweile sieben Humvees auf Wasserstoffbetrieb umbauen und die anderen in der Garage stehen. Zum Frühjahr 2008 brachen die Verkäufe bei General Motors um die Hälfte ein, seitdem taumelte der Konzern. Die bis heute unbezahlten „McMansion“-Vorstadtvillen fielen der Finanzkrise vom Fleck weg zum Opfer, die Häuser in den Hollywood Hills stehen noch. Mit dem Ende der Ära des Kriegers George W. Bush stirbt nun auch das Wettrüsten der verschwenderischen neunziger Jahre und seine letzten Symbole – trotz wieder sinkender Ölpreise. Der Hummer ist die metallgewordene und anachronistische Antithese zu Barack Obamas Klimapolitik. Ein Exportschlager war er noch nie – nur im neureichen Russland steigen die Absätze.

Der Niedergang des im ersten Irakkrieg geborenen Hummers begann schon vor sechs Jahren, als er kollaterales Opfer des zweiten Irakkrieges wurde. Sein Erbe lebt freilich weiter: ein SUV gehört trotz oder gerade wegen Smarts und Elektroautos auch in Europa bei jedem namhaften Automobilhersteller noch zum Programm. Der nun insolvente General Motors-Konzern verkaufte seine Geländewagenmarke Hummer Anfang Juni 2009 an den chinesischen Spezialmaschinen-Hersteller „Sichuan Tengzhong Heavy Industrial Machinery Co“. Ob die Produktion des längst überholten amerikanischen Traums also einen neuen Boom erfährt oder nicht: seit Aufstieg und Fall der Regierung Bushs repolitisiert sich auch der „Gangsta Rap“ und stellt wieder Inhalte über imponierendes Machogehabe. Der geschiedende Präsident hat den Hummer vorerst mit in die politischen Annalen genommen. Public Enemy gehen wieder auf Tour. Der HipHop erlebt also eine materielle Gesundschrumpfung durch die Autoindustrie – und umgekehrt.

(erschienen auf: BRASH.de, Juni 2009)

Was da klappert, trennt den Körper vom Geist

Mit der Schreibmaschine begann die Automatisierung intellektueller Tätigkeiten: Rückblick auf ein altertümliches Instrument

Jack Nicholson hämmerte in Stanley Kubricks „The Shining“ mechanisch diesen einen Satz tagelang in seine Schreibmaschine: „All work and no play makes Jack a dull boy“ – „Arbeit statt Spiel macht Jack zum dumpfen Jungen“. Dies ist die zweitbekannteste Interpretation einer Errungenschaft des späten 19. Jahrhunderts: Die Schreibmaschine erscheint hier als verlängerter Arm des Geistes – und zwar eines zerrütteten. Der niedergeschriebene Wahnsinn in „The Shining“ führte 1980 ein Bild fort, das der Romancier Bram Stoker 83 Jahre früher in „Dracula“ zu zeichnen begonnen hatte. (Fiktive) Manuskripte, Briefwechsel und Zeitungsartikel, gerade aber die eifrig getippten Tagebucheinträge von Jonathan Harkers Verlobter Mina als „Diskursangestellte“ dokumentieren im ersten Vampirroman der Literaturgeschichte die Klimax des Grauens. Denn mit welchen Mitteln wird der Vampir, diese Erscheinung aus einem geographisch abgelegenen und historisch völlig überholten Osteuropa überwunden? Mit dem Grammophon, der Schallaufzeichnungsmaschine eines Wissenschaftlers, und der Schreibmaschine, dem Schriftaufzeichnungsgerät einer frühen Sekretärin.

Der Bau der ersten marktfähigen Schreibmaschine geht auf ein dänisches Taubstummeninstitut im Jahr 1865, über 400 Jahre nach dem ersten Typenbuchdruck, zurück. In Deutschland hält die Technik des mechanisch reproduzierten Wortes 17 Jahre später Einzug; im Jahr 1898 nehmen die Adler-Werke, damals noch Heinrich Kleyer GmbH, die Produktion auf. Seit Menschengedenken wurde all jenes Gedankengut nachfolgenden Generationen überliefert, das in die jeweiligen „Aufschreibesysteme“ ihrer Zeit aufgenommen wurde. In seinem gleichnamigen Standardwerk beschrieb der Medientheoretiker Friedrich Kittler 1985 Aufschreibesysteme primär als technische, analoge wie digitale Einrichtungen zur Speicherung von Daten – von der Höhlenmalerei über Tonaufnahmen bis zum Schriftdruck und darüber hinaus. „Akten verlieren an Macht“, heißt es im Vorwort zu Kittlers „Grammophon. Film. Typewriter“, „wenn die realen Datenströme unter Umgehung von Schrift und Schreiberschaft nur noch als unlesbare Zahlenreihen zwischen vernetzten Computern zirkulieren.“ Der Anfang vom Ende der Handschrift war in den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts, als Friedrich Kittler dieses Buch verfasste, längst eingeläutet, argumentieren Kulturpessimisten. Und es stimmt ja auch: ein papierloses Büro ist kein Büro. „Von den Leuten gibt es immer nur das, was die Medien speichern und weitergeben können“, heißt es in jenem Vorwort zeitlos weiter. Von den Auswirkungen des heutigen Datenverkehrs war Kittlers Arbeit damals noch unbehelligt.

Tatsächlich spinnt sich um die Einführung der Schreibmaschine im späten 19. Jahrhundert eine Kulturgeschichte in vielen Kapiteln. Die Alphabetisierung großer Bevölkerungsgruppen lag noch nicht lange zurück, die Handschrift in ihrer Schulform – als unendliche, geschwungene Linie – hatte sich gerade durchgesetzt, auch als Ausdruck der Person, des einzigartigen Menschen. Da löste die Schreibmaschine diese Bindung wieder auf, indem sie (nach einiger Übung) die Schrift blind werden ließ: Man musste ja nicht einmal mehr hinschauen. Und gleichzeitig waren die Grundlagen für eine bald unendliche Reproduktion gelegt – zuerst als Durchschlag, dann als Kopie. Es dauerte also nicht mehr lange, bis Heerscharen von Stenotypistinnen damit beschäftigt waren, unendliche Mengen von Texten anzufertigen, die sie oft nicht verstanden und auch nicht verstehen mussten. Und auch die Philosophie entdeckte die Schreibmaschine: Friedrich Nietzsches (minus 14 Dioptrien) Aphorismen wären kaum entstanden – und vor allem: so nicht entstanden –, hätte er nicht eine Schreibmaschine benutzen können.

Seit der flächendeckenden Einführung elektronischer Datenverarbeitung, seit nunmehr rund 20 Jahren also, fristet die Schreibmaschine ein immer blasser werdendes Schattendasein. In ihren Erben lebt sie als Computer, Laptop oder Handy freilich weiter, in immer höheren Automatisierungsgraden. In Film und Fernsehen aber versinnbildlicht die Darstellung ihrer Nutzung den Schreibenden als letzten Puristen seiner Art, als Romantiker – oder als heillosen Chaoten, der im Wahnsinn seines Genies von der Klippe springt. Das längste geläufige englische Wort übrigens, das sich mit einer Buchstabenreihe einer amerikanischen „QWERTY“-Schreibmaschine wie auch mit dem US-Computer-Keyboard tippen lässt, lautet: „typewriter“.

(erschienen in: Süddeutsche Zeitung, 19. November 2008, Seite 20, Wirtschaft)