„Der Traum vom Haus kann zum Albtraum werden“

11. Juli 2023 | 0 Kommentare

Warum gilt das Eigenheim für Familien noch immer als erstrebenswertes Lebensziel? Und bringen Pandemie, Krieg und Inflation diesen Wunsch ins Wanken? Mein Gespräch mit dem Psychologen und Resilienzexperten René Träder für den „Tagesspiegel“ (Aufmacher der Seite 1 am 22. Juni 2023).

 

Herr Träder, es gab 2021 über 16 Millionen Einfamilienhäuser, darunter auch Doppelhaushälften, in Deutschland. Seit 2001 kamen jährlich grob rund 100.000 hinzu. Das Eigenheim bleibt offenbar ein anhaltendes Lebensziel der Deutschen. Warum?

Es ist nicht nur ein Lebensziel. Im ländlichen Raum ist Wohnen kaum anders möglich. Dort gibt es keine Mietshäuserstruktur wie in Hamburg oder Berlin. Von daher ist es nicht verwunderlich, dass die Hälfte der Menschen in Häusern lebt.

Der Wunsch des Hausbaus wächst aber auch aus einem gesellschaftlichen Narrativ heraus.

Klar: Kinder zeugen, Baum pflanzen, Haus bauen gelten als die drei großen To-dos. Das hören wir in unserer Kultur immer wieder. Ein eigenes Haus bedeutet Erfolg, nach außen hin und für sich selbst. Ich habe Besitz erschaffen, den ich auch noch nutzen kann.

Wieso streben wir danach?
 
Das Leben und die Arbeit sind oft schwer und hart. Als Ausgleich spendet ein Haus Sicherheit und Freiheit: Niemand kann mir kündigen. Ich kann den Wohnraum gestalten, wie ich möchte. Im Rentenalter muss ich keine Miete zahlen. Tradition spielt aber auch eine Rolle: Viele Menschen bleiben dort, wo sie aufgewachsen sind, und kümmern sich eines Tages um ihr Elternhaus, wollen die Familiengeschichte fortführen. Vergessen wird bei diesem Narrativ oft, was so ein Haus kostet, dass selbst bei Erbe in 30 Jahren vielleicht grundsaniert werden muss und die Rente plötzlich trotzdem knapp wird. Der Traum vom Haus kann auch zum Albtraum werden.
 

Mann mit Hut: Psychologe René Träde, sitzend

Kennt sich mit Stress und Resilienz beruflich aus: Psychologe und Buchautor René Träder (Foto: privat)

 
Gibt es auch evolutionspsychologische Gründe, wie der Schutz der Familie, die in uns schlummern?
 
Wir leben immer in einer bestimmten Kultur und bringen unsere Gene mit. Diese beiden Aspekte bestimmen unsere Sehnsüchte und unser Verhalten. Ein Beispiel: Als Nachfahre von Steinzeitmenschen haben wir ein ganz starkes Bedürfnis nach Bindung im engeren Kreis. Sicherheit ist ein psychologisches Grundbedürfnis. Der Steinzeitmensch hat auch nicht auf der Wiese geschlafen.
 
Obwohl ein Eigenheim heutzutage längst nicht mehr nur Sicherheit bedeutet.
 
Den Begriff der Sicherheit müssen wir modernen Menschen zweigeteilt betrachten. Einerseits gibt es das Bedürfnis nach Schutz vor Gewitter und wilden Tieren, anderseits gibt es das Bedürfnis, dass sich die Dinge gut entwickeln und wir sie in der Hand haben. Einen Bankencrash, Zinsschwankungen und Sanierungsgesetze kannte der Steinzeitmensch nicht.
 
Die aktuellen Krisen machen etwas mit den Menschen. Wir wollen gerne eine Kontrollüberzeugung im Leben haben, das Gefühl: Ich kann die Dinge gestalten! Ich treffe eine Entscheidung, die eine absehbare Konsequenz hat! Durch mein jetziges Handeln gestalte ich meine Zukunft! In dem Moment, wo sich die Spielregeln verändern – zum Beispiel, weil alles teurer wird oder weil man auf eine bestimmte Weise sanieren muss –, ersetzt ein Ohnmachtsgefühl die Kontrollüberzeugung. Fast so, als würden wir „Mensch ärgere dich nicht“ kurz vor Spielschluss mit neuen Regeln spielen. Das frustriert.
 
War denn ein eigenes Haus vor den jüngeren Krisen die beste Option dafür? Man wird extrem fremdbestimmt: einen Kredit aufnehmen und abbezahlen, das würde ich als über 40-Jähriger vor der Rente nie schaffen. Das birgt doch mehr Druck als Freiheit.
 
Früher gab es weniger Regularien, Kredite konnte man besser abzahlen als jetzt, auch wegen der Inflation. Spannend finde ich den Unterschied: Wenn dein Haus zerstört wird durch ein Gewitter, dann ist das ein anderes Empfinden, als wenn dein Haustraum zerstört wird durch politische Regelungen. Weil dahinter Menschen stecken, die eine Entscheidung getroffen haben. Menschen, die man vielleicht selbst gewählt hat und die von ihren Entscheidungen als Vielverdiener kaum betroffen sind.
 
Stichwort Bindung: Wer gemeinsam einen Kredit aufnimmt und ein Haus baut, muss sich der gemeinsamen Zukunft und des bevorstehenden Stresses bewusst sein. Das muss doch auch ein Problem sein, dass etwas eigentlich Positives für die Familie sich in der Praxis ins Gegenteil verkehren kann.
 
Ich merke in Workshops und Coachings, dass Menschen durch diese Kette von Veränderungen, die wir seit dreieinhalb Jahren erst durch die Pandemie und danach durch Krieg und Inflation erleben, in einem gestressten Dauerzustand stecken und Kontrollverlust spüren. Stress, politisches und mediales Misstrauen und Unzufriedenheiten nehmen zu. Viele sagen, sie hören schon gar keine Nachrichten mehr. Es fehle ihnen an Leichtigkeit und Hoffnung und ein Hausbau erscheine plötzlich schwieriger. Es ist ohnehin ein riesiges Projekt mit Streitpotenzial, bei dem es viel zu beachten gilt. Doch nun steigt der Stress, weil im Außen eine so große Unruhe entstanden ist.
 
Könnte man nicht auch argumentieren, dass der Rückzug ins Private, also ins Haus mit Garten, in solchen Zeiten der einzig logische Schritt ist?
 
Ja, um dem Chaos und den Quellen des Ärgers zu entfliehen. Wegen der Kosten ist das allerdings eine Zwickmühle. Wer jetzt ein Haus plant, hat keine Ahnung, was ihn erwartet. Und wer gerade alles bezahlt hat und vorsichtig an Urlaub oder Sparen für die kaputte Regenrinne denkt, fällt in die nächste Krise: 30.000 Euro zur Seite legen, falls bald die Heizung kaputtgeht? Für viele nicht drin.
 
Von 2018 bis 2020 wollten laut Statistischem Bundesamt 1,08 Millionen Menschen in den nächsten ein oder zwei Jahren ein Haus bauen. Dann kam die Pandemie. Wer trotzdem baut, findet kaum Handwerker. Ein Ende des jahrzehntelangen Baubooms scheint in Sicht.
 
Was wieder wirtschaftliche Probleme mit sich brächte und dann steigende Arbeitslosigkeit. Auf dem Dorf kannst du den Leuten auch nicht sagen, dass sie einfach in eine Wohnung ziehen sollen. Gibt ja keine.
 
Also bringt ein Hausbau zunehmend Unsicherheiten und Abhängigkeiten statt Sicherheit mit sich. Tut es zur Not nicht auch eine Eigentumswohnung?
 
Selbst die Eigentumswohnung bringt Folgekosten mit sich. Sanierung, Maßnahmen der Hausgemeinschaft und so weiter. Ich empfehle einer Familie am Anfang einer Planung: Überlegt, was euch wirklich wichtig ist. Hält es die Beziehung aus, sich auf dieses Abenteuer einzulassen? Gibt es Alternativen?
Vor den aktuellen Krisen bedeutete ein Hausbau noch Kontrollüberzeugung.

René Träder, Psychologe

Besonders in Berlin steigen seit ein paar Jahren die Mieten enorm. Manche Leute zahlen für eine Drei- bis Vier-Zimmer-Wohnung über 2000 Euro im Monat. Für das Geld könnte ich auch einen Kredit abbezahlen. 2017 lag das Durchschnittsalter in Berlin für einen Immobilienkauf bei 41 Jahren. In Sachsen-Anhalt bei 37. Das Saarland belegte 2018 Platz eins mit 64,7 % Wohnungseigentümer:innen unter allen Bewohner:innen, Berlin lag auf dem letzten Platz mit 17,4 Prozent. Lässt sich die Frage danach, wer ein Eigenheim besitzt, vorrangig durch die Wohnlage beantworten?
 
Wenn rund die Hälfte aller Deutschen in Eigentumsimmobilien lebt, fällt es nicht leicht, sie zu klassifizieren. Sie sind sehr divers – so wie die Häuser selbst, von der Luxusvilla zur bruchgefährdeten Hütte. Stadt versus Land macht für mich den größten Unterschied. Aber ein Haus bedeutet grundsätzlich nicht unbedingt Luxus. Es ist eine Möglichkeit zu wohnen. In der Stadt fehlt es an bezahlbarem Wohnraum. Wer seine Wohnung hier aufgibt, gilt fast als irre. Kein Wunder, dass auch hier immer mehr Leute, die Geld und einen guten Job haben, Eigentum erwerben.
 
Und selbst dann gibt mir niemand eine Garantie dafür, dass sich diese Investition gelohnt haben wird. Wenn sogar die angeblich sicherste Anlageoption Risiken birgt, geraten bestimmte gesellschaftliche Schichten in die Krise, oder?
 
Nichts im Leben ist sicher. Der moderne Mensch lebt allerdings häufig in einer Scheinsicherheit. Die Erfahrung von plötzlichen Veränderungen bedeutet eine starke Verunsicherung, und auch wieder Stress.
Wir müssen das ernst nehmen. Hausbauer in Not haben keine Luxusprobleme. Sondern welche, die die Regierung durch gute Rahmenbedingungen lösen muss. Viele haben allerdings den Eindruck, dass sie durch Regierungsentscheidungen noch mehr Probleme bekommen. Die Wut, die Proteste, die es nun zunehmend gibt, kann man aus psychologischer Sicht als Symptome für die Dysfunktionalität beziehungsweise Instabilität eines Systems sehen.
Was brauche ich für ein gutes Leben? Nicht unbedingt ein Haus.

René Träder, Psychologe

Wenn es mir nun trotz allem sehr gut gegangen sein sollte, ich einen tollen Job, geheiratet, Kinder gezeugt und ein Haus gebaut habe – ich also all das erreicht habe, was uns unser Leben lang als erstrebenswert erzählt wurde: Wie vermeide ich es, plötzlich in ein Loch zu fallen? Weil keine Ziele da sind und ich nie über andere nachdachte? Oder weil ich glaube, welche haben zu müssen?
 
Mit einem Haus und Garten ist ja eh immer was zu tun. Aber ich sehe den Kern der Frage, hier geht es stärker um Resilienz und Lebensplanung. Das kapitalistische System und seine Auswüchse, also Anhäufung von Besitz und messbarem Erfolg, sind keine Dinge, die uns nachhaltig glücklich machen. Sie stressen uns und sind nicht von Bestand.
 
Man sollte vielmehr schauen, dass man mit der Veränderbarkeit und Unbeständigkeit des Lebens Freundschaft schließt. Du musst dir auch Halt von innen geben können. Was brauche ich für ein gutes Leben? Nicht unbedingt ein Haus. Gerade in Krisenzeiten sollten Menschen sich viel stärker mit sich selbst und mit der Psyche, mit Resilienz befassen. Zumal die aktuelle Krise ja nicht übermorgen vorbei sein wird. Die nächste steht außerdem schon vor der Tür. Eine wichtige Frage für die Lebensführung lautet daher: Wie kann ich trotz oder mit der Veränderung ein gutes und zufriedenes Leben führen?
 
Wie mache ich das?
 
Wenn ich Zahnschmerzen habe, würde ich auch zum Zahnarzt gehen. Und wenn ich merke, dass ich durch die Krisen im Außen in eine eigene Krise komme, weniger Kraft und traurige Gedanken habe, hoffnungslos bin, vielleicht auch öfter in Konflikte gerate, nachts nicht mehr schlafen kann, dann sind das die Symptome unseres inneren Systems, die uns ja zeigen: Hier gibt es gerade eine Disbalance in dir. Und das sind gesundheitsrelevante Aspekte.
 
Woran erkenne ich eigentlich, dass es mir am inneren Halt fehlt, und wie hole ich mir den?
 
Nehmen Sie sich ernst und hören Sie hin, was der Körper für Signale schickt. Sprechen Sie mit Therapeuten, einem Coach oder gehen Sie in die Selbstreflexion – etwa durch Podcasts, Bücher, Seminare, Meditationen. Wie kann ich, wenn das Außen chaotisch ist, trotzdem für mich selbst Frieden finden? Klingt manchmal banal oder abgehoben. Aber es ist die einzige Chance, mit Dingen umzugehen, die ich im Außen nicht gestalten kann. Ich kann nicht die Regierung, meine Nachbarn oder meinen Partner oder meine Partnerin verändern. Nur mich selbst. Und auch das kann einen lebenslang beschäftigen, ganz ähnlich wie ein Haus.
 
 
+++ Dieses Interview erschien am 22. Juni 2023 als Aufmacher im „Tagesspiegel“ sowie am 23. Juni 2023 auf Tagesspiegel Plus. +++
 
 
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