Carsten war mit einer Frau verheiratet. Bis er endlich aussprechen konnte, was er seit Jahrzehnten wusste: dass er schwul ist. Eine Geschichte über das Leben, Lügen, die Liebe und eine Rettung in letzter Sekunde.


Dieser Text erschien am 25. Mai 2024 im gedruckten „Tagesspiegel“ und bereits davor auf Tagesspiegel.de.
Dass Carsten Dobberkau heute glücklich mit einem Mann verheiratet ist und sie gemeinsam in seinem Heimatdorf in der Altmark leben, war für ihn lange undenkbar. Der 57-Jährige ist schwul. Das weiß er, seit er 13 ist. Gesagt hat er es 22 Jahre lang niemandem.
Dobberkau wächst in einem Dorf in Sachsen-Anhalt auf. Vater, Mutter, drei Geschwister. Eine ganz normale Familie. Und wie in so vielen ganz normalen Familien in den späten Siebzigerjahren ist es auch hier so: Probleme gibt es keine, weil man schlicht nicht darüber spricht, was einen so bewegt.
Als Dobberkau das erste Mal spürt, dass er auf Männer steht, kommt er deshalb gar nicht auf die Idee, mit irgendjemandem darüber zu reden, schon gar nicht mit seinen Eltern. Stattdessen lenkt er sich ab. Geht zur Armee. Arbeitet viel, macht Sport, sucht sich Hobbys, zieht nach Berlin, beginnt zu studieren.
1995 heiratet er seine beste Freundin, die er im Tiermedizinstudium kennen gelernt hat. Sie ist kurz vorher von ihrem Verlobten verlassen worden, fragt Dobberkau, ob sie nicht stattdessen heiraten wollen. Wollen sie. Vielleicht würde es ja klappen, dieses Leben, wie alle es von ihm erwarteten – oder er glaubte, dass alle es erwarteten. Da ist er 29. Die beiden kaufen ein Haus auf dem Dorf, bekommen Zwillinge.
Die größte Angst ist die vor Ablehnung
Es läuft gut – bis Dobberkau krank wird. Er verliert Gewicht, leidet unter Schlaflosigkeit. „Irgendwas stimmt nicht mit dir“, sagt seine Frau am Tag, bevor sie mit den Kindern drei Wochen zur Kur fährt. „Nach deiner Rückkehr sag ich es dir“, verspricht Carsten – und sich selbst, sich das Leben zu nehmen, bevor sie wieder da ist.
„Die größte Angst ist in der Regel die vor sozialem Ausschluss“, erklärt Meike Kania-Mentzel. Die
psychologische Psychotherapeutin aus Berlin weiß: Um nicht aus der vermeintlichen Norm zu fallen, machen Menschen absurde Dinge. Zum Beispiel heiraten sie eben eine Frau, obwohl sie sich zu Männern hingezogen fühlen.
Das lag aber natürlich auch an der Zeit, in der Carsten Dobberkau groß geworden ist. „Wer in einem konservativen Umfeld ohne Internet aufgewachsen ist, hatte keine Berührungspunkte mit der Welt da draußen“, sagt sie. Aber auch wer heute auf einem katholischen Internat sozialisiert wird, kann sich mit der eigenen Sexualität noch schwertun.
In ihrer Praxis hat Psychologin Kania-Mentzel viel Kontakt mit jungen queeren Menschen. Die hätten auf der Straße oder auf YouTube jemanden gesehen, der so ist wie sie, gegoogelt – und bald herausgefunden, dass es auch andere queere Personen gibt, sogar Promis. So merken sie: Ich bin nicht allein.
Diese Erfahrung machte Carsten Dobberkau auch, nur sehr viel später. Als seine Frau auf Kur ist, trifft er in Chatrooms erstmals auf Männer, denen es ähnlich geht wie ihm. „Das hat mich gerettet“, sagt er. Einer redet ihm seinen geplanten Suizid aus. Und Dobberkau ahnt zunehmend, dass die Welt nicht hinter dem Schild seines Wohnortes endet.
Mit 35 Jahren beginnt ein neues Leben für ihn
Als seine Frau zurück aus der Kur kommt, gesteht er ihr, dass er schwul ist. „Ich liebe dich, aber wir können nicht mehr zusammen sein.“ Mit 35 Jahren beginnt ein neues Leben für ihn.
Wenn sich ein Partner trennt, weil er schwul oder lesbisch ist, wiegt das für den Verlassenen oft besonders schwer, bestätigt Sonja Bröning,
Professorin für Entwicklungspsychologie an der Medical School Hamburg. „Auf die Tatsache, dass gleichgeschlechtliches Begehren im Spiel ist, reagiert kein Umfeld neutral. Danach stellt der Partner oder die Partnerin in der Regel alles infrage: Wer bist du gewesen? War alles gelogen?“
Der Psychologin Kania-Mentzel ist dabei eines wichtig: „Am Ende geht es um den Menschen, den man verliert. Und nicht um das Geschlecht der neuen Partnerperson.“ Es gelte, was viele Menschen nach einer Trennung erfahren haben dürften: „Für die verlassene Person ist es oft leichter, wenn es einen neuen Partner auf der anderen Seite gibt. Die Hoffnung, dass es doch noch was wird, ist dann nicht mehr so groß.“
Seine Eltern wollten ihn zur Therapie schicken
Carsten Dobberkau und seine Frau schafften demnach das fast Unmögliche: Sie wuppten die Trennung gemeinsam. Sagten es ihren Geschwistern. Ihren Freunden. Den Kita-Erzieherinnen. Den Kegelbrüdern, die seitdem jeden zurechtweisen, der einen homophoben Witz reißt. Und seinen Eltern.
Sein Vater hatte vor allem Angst um den Familienbetrieb, den Dobberkau bis heute führt: „Für ihn war es ein absolutes No-Go, dass sein Sohn schwul ist“, sagt er. Seine Eltern wollten ihn zwischenzeitlich sogar in eine Therapie schicken. „Und wäre ich nicht 35 gewesen, sondern 15, hätten sie es vielleicht gemacht.“
Am Ende geht es um den Menschen, den man verliert. Und nicht um das Geschlecht der neuen Partnerperson.
Meike Kania-Mentzel, Psychologische Psychotherapeutin
„Wir unterschätzen gerade in Metropolen, wie viel Diskriminierung und Stigma queere Menschen immer noch erfahren“, sagt Sonja Bröning. Dazu kommt: Wenn andere Minderheiten stigmatisiert werden, haben sie wenigstens ihre Eltern im Rücken; wer zum Beispiel aufgrund seiner Hautfarbe abgelehnt wird, könne immerhin mit seiner Familie darüber reden. Queere Menschen werden oft von ihren engsten Verwandten abgelehnt, Eltern sind vielleicht enttäuscht, weil sie sich Enkelkinder wünschten. „Das nagt an den Betroffenen“, so Bröning.
Bei einer Beerdigung fiel ihm der Pfarrer auf
In den Jahren nach seinem Coming-out traf Carsten Dobberkau andere Männer und führte die eine oder andere Beziehung. Seinen heutigen Ehemann lernte er durch eine Verkupplungsaktion kennen: Bei einer Beerdigung 2003 fiel ihm der offen homosexuell lebende evangelische Pfarrer auf, der neu in der Nachbargemeinde war. Eine Freundin bemerkte die Blicke, die sich die beiden zuwarfen, ergriff die Initiative und lud beide zu einem Kaffee ein. Sie heirateten standesamtlich in ihrem Landkreis, an Carstens 49. Geburtstag, und mit einer Zeremonie am See Genezareth in Israel.

Seit 2003 zusammen, seit 2014 verheiratet: Carsten Dobberkau (rechts im Bild) und sein Mann (Foto: privat)
So ein Happy End gibt es nicht immer. Vor allem nicht für die Person, die verlassen wird. Nils Wartenberg, der in Wirklichkeit anders heißt, war acht Jahre lang mit seiner Frau verheiratet. Zwei Kinder, große Wohnung in Prenzlauer Berg, gute Jobs. Doch irgendwann stießen die beiden nach zwei Kindern und immer mehr Alltag statt Zweisamkeit an ihre Grenzen. Die beiden machte eine Paartherapie. Ohne Erfolg.
„Ein Jahr zuvor wollten wir noch ein Haus kaufen“
Kurz nach Ende der Sitzungen erfährt der 42-Jährige den Grund dafür. Seine Frau ist lesbisch, sie wünscht sich die Trennung, es habe nichts mit ihm zu tun. Und Wartenberg? Versteht die Welt nicht mehr. „Ein Jahr zuvor wollten wir noch ein Haus kaufen“, sagt der Marketing-Manager. Dass eine andere Frau seinen Platz eingenommen hat, hat er mittlerweile akzeptiert, aber nicht verarbeitet.
Das liegt vielleicht auch daran, dass Betroffene häufig denken, sie stehen allein mit ihrem Problem. Natürlich habe er mit Freunden, die ebenfalls Trennungen hinter sich haben, beim Bier darüber gequatscht, sagt Wartenberg. Aber es sei eben doch nicht das Gleiche. Aktuell wartet er deshalb auf einen Psychotherapie-Platz.
Diese Plätze sind knapp. Noch knapper sind Therapeut:innen, die sich in diesem Bereich auskennen. Viele Fachleute, sagt Sonja Bröning, haben mit dem Thema Queerness wenig Berührungspunkte. Sowohl Menschen, die von ihren Partner:innen verlassen wurden als auch Verlassenden, die Hilfe suchen, empfiehlt Bröning, sich an Einrichtungen zu wenden, die mit LGBTQIA+-Menschen arbeiten. Die können nicht nur dabei helfen, andere Betroffene kennenzulernen, sondern auch dabei, qualifizierte Unterstützung zu finden.
Es geht um die Sehnsucht nach authentischem Leben
Beratende, die das Thema Diversität im Blick haben, zum Beispiel also erkennen können, dass mit gleichgeschlechtlichem Begehren auch Themen wie Identitätssuche und Sehnsucht nach authentischem Leben verbunden sind. Die wissen, dass Angst vor Stigmatisierung und Stress im Umfeld damit einhergehen kann – und dass Diskriminierung gegenüber queeren Menschen auch heute immer noch weit verbreitet ist. Die an ihren eigenen Vorurteilen wie etwa „Homosexualität zerstört Ehen“ oder „Bisexuelle können sich einfach nicht entscheiden“ gearbeitet haben. Und die einen sicheren Raum schaffen, über die Besonderheit des Verlassens für eine:n gleichgeschlechtliche:n Partner:in zu sprechen, ohne dass jedes Problem darauf zurückgeführt wird.
Etwas geheim zu halten, ist für die Psyche schwierig.
Sonja Bröning, Professorin für Entwicklungspsychologie
Wer merkt, dass er oder sie noch nicht bereit ist für ein Coming-out, sollte sich Zeit geben. Niemand muss gleich allen alles erzählen. Aber: „Etwas geheim zu halten, ist für die Psyche schwierig“, weiß Entwicklungspsychologin Bröning. „Man zahlt einen Preis. Heimlichkeit und Scham sind innerlich Nachbarn.“
Carsten Dobberkau verheimlicht gar nichts mehr. Er lebt und arbeitet weiterhin in dem Dorf, in dem er als junger Erwachsener Angst hatte, dass er sich dort nie mehr blicken lassen dürfe. Seine Ex-Frau zog zurück zu ihrer Familie nach Mecklenburg-Vorpommern, die Kinder studieren in Rostock. Gemeinsam mit seinem Mann pflegt er seine 90-jährige Mutter, die bei ihnen lebt. „Heute bin ich mit mir im Reinen“, sagt er, „obwohl ich die Last, meiner Ex-Frau geschadet zu haben, ein Leben lang auf meinen Schultern spüren werde.“
Denn das, so Dobberkau, sei der einzige Vorwurf gewesen, den sie ihm immer noch macht. Dass er sich selbst versteckt habe – und sie geheiratet.

Dieser Text erschien am 25. Mai 2024 als „Wochenende“-Aufmacher im gedruckten Tagesspiegel.
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