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Wenn das Netz stumm bleibt

Für Gehörlose ist das Internet längst nicht so zugänglich, wie es sein könnte. In Videos fehlen Untertitel und Gebärden. Die Bloggerin Julia Probst will das ändern.

Julia Probst hatte nie ein Schrifttelefon. Wenn sie sich im Teenageralter mit hörenden Freunden verabreden wollte, rief ihre Mutter für sie an. Probst ist eine von 80.000 Gehörlosen in Deutschland und doch nicht wie die anderen. Die 29-Jährige ging auf eine Grundschule für Hörende, ist lautsprachig aufgewachsen, Deutsch in Wort und Schrift ist für sie nicht Fremd-, sondern Muttersprache. Die Gebärdensprache hat sie erst mit 17 gelernt.

Trotzdem hatte sie Mühe, die Technik zu nutzen, die Hörenden so selbstverständlich ist. Dann, 1997, kam der heimische AOL-Anschluss und Probst ins Internet.

Heute bloggt sie über ihren Alltag als Gehörlose und twittert, was sie bei Fußballturnieren den Spielern auf dem Platz von den Lippen abgelesen hat. Sie lebt vor, dass das Internet für Gehörlose so wichtig ist, wie es die Einführung des Telefons für Hörende gewesen sein muss. Und gleichzeitig ist sie ein prominentes Beispiel dafür, wie Gehörlose in eben diesem Internet benachteiligt werden.

(…)

Weiterlesen auf ZEIT ONLINE:„Wenn das Netz stumm bleibt“

(erschienen auf ZEIT.de am 18. Juli 2011)

Die Jungs von nebenan

Die gitarrespielende Neuentdeckung des laufenden Jahres heißt Erika M. Anderson, kurz EMA, wohnt in Portland und ist viel lebensfroher, als ihr Solodebüt vermuten lässt. Könnte an ihrer Kindheit liegen.

Erika M. Anderson oder EMA
Viel netter als sie tut: Erika M. Anderson, kurz EMA

Ein bisschen wirkt Erika M. Anderson wie aus dieser Zeit gefallen. Das liegt nicht an ihrem auf der Bühne und in ihren selbstgedrehten Musikvideos zur Schau gestelltem Äußeren, an ihren ausgeschnittenen Shirts, ihrer EMA-Namenskette oder der punkig verlotterten Gesamtästhetik. Es ist ihr Solodebüt „Past Life Martyred Saints“, das sich in seinem düsterdigitalen LoFi-Sound voller Gitarrenfeedback weder in der Riot Grrrl-Bewegung oder im Grunge der Neunziger noch im Indiehipstertum der Nuller einordnen lassen will. „Ich verbrachte viel Zeit in der Noise-Experimental-Impro-Electronic-Szene“, sagt Anderson über ihre Bandvergangenheit mit dem implodierten Drei-Mann-Projekt Gowns und lacht: „Für mich ist das nun ein Popalbum!“

Überhaupt lacht EMA, wie sich nun solo nennt, viel und konterkariert mit ihrem Auftreten so todesmutige Textzeilen wie „I’m just 22 I don’t mind dying“ („California“) oder „I come back to you in another life“. In jenem Song, „Anteroom“, der übrigens so klingt, als hätte Elliott Smith aus dem Jenseits mit in den Vier-Spur-Rekorder gesungen, geht es um den Jungen von nebenan, mit dem Anderson aufwuchs. „Er starb vor ein paar Jahren an Krebs“, sagt sie und relativiert schnell: In dem Song ginge es ihr natürlich auch um tragische Selbstmorde der Rockgeschichte, um Smith und Kurt Cobain.

Entsprechend ist auch der Albumtitel „Past Life Martyred Saints“ ein Shoutout zu den alten Freunden, den „verrückten Jungs aus South Dakota.“ Die waren älter, schmissen Fernseher aus dem Fenster und pissten in Kühlschränke, kannten aber coole Musik. Einer von ihnen dachte, er wäre ein Heiliger in einem früheren Leben gewesen, „er hat eine Sammlung von UFO-Videos und kann dir erklären, wie George Bush und die Queen verwandt und warum beide Reptilianer von einem anderen Planeten sind“, sagt Anderson; ein anderer hatte die Hausnummer von Serienmörder Jeffrey Dahmer auf seinem Knöchel tätowiert, „und in den war ich sogar verknallt!“. Damals wollte Anderson genau so tough sein und bestätigt, dass ihre heutige Selbstsicherheit vielleicht daher komme.

Mit 18 zog sie von Zuhause aus. Seit Januar dieses Jahres lebt Anderson in der boomenden Szenestadt Portland, weil es ihr nach fünf Jahren in Los Angeles zu teuer und nach fünf Jahren in Oakland zu gefährlich wurde. „Eigentlich bin ich in Portland nur im Keller“, sagt sie und erzählt von Bandproben in Flanellhemden und dem ersten Videomaterial von Nirvana, wenn man sie fragt, wie ihr derzeitiges Leben wohl als Film aussähe – und wähnt sich trotz der Aufmerksamkeit, die sie als EMA derzeit erfährt, bereits woanders: „Ich möchte irgendwann aufs Land“, sagt sie und erinnert sich wieder an früher, diesmal ans Angeln mit ihren Onkeln. „Ja, vielleicht ziehe ich wirklich wieder nach South Dakota.“

• Als Kind wollte Erika M. Anderson Cowgirl oder Autorin werden – ihre Mutter will bis heute, dass sie Medizin studiert.
• Ihre jüngere und einzige Schwester spielt Bass in ihrer Liveband.
• In Oakland kuratierte sie Shows, von Experimental über Electronic und improvisiertem Jazz bis hin zu Dance Nights.
• Hobbies außer Musik? „Wein trinken und Kochen, Angeln, Karaoke oder an der Bar sitzen, Bier trinken und mit dem Touchscreen spielen“, sagt sie.
• Der amerikanische Rolling Stone beschrieb EMA als das uneheliche Kind von Sinéad O’Connor. „Ich fand das witzig“, sagt sie, „aber meine Mom nicht! Sie sagte: ‚Ich bin der einzige Mensch, der sich dadurch persönlich angegriffen fühlen könnte‘“.

(erschienen in: Musikexpress, 7/2011, Seite 30, Radar)

tape.tv-CEO Conrad Fritzsch im Interview: „Als MTV zu Ende ging, bin ich in die Luft gesprungen“

Conrad Fritzsch (41), Gründer und Geschäftsführer des Internetsenders tape.tv, über Musikfernsehen im Netz, nervige Werbung und Günther Jauch als Vorbild.

Herr Fritzsch, welches ist Ihr Lieblingsmusikvideo?

Conrad Fritzsch: Mein Evergreen ist „Drop“ von The Pharcyde. Aktuell und vom Style her ist es „Sekundenschlaf“ von Marteria, ich finde auch die visuelle Idee von Mike Skinners „Going Through Hell“ schön, diese Schablonen… Der ganze Film ist eine simple Idee, aber so variiert, dass sie nicht langweilig wird.

Wer schaut sich heute überhaupt noch Musikvideos an: Die Generation Justin Bieber, hartgesottene Fans also – oder etwa doch derjenige, der früher MTV als Begleitmedium flimmern ließ?

Im Allgemeinen gibt es drei Zielgruppen. Die Generation der unter 30-Jährigen kennt Kai Böcking, Formel 1, Ronny’s Popshow oder Ray Cokes nicht mehr, guckt aber trotzdem Musikvideos. Die 30-40-Jährigen kennen das von früher noch, schauen auch ältere Sachen und freuen sich, wenn Depeche Mode ein neues Video machen. Und die über 40-Jährigen sind selektive Gucker. Wir kategorisieren aber am liebsten nach Zuschauern, Kennern und Experten.

Für viele Zuschauer hört die musikalische Welt immer noch hinter den „Bravo Hits“ auf.

Denen wollen wir helfen, sie brauchen Empfehlungen. YouTube stellt die Videos hin und sagt: mach doch. Dann tippen die Leute ihre Bravo-Charts ein. Unsere Redaktion stellt dir Sachen vor. Wenn du die magst, dann findet schnell etwas Ähnliches zu dir. Wir wollen dich besser kennenlernen. Die Leute haben keinen Bock auf Neues, weil zum Beispiel die Nutzungssituation falsch ist – im Auto willst du verdammt nochmal mitsingen! Abends ab 18 Uhr willst du aber unterhalten werden. Entertainment bedeutet überrascht zu werden – aber bitte mit Dingen, die mir gefallen.

Foto:Marijan Murat
Conrad Fritzsch ist Gründer, Inhaber und geschäftsführender Gesellschafter von tape.tv und guckt gerne Musikvideos

Bei tape.tv beschäftigen Sie 50 Mitarbeiter und konnten bei der Gründung 2008 nicht ahnen, ob Ihre Idee funktionieren würde. War das Mut oder Harakiri?

Ich habe lange Werbung gemacht, das hat auch gut funktioniert. Irgendwann saß ich in einer Präsentation bei einem Kunden, für die ich ein Jahr gearbeitet hatte. Und der sagte: Können wir das nicht alles anders machen? Ich dachte: Entweder bringe ich die alle um oder mich. Du arbeitest intensiv für einzelne Kunden und hast immer das Gefühl, dich nicht verwirklichen zu können. Dazu kam: ich hatte wenig mit Musik und Bewegtbild zu tun, bin aber Filmfan. Die Idee zu tape.tv war damals zehn Prozent von dem, was es heute ist. Es gibt einen Satz bei uns: Keiner hat uns verboten heute schlauer zu sein als gestern. Ich bin jetzt 41 und also in einem Alter, in dem viele andere es lieber belassen, wie es ist. Ich finde Veränderung spannend, diskutiere gerne und habe kein Problem damit, wenn ich mich geirrt habe.

Als MTV, die ja mit Musik schon lange nur noch peripher beschäftigt waren, im Oktober 2010 ankündigten, die Bezahlschranken fürs TV-Programm ab 1. Januar 2011 herunterzulassen, sind Sie da vor Freude in die Luft gesprungen? Oder war das längst egal?

Doch, ich bin in die Luft gesprungen – und habe dankbar den Sendeauftrag von MTV übernommen (lacht). Ich hatte ursprünglich vor, erst im Sommer 2011 sehr stark redaktionell zu arbeiten. Aber mir war klar, dass jetzt die Aufmerksamkeit für Alternativen zu MTV besonders groß ist. Anfang 2010 schon hatten wir mit dem Relaunch gemerkt, dass die Verweildauer immer dann steigt, wenn wir eigene redaktionelle Produkte machen. Ein Dachkonzert von Marteria zum Beispiel finden die User sonst nicht im Netz. Als MTV beschloss aufzuhören, wussten wir, dass wir Vollgas geben müssen und haben bislang zehn Formate geschrieben.

Sie finanzieren sich wie andere Bewegtbildanbieter durch Werbung.

Weil ich aus der Werbung komme, weiß ich, wie genervt die Leute von Pre-Rolls, von vorgeschalteten Werbeclips, sind. Bewegtbild ist weit mehr als ein Pre-Roll. Ein Pre-Roll ist ungefähr so eine Denkleistung wie damals, als die ersten Fernsehspots gemacht wurden, da wurde der Radiotext vor der Kamera vorgelesen. Bis heute ist da eine große Entwicklung passiert, und eine ähnliche Entwicklung passiert gerade im Internet. Ich habe damals mein ganzes Geld dort hinein gesteckt, die Werbeagentur verkauft und gesagt: Das mache ich jetzt, und seit drei Jahren mache ich im Grunde nichts anderes. Es ist ein Prozess, den Leuten beizubringen, dass wenn man über das Internet nachdenkt, mit dem Internet und dem User nachdenken muss. Der User ist nämlich der Boss, und wenn er keinen Bock mehr auf den Scheiß hat, macht er ihn aus. Und das geht relativ schnell.

Dafür muss der Nutzer zuerst auf tape.tv geholt werden. Der Erfolg von zum Beispiel Google oder Facebook aber beweist doch: Man muss zu den Nutzern hingehen.

„Im Internet surfen“ ist ein schwieriger Begriff, weil ein Großteil der Nutzer lediglich zu seinen fünf gleichen Seiten geht. Wenn ich morgens aufstehe, checke ich Facebook und E-Mails. Warum sollen wir die sechste Seite werden, die es schafft, so eine Relevanz zu bekommen? Du hast drei Möglichkeiten: Der Fernseher hat es durch Sendeformate und Personen geschafft. Durch Günther Jauch zum Beispiel, durch Identifikationsfiguren. Auch wir wollen Köpfe etablieren und schreiben gerade an Konzepten, bei denen Musiker Interviews mit anderen führen, Roadtrips machen und so weiter. Zweitens: Multi-Access, mehr Touchpoints, mehr Zugang zum Produkt schaffen, auch über unterschiedliche Geräte und unterschiedliche Websites. Drittens: die Ausweitung des Produkts. Warum muss es 25 Services geben, wenn ich mich im Internet mit Musik beschäftigen will? Shazam, wenn ich’s erkennen will. Soundcloud, wenn ich es tauschen will. Spotify, wenn ich es hören will. Wir bauen unseren Service mit dem Ziel aus, die erste Anlaufstelle im Netz zu werden, wenn du irgendwas mit Musik zu tun haben willst. Das ist zumindest unsere in die Zukunft gedachte Vision. Es ist nämlich richtig, dass es ein Irrglaube ist, dass die Leute auf deine Webseite kommen. Die Integration bei Facebook ist auch für uns eine wichtige, um unser Produkt da stattfinden zu lassen. Mit einem großen Autohersteller haben wir einen Channel zur Fashion Week gemacht und dabei haben wir 40 Prozent des Traffics von außen eingesammelt, von Blogs zum Beispiel oder von den Homepages der Bands. Wir könnten aber für andere Seiten ein tape.tv mit anderer Musik machen. Auf tape.tv direkt muss eine Marianne Rosenberg nicht stattfinden.

Sie kommen aus der Werbung, haben vorher Regie studiert, sind nun Unternehmer. Wenn es mit Musikvideos mal nicht mehr laufen sollte, wohin geht Ihre Reise dann? Was ist das nächste große Ding im Internet?

Ich würde in Security investieren. Ist zwar nicht wirklich sexy, aber wichtig. Wenn ich dir sage, pass mal auf, deine Daten sind total sicher und du hast jederzeit völlige Kontrolle darüber, ich würde sofort zehn Euro dafür zahlen. Einen richtigen Plan habe ich aber nicht. tape.tv bietet noch so viele Möglichkeiten der Weiterentwicklung. Ich kann auch sofort in der Branche bleiben. In den letzten zwei Jahren habe ich gefühlt 3000 Vorträge gehalten, ich kann sofort als Bewegtbildexperte irgendwo anfangen. Ich habe nie gedacht, dass ich noch so viel lernen würde in meinem Leben. Ich habe auch noch nie so viel gearbeitet wie in den letzten drei Jahren, vielleicht würde ich also danach auch einfach mal nichts tun. Aber wenn ich dann müsste und total pleite wäre, dann fiele mir schon was ein.

Zur Person:
Conrad Fritzsch studierte Regie an der HFF Babelsberg. 1993-2007 leitete er die Werbeagentur Fritzsch & Mackat. 2008 gründete er gemeinsam mit Stephanie Renner und Lars Diettrich tape.tv. Das Unternehmen zählt aktuell 50 Mitarbeiter und hat Büroflächen und ein eigenes Sendestudio in der Langhansstraße in Berlin-Weißensee. Ein neues interaktives Format heißt ontape, läuft seit dem 12. Mai geplanterweise einmal im Monat live um 21 Uhr und wird einen Tag später im ZDF Kultur ausgestrahlt.

(erschienen bei: BRASH.de, 10. Mai 2011)

Johnny Haeusler im Interview: “Die re:publica ist kein elitärer Zirkel”

Vom 13.-15. April findet in Berlin die Social-Media-Konferenz re:publica XI statt. Mit ihrem Gründer Johnny Haeusler sprach ich für die zitty über Facebook, den Fall Guttenberg und seine (also Haeuslers) Arbeit als Blogger bei Spreeblick. An dieser Stelle: die längere Version des Interviews.

Herr Haeusler, die von Ihnen mitbegründete re:publica findet dieses Jahr zum fünften Mal statt. Was hat sich in dieser Zeit verändert in der digitalen Gesellschaft, in der Welt der Blogs und der sozialen Medien?

Johnny Haeusler, Foto: Jim Rakete
Johnny Haeusler, Foto: Jim Rakete

Johnny Haeusler: Sie sind vielmehr in unserer Gesellschaft angekommen. Am Anfang war es noch eine Nerdgeschichte, dachten wir. Wir – Spreeblick und newthinking, also Markus Beckedahl von Netzpolitik.org und Andreas Gebhard sowie Tanja (Haeusler) und ich – dachten: man müsste sich mal treffen mit allen Bloggern und Twitterern, 300 Leute werden wir schon zusammenkriegen. Dann waren es 700, und letztes und dieses Jahr sind es knapp 3000 Leute, die kommen. Damit ist die re:publica eine der größeren, wenn nicht sogar die größte Social-Media-Konferenz. Die Themen sind immer welche, die später auch im Mainstream stattfinden. Wikileaks zum Beispiel war letztes Jahr ein Thema bei uns, bevor es groß wurde. Auch Fragen zu Netzsperren oder Netzneutralität finden nicht mehr nur in IT-Magazinen oder der Netzwelt, was auch immer das ist, statt. Sie werden auch abends in der Kneipe bequatscht.

An wen richtet sich die re:publica zuerst: an Blogger, Journalisten oder Endverbraucher?

Ja, auch an die User, klar. Aber: Wir sind kein Einführungskurs. Die meisten Besucher fühlen sich mit ihren Tools bereits ein Stück weit zuhause im Internet. Sie sind oftmals selbst Contentproduzenten, und sei es nur durch twittern, auch da verbreitet man ja Links. Andere Leute kommen, um einen Überblick über die Themen zu bekommen. Anders wäre der Zulauf auch nicht zu erklären.

Welche Ziele haben Sie erreicht?

Es geht ja immer um Kommunikation und Austausch. Man ruft eine Konferenz wegen der Feststellung ins Leben, dass es viele Experten gibt. Das merke ich auch bei Spreeblick regelmäßig in den Kommentaren. Aus dieser völlig zerfahrenen Community wollten wir Menschen mit völlig unterschiedlichen Erfahrungen und Interessensgebieten auf eine Bühne stellen, um an ihrem Wissen teilzuhaben. Ich denke das erreichen wir, unbedingt. Es gibt businessorientierte Konferenzen, auf denen ich oft den Eindruck habe, dass die Leute gar nicht das leben, worüber sie da reden.

Was sind die kommenden Ziele?

Wir könnten thematisch noch breiter werden. Einzelne Bereiche zu einer Subkonferenz machen, technische und gesellschaftliche Themen einen ganzen Tag von verschiedenen Seiten beleuchten. Grundsätzlich ist genug Stoff für mehr Themen und mehr Tage da. Wir sind aber zufrieden mit der aktuellen Situation, wir sind Wochen vorher ausverkauft, das nimmt Last, weil wir ja auch ein großes finanzielles Risiko eingehen. Das Vorschussvertrauen, das uns die Leute geben, die ihre Tickets schon kaufen lange bevor das Programm feststeht, gibt uns auch einen besseren Stand bei den Vortragenden. Anfangs griffen wir auf den Bekanntenreis zurück. Die größeren Namen wollen teilweise horrende Honorare haben. Denen müssen wir erstmal erklären, dass das hier anders läuft. Der Eintritt ist sehr niedrig für eine dreitägige Konferenz, keiner soll an einem 2500 Euro-Ticket scheitern. Die re:publica ist kein elitärer Zirkel, und das überzeugt dann auch die Speaker.

Bis vor einigen Jahren waren Blogger noch als pickelige Nerds verschrien.

Es gibt bestimmt auch heute noch Blogger, die pickelige Nerds sind. Das sind aber Klischeebilder. Der bemerkenswerteste Vorgang in den letzten Jahren war, was mit Facebook passiert ist. Für viele Menschen ist Facebook das Internet. Die hatten vorher keinen Chat-Client installiert und waren nicht auf fünf verschiedenen Seiten, um Messages auszutauschen, Fotos oder Videos zu teilen und sich per Mail ihre Geschichten hin und her zuschicken. Facebook hat das alles geöffnet, plötzlich wird jeder zum Mikroblogger. 1400000 Menschen sind in Deutschland bei Facebook registriert. Von dort aus kommen wir zu all den anderen Themen wie Sicherheit, Privatsphäre, die Diskussion um Google Street View. Reden kann darüber fast jeder endlos.

Blogs sind also in der Mitte der Gesellschaft angekommen.

Da lehnt man sich zu weit aus dem Fenster. Ich würde eher sagen, dass die Kommunikation über das Netz sehr stark verbreitet ist. Man kann nicht behaupten, Blogs wären in Deutschland megaerfolgreich. In Amerika, England, Frankreich und, glaube ich, Italien ist das anders. Neulich sagte mir mal einer, das könnte daran liegen, dass die Zeitungslandschaft in Deutschland noch recht gut ist. Du kannst dich hierzulande auch aus den Mainstreammedien verschiedenster Quellen bedienen. Dann ist es hier sehr schwierig, ein Blog, das ja auch ein Fulltimejob sein kann, zu finanzieren. Wenn du deutsch schreibst, ist der Sprachraum und somit die Menge der Leser begrenzt. Die Menschen informieren sich aus ein oder zwei, maximal vier Quellen. Du kannst ja nicht die ganze Zeit fernsehen, Zeitung lesen und dann auch noch Blogs verfolgen oder sogar mitdiskutieren.

Welche Gesellschaftsdebatten wurden in der Vergangenheit über Blogs initiiert?

Themen wie Vorratsdatenspeicherung, Netzsperren oder Netzneutralität wären ohne massive Proteste aus den Blogs nie auf dem Schirm größerer Medien gelandet. Da hat es gebrodelt und gekocht, da war soviel Expertise vorhanden, da kamen Medien und Politik nicht mehr herum. Ein anderes Thema war Guttenberg. Ich bin zwar fern davon zu sagen, dass Blogs der ausschlaggebende Faktor gewesen wären. Aber wenn man sich dieses Wiki anguckt, das innerhalb weniger Tage die Quellen der Doktorarbeit gesucht hat – das ist eine kollaborative Arbeit, die so nur über das Netz möglich ist. Das war ein starkes Zusammenspiel von politischen Interessen, Medien und der Netzgemeinde, die Fakten nachwies. Da hat zum ersten Mal eine Kollaboration stattgefunden. Diese Doktorarbeit kann sich ja kein Journalist und keine Redaktion alleine angucken. Gemeinsam geht es dann.

Ist das ein journalistisches Zukunftsmodell? Der „Guardian“ hat es ja schon vorgemacht.

Wikileaks hat es auch versucht, aber man kann das nicht forcieren. Ob es die einzige Zukunft ist weiß ich nicht, aber bestimmt eine mögliche. So ein Tool muss man umarmen, damit rumspielen und es nutzen. Bei Verlagen gab es die Ansage, nicht zu verlinken. Das widerspricht dem Grundgedanken von Hyperlinks. Jeff Jarvis sagte: “Do what you do best and link to the rest.“ Bei Spreeblick mache ich es auch so: Wenn ich eine Berichterstattung nicht selbst leisten kann, biete ich ein Forum für Themen und Kommentare und verlinke.

Spreeblick ist wider seines Namens kein Hauptstadtblog.

War es auch nie! Das liegt in der Geschichte. Der Name ist im Jahr 2000 aufgekommen. Da war die Idee, ein neues Stadtmagazin aufzumachen, in Richtung zitty oder Tip. Aber wir haben schnell gemerkt, dass wir gerade den Service-Bereich nicht leisten können. Der Name stand im Raum, weil wir damals ein Büro mit Blick auf die Spree hatten. Spreeblick hatte so was Currywurst-Berlinerisches. Dann fing ich an zu bloggen, weil ich mich für die Technik interessierte und habe die Domain Spreeblick.com dafür benutzt. Seitdem gab es immer wieder die Frage, ob das ein Blog über Berlin ist. Und das ist es definitiv nicht. Aber es ist ein Blog aus Berlin. Wir haben Leser, die nicht in Ballungsgebieten wohnen, für die ist die Sicht aus Berlin auf Themen spannend. Ich bin Berliner durch und durch, ich bin hier geboren. Und das spürt man auch.

Wie sieht ein typischer Arbeitsalltag eines hauptberuflichen Bloggers aus?

Im Grunde ist es ein total langweiliger Bürojob, wie bei den meisten Journalisten. Einmal treibt mich das Interesse an guten Themen. Wenn ich ein allgemeines, nicht zeit- und nachrichtenabhängiges Thema finde, dann sitze ich an so einem Text auch mal sehr lange, dann soll er unterhaltsam, toll und gut geschrieben sein. Dann ist es Autorenarbeit. Wenn es um News oder das Posten von Videos geht, dann gehe ich den eigenen Newsreader durch und gucke immer wieder: was gibt es für neue Quellen, was gibt es für neue Blogs? Die mich langweilen, die schmeiße ich dann raus. Bei einem größeren Thema beginnt die Recherchearbeit genauso wie bei Euch: Man nimmt das Telefon in die Hand und versucht mehr rauszufinden.

Gibt es einen täglichen Mindestoutput?

Nein. Was den Traffic angeht: Ich kann mit einem guten Artikel in der Woche die gleiche Anzahl von Usern erreichen wie wenn ich jeden Tag fünf kleinere Sachen mache. Wir wollen trotzdem täglich was bringen. Ich sehe Spreeblick auch als Unterhaltungsmedium. Mich treibt deshalb eher ein Anspruch als ein Druck.

Können Sie davon gut leben?

Ja. Wir waren früh mit Werbung dabei, 2005, dafür haben wir auch viel Haue gekriegt. Aber wir übertreiben es ja nicht, außerdem hat man sich daran gewöhnt. Dann machen wir die re:publica, die uns teilweise mitträgt. Hin und wieder arbeiten wir auch als Dienstleister, setzen Websites um oder betreuen Communities. Aber nicht für jeden.

Stammgast und Internetikone Sascha Lobo wird auch auf der diesjährigen Konferenz wieder sprechen. Viele fragen sich: nervt der nicht?

Sascha ist extrem unterhaltsam, das darf man nicht vergessen. Es gibt nicht viele Menschen im deutschsprachigen Raum, die eine Stunde lang pures Entertainment liefern und dabei auch noch den ein oder anderen sehr klugen Satz sagen. Zu denen gehört Sascha. Ich kann nachvollziehen, wenn man ihn nervig findet. Aber ich verstehe es auch irgendwie doch nicht. Ich finde Dieter Bohlen doof. Aber der betrifft mein Leben nicht. Sascha Lobo drängt sich ja nicht um das Leben irgendeines Menschen. Man kann ihn gut vermeiden. Ich muss das nicht, weil ich ihn sehr schätze.

Was werden in diesem Jahr die Hauptdebatten sein?

Wir haben dieses Jahr sehr viele Sprecherinnen und damit das Thema Feminismus auf dem Plan. Und wir haben zwei neue Oberbereiche, die wir jeweils vier bis fünf Stunden lang mit Vorträgen und Panels angehen: Bei „re:play“ geht es um Games und die Verspielisierung des Lebens, diese ganzen Facebook- und Handygames. Was passiert, wenn Spiele dich den ganzen Tag begleiten und du dir nicht mehr die Auszeit für das Spiel nimmst? Bei „re:design“ setzen wir uns mit design thinking auseinander, also der Frage, was bedeutet Produktgestaltung und Verpackung bedeutet. Mal gucken wie sich das entwickelt.

Sich dem Absurden unterwerfen*

Melodie und Anarchie: Mit „DMD KIU LIDT“ liefert die nach Berlin ausgewanderte österreichische Band Ja, Panik eines der besten, nun ja, deutschsprachigen Alben der letzten Jahre ab. Vielleicht auch, weil ihnen das alles so egal ist.

Es ist ruhig an diesem sonnigen Frühlingsnachmittag in der Markthalle in Berlin-Kreuzberg. Andreas Spechtl hat mal gegenüber gelebt, als er aus Wien vor anderthalb Jahren herzog. Nebenan wohnt Christiane Rösinger, mit der er ihr aktuelles Soloalbum „Songs Of L. And Hate“ einspielte. Er sitzt da, um über seine aufstrebende Band Ja, Panik und erstmals über ihr viertes, komplett in Berlin entstandenes Album „DMD KIU LIDT“ zu sprechen. Es geht um Konstruktion und Destruktion, um Wegnehmen und Räume schaffen, um Erwartung und Versagung. „Nichts ist schlimmer als Selbsterklärung“, sagt Spechtl, während er genau das tut. Schließlich sei so eine Bandkarriere, mit der man zumindest sein Faulenzerleben finanzieren wolle, gepflastert mit Kompromissen; man müsse also ein bisschen darüber reden, wenn man Platten verkaufen will. Und Spechtl will das, „da brauchen wir uns nichts vormachen“.

Andreas Spechtl (2. v.l.) und seine Jungs. Fotos müssen eben sein.

Er, der Songschreiber, Sänger und Gitarrist von Ja, Panik und Bohéme einer gefallenen Indierock-Generation, ist im normalen Leben nicht der Dandy, den er auf seinen Tonträgern bisweilen mimt. Fuchtelt nicht mit den Händen, schleudert weder Parolen noch Gläser gegen die Wand, sitzt da mit seinem Parka über Cardigan und Polohemd, rotem Halstuch und wuscheligem Kopf und sucht nach Worten. „Die Gruppe Ja, Panik hat sich noch nie hingesetzt und auf der Gitarre einfach einen Song gespielt. Bis jetzt“, sagt er und nippt verstohlen an seiner Apfelschorle. „Und dann fragten wir uns: Wie können wir das wieder zerstören?“ Bei Ja, Panik sei alles immer so wild und aufbrausend gewesen, dem wollten Spechtl, Sebastian Janata (Schlagzeug, Gesang), Stefan Pabst (Bass, Gesang), Christian Treppo (Klavier, Gesang) und Thomas Schleicher (Gitarre) radikal entgegenwirken. „Es ist gewissermaßen die entspannteste und reduzierteste unserer Platten“, sagt Spechtl weiter. Vor allem aber ist „DMD KIU LIDT“ eine Platte, die mit ihrem ausgelassenen Situationismus, ihrem dadaistischen Gestus, ihrer Referentialität und ihrer Reduktion bald zu einem der besten deutschsprachigen Popalben der letzten Jahre avancieren dürfte.

„Der Referenzen sind wir uns zwar bewusst. Dieser ganze Zitatwahnsinn, der uns immer arg auf die Fahnen geschrieben wurde, hat aber abgenommen“, relativiert Spechtl, bleibt im Ungefähren und lässt ein bisschen vom mangelnden Selbstbewusstsein durchscheinen, das angeblich alle österreichischen Bands teilen, bevor sie international Erfolge feiern. „Wir haben uns wieder fremder Ideen bemächtigt, die aber viel vager bearbeitet. Früher ist es ja praktisch bis zum Plagiat gegangen.“ Der sperrige Titel bedeutet in voller Länge übrigens „Die Manifestation des Kapitalismus in unserem Leben ist die Traurigkeit“, was Spechtl selbst aber nicht verrät. „Das wird sich noch von selbst erklären“, prophezeit er und will es dabei belassen. Das Gute daran: Ja, Panik funktionieren trotz aller eventuellen Verkopftheit seit jeher genau über dieses Gefühl von Erkenntnis. Auch wenn man von dem, was Spechtl sich da als Flaneur zwischen den Sprachen und aus Impressionsfetzen von Walter Benjamin über Bryan Ferry bis Bob Dylan („Klar bin ich Fan von Roxy Music“) so zusammenreimt, nichts versteht, versteht man dank seines Habitus doch alles. Wo „The Taste and The Money“ (2007) von der SPEX zum wichtigsten deutschsprachigen Album seit Blumfelds „L’Etat Et Moi“ gekürt wurde und der Nachfolger „The Angst And The Money“ (2009) sich noch an der finalen Destruktion von Indierock versuchte und dabei Hits wie „Alles Hin, Hin, Hin“ oder „Pardon“ abwarf, schmeißt „DMD KIU LIDT“, für dessen Aufnahme Ja, Panik dem Rockproduzenten Moses Schneider „Wummsverbot“ erteilten, nun sämtliche Altlast über Bord – und baut sich aus Versatzstücken und einem Entertainer, dessen gesangliches Spektrum die Qualitäten von zum Beispiel Mick Jagger, Dirk Von Lowtzow, Pete Doherty oder Robert Smith nur beiläufig vereint, ein Denkmal seiner eigenen Sozialisation. Von der Hand weisen will Spechtl all das nicht, „am Ende kann ich eh mit allem leben“. Aber auch nicht ausführen oder gar bestätigen. Weil ja nichts schlimmer als Selbsterklärung ist.

* Zitat aus dem Song „Time Is On My Side“ von Ja, Panik. Ihr viertes Album „DMD KIU LIDT“ erscheint am 15. April bei Staatsakt.

(erschienen in: OPAK #8, 24.März 2011)

Radar: Yelle im Interview

Ein charmanter Beweis mehr, dass Popmusik zum Tanzen da ist: Das französische Electrodisco-Trio Yelle.

Als ob es in der Popmusik jemals nur um Worte gegangen wäre. „Kein Problem, wenn die Leute unsere Texte nicht verstehen“, sagt Jean-Francois Perrier mit starkem französischem Akzent. „Als Teenager konnte ich auch nicht verstehen, was Kurt Cobain oder Rage Against The Machine da singen. Aber ich fühlte es ja.“ Perrier ist Schlagzeuger und Produzent des französischen Electropop-Trios Yelle. Auf der Bühne nennt er sich GrandMarnier und tourt mit Keyboarder Tanguy Destable (Tepr) und der namensgebenden Sängerin Julie „Yelle“ Budet seit ihrem MySpace-Hit „Je Veux Te Voir“ um die Welt. In dem Song, der 2005 als alberne Antwort auf die französische HipHop-Gruppe TTC entstand, fiel das Wort „dick“, einmal nur, sagt Budet, und es verstand doch jeder. „Je Veux Te Voir“ wurde in seiner für Yelles Debüt „Pop-Up“ neu aufgenommenen Version ein Charterfolg. Und dass die drei Endzwanziger auch wegen ihrer äußeren Erscheinung ein Stück Pop-Art sind, beweist ihr zweites Album „Safari Disco Club“ erst recht.

Yelle, Tepr und GrandMarnier tragen Dschungel-Kostüme, drehen bunte Videos und feiern die Nacht mit all ihren Höhen und Tiefen als große Inszenierung. Es geht um’s Tanzen und um’s Weinen, um die verschiedenen Zugriffe auf ihre Musik – aber wer müsste dafür auch nur ein Wort Französisch verstehen? „Wir wollen uns auf so vielen Wegen wie möglich ausdrücken. Wir sind in einer Popgeneration geboren, Pop ist ein Teil von uns“, stellt Perrier klar. Ihre Vorbilder seien dementsprechend weder Daft Punk, die wahrscheinlich wichtigsten Elektropioniere ihres Landes, noch Stromae, der „intelligenteste Popstar zurzeit“. „Als Mädchen hörte ich im Radio viel Rap, Snoop Doog, Warren G, aber auch die Chili Peppers oder Madonna. Popmusik in all ihren Facetten“, sagt die 28-jährige Budet. Die anstehende Tour mit Katy Perry, für die Yelle bereits einen Remix produzierten, verwundert daher kaum. „Ich mag ihre Musik nicht wirklich“, gesteht Perrier, aber es sei eine gute Möglichkeit, vor Tausenden von Leuten zu spielen. „Gerade in England wird das eine Herausforderung, dort interessiert sich keiner für französische Musik“, sagt Budet und lächelt überraschend nervös. Könnte sie sich nur selbst auf der Bühne sehen – alle Unsicherheit würde verfliegen.

Dschungelcamp aus Frankreich: Yelle

Was Sie über Yelle auch noch nicht wussten:
• Anders als es die Legende will, war Yelle-Keyboarder Tanguy Destable nie Musikjournalist, der so seine Bandkollegen entdeckt hat. „Ich habe einen Sommer lang bei einem Kulturmagazin als Aushilfe gejobbt, sonst nichts“, sagt er.
• In den USA hat die Band zwei ihnen bekannte Hardcore-Fans mit „Yelle“-Tattoo auf dem Arm.
• Sängerin Julie stieß neulich in einer französischen Zeitung auf ein Mädchen namens Yelle, „obwohl das in Frankreich kein echter Name ist“, wie Budet sagt.

(erschienen in: Musikexpress, April 2011, Seite 31)

Ein Indiana im Frühstücksfernsehen

Vom Abendprogramm ins Frühstücksfernsehen: Für die mediensatirische Liebeskomödie „Morning Glory“ wechselt Hollywoodstar Harrison Ford das Fach. Im Interview erklären er, Hauptdarstellerin Rachel McAdams und Regisseur Roger Michell den Spaß daran.

Popcornkino: Patrick Wilson, Rachel McAdams und Harrison Ford bei der Premiere in New York
Als Harrison Ford, der den Einspielergebnissen seiner 33 Filme zufolge einer der reichsten Schauspieler der Welt sein dürfte, am vergangenen Wochenende zu Werbezwecken in Deutschland war, hätte man schon ahnen können: „Morning Glory“, die neue Komödie von „Notting Hill“-Regisseur Roger Michell, kann jede PR gebrauchen. Zum vierten Mal in seinem Leben war Weltstar Ford in Berlin, und jedes Mal geht es „vom Flughafen ins Hotel, von Termin zu Termin, zurück ins Hotel und wieder in den Flieger“, wie der 68-Jährige im Interview-Marathon im Ritz Carlton mit professioneller Bedacht (oder Langeweile?) berichtet. Zum Reichstag hatte er es noch geschafft, an Seite von Berlinale-Chef Dieter Kosslick, beim Frühstücksfernsehen war er auch. Eine Art außerordentlicher Pflichttermin, schließlich geht es im mit alten und kommenden Stars besetzten „Morning Glory“ um genau dieses Sujet. Ums Frühstücksfernsehen.

Erfolg vs. Liebe, Unterhaltung vs. Information

Die Lokalsender-Produzentin Becky Fuller (Rachel McAdams) kann ihr Glück kaum glauben: Nach ihrem überraschendem Rausschmiss bekommt sie einen neuen Job bei „Daybreak“, der Morning Show im New Yorker Sender IBS. Was sie nicht ahnt: Programmchef Jerry Barnes (Jeff Goldblum) hat die Aufgabe, den heruntergewirtschafteten Laden zu schließen. Will sie ihren Job und ihr Gesicht bewahren, muss die scheinbar überforderte Becky also alles tun, um die Einschaltquoten innerhalb weniger Wochen in die Höhe zu treiben. Sie kündigt dem neurotischen Anchorman und versucht fortan alles Erdenkliche, ihren alten Helden Mike Pomeroy (Harrison Ford), den grimmigen Dinosaurier des Senders, für den Job zu gewinnen – der als erfahrener Nachrichtenjournalist von der Idee genauso wenig begeistert ist wie die nicht minder narzisstische Co-Moderatorin Colleen Peck (Diane Keaton). Und nebenbei trifft die naive wie süße Becky, natürlich, einen äußerst smarten jungen Mann aus der Nachbarabteilung (Patrick Wilson). Das Chaos der Leidenschaften kann beginnen.

„Ob Becky wegen ihrer Unwiderstehlichkeit oder wegen ihrer fachlichen Kompetenz am Ende Erfolg hat? Gute Frage“, findet Rachel McAdams, deren eigene Karriere nach frühen Teenie-Komödien über „Wie ein einziger Tag“ und „Sherlock Holmes“ nun steil nach oben geht und die privat auf greenissexy.org über Dildo-Recycling und andere ökologische Spielereien bloggt. „Mit Honig fängt man mehr Fliegen“, sagt sie schließlich und lächelt ihr unwiderstehlichstes Lächeln. Und ob Erfolg die Liebe nach sich zieht? „Schön wär’s!“.

„Morning Glory“, mit der 32-jährigen McAdams in ihrer ersten großen Hauptrolle, arbeitet sich oft unterhaltsam an den großen und kleinen Fragen der Medienbranche im Besonderen und des Berufsleben im Allgemeinen ab: Liebe oder Erfolg? Unterhaltung oder Information? Für eine Mediensatire sind die Seitenhiebe nicht bissig genug, für eine romantische Liebeskomödie ist der Cast eigentlich zu stark: Harrison Ford glänzt zwar als misanthroper Journalisten-Opa, der plötzlich vor der Kamera Omelett brutzelt und auch privat nach dem Aufstehen zuerst den Fernseher einschaltet, bleibt aber drehbuchgemäß unter seinen Möglichkeiten.

Vom Anchorman zum Frühstückskasper: Mike Pomeroy (Harrison Ford)

Ford macht den Pomeroy

„Mag ja sein, dass ich zu den erfolgreichsten Schauspielern gehöre“, räuspert sich Ford, „aber ich nehme Erfolg oder Misserfolg nicht persönlich. Ich mag einfach meinen Job.“ Glück habe er natürlich auch gehabt, weil er in den Heydays der Industrie zum Film kam, wie er sagt. Nach seinem Durchbruch als Han Solo in „Star Wars“ und seiner Paraderolle als „Indiana Jones“ glänzte Ford vor allem in Politthrillern wie „Air Force One“ oder „Das Kartell“. Mit „Morning Glory“ wechselt er nun ins seichtere Fach – ganz wie seine Rolle Mike Pomeroy. Das von Aline Brosh McKenna („Der Teufel trägt Prada“) geschriebene Drehbuch mochte er besonders, er war als erster an Bord. Mit Regisseur Roger Michell („Notting Hill“) und dem Rest des Cast besuchte er Frühstücksfernseh-Redaktionen, die in Wahrheit ja noch viel chaotischer seien als im Film porträtiert. Und Michell selbst, der gerne absurde Hintergründe beobachtet und porträtiert, wusste mit seinem britischem Humor im letzten der drei Gruppen-Interviews die Geschichte und Zukunft von „Morning Glory“ und seiner Schauspieler-Wunschliste wie folgt auf den Punkt zu bringen: „Harrison war von Anfang an scharf darauf, mit zu machen. Rachel ist klinisch entscheidungsunfreudig, bei Ihr dauerte es länger. Patrick ist das eigentliche Mädchen im Film, und die einzige wirkliche Panne bei den Dreharbeiten war der Sturz auf den Hinterkopf von Diane beim Sumo-Ringen – am zweiten Dreh-Tag! Und wie ich für mich entscheide, ob ‚Morning Glory’ ein erfolgreicher Film ist oder nicht? Gute Frage“, sagt er und zögert das erste Mal kurz. „Fragen Sie mich in drei Jahren nochmal. Wenn ich mir meine Filme mit solchem Abstand angucke und mich nicht in Grund und Boden schäme, dann habe ich schon viel gewonnen!“

Frühstückskomödie:

„Morning Glory“ (USA, 2010)
Regie: Roger Michell
Drehbuch: Aline Brosh McKenna
mit: Harrison Ford, Diane Keaton, Rachel McAdams, Jeff Goldblum, Patrick Wilson u.a.

Kinostart: 13. Januar 2011

www.morninggloryfilm.de

(erschienen auf: BRASH.de, 13. Januar 2011)

„Wir unterstützen die Originalkünstler“

Mash-Up-Parties und Bastard Pop: Was ist das eigentlich? Der Bootie Berlin Crew-DJ André Z. a.k.a. DJ Morgoth muss es wissen.

2003 dürfte ein wichtiges Jahr für die André Z. und seine Crew gewesen sein. Die belgischen Brüder Stephen und David Dewaele brachten unter dem Namen „2 Many DJs“ ein Album auf den Markt, auf dem sie in einem einzigen Remix Peaches mit Velvet Underground, The Stooges mit Salt’n‘Pepa oder Nena mit Destiny’s Child verschmolzen und damit ein musikalisches Genre aus den Clubs in den Mainstream hievten, deren Erschaffung man bislang nur in rechtlicher Grauzone tüftelnden Computernerds zuschrieb: Bastard Pop. Zeitgleich wurde in San Francisco die Bootie-Partyreihe gegründet, die von dort aus schnell Los Angeles, New York, Paris oder München erreichte. „Bastard Pop nannten es die Engländer, Mash-Ups die Amis“, erinnert sich der als DJ Morgoth bekannte Berliner Z. heute, acht Jahre später. „Beides beschreibt eigentlich das gleiche: Das Instrumental aus einem mit den Vocals aus einem anderen Song neu zusammensetzen. Nur ist die Qualität heute viel viel besser als damals.“

Seit 2007 organisiert Z. unter seinem Künstlernamen Mash-Up-Parties in Berlin. Angefangen hat er im U5-Club in Friedrichshain mit „Mash-Up Your Bootz“, seit 2009 legt der 26-Jährige gemeinsam mit David W. a.k.a. BenStiller a.k.a. Sprague a.k.a. Mashup-Germany und Christian V. a.k.a. Dr. Waumiau als Bootie Berlin Crew unter dem Motto „Wir ruinieren Deine Lieblingslieder“ jeden dritten Freitag im Monat im Cassiopeias in der Revaler Straße auf. Dass diese Parties genreübergreifend sind und keinen Platz für Szenedenken lassen sollen, liegt in der Natur der Sache und im Hintergrund der Initiatoren: Z. kommt ursprünglich aus der Heavy-Metal-Szene, W. aus dem Rock und Reggae, V. aus dem Electro-Bereich. Entsprechend tanzen auf dem Dancefloor Fans aller Genres gemeinsam zu Mash-Up-Klassikern wie Metallica vs. Punjabi MC oder Blur („Song 2“) vs. Deichkind („Remmidemmi“), „vom Luftgitarren-Schwinger bis zum Szenemädel. Das ist unser Bild einer perfekten Bootie-Party“, erklärt Z..

Alles außer Szenedenken: Momentaufnahme einer MashUp-Party

Rechtliche Probleme lassen da nicht lange auf sich warten. Während die Clubs ihre GEMA-Pauschalen zahlen, musste Z. seinen DJ Morgoth-Blog wegen dort zum Download angebotenen Mixen bis auf Weiteres schließen. Die Plattenfirmen hingegen freuen sich in der Regel über die Gratispromotion und damit einhergehende Club-Credibility ihrer Künstler, weiß Z.: „Die Labels bieten uns mittlerweile selbst neue Songs an“, sagt er, „und wir haben ja auch keine bösen Absichten: Wir wollen die Originalkünstler unterstützen.“

Mash-Up Your Bootz, jeden dritten Freitag im Monat, 23 Uhr, Cassiopeias, Revaler Str. 99, Friedrichshain, S- und U-Bahn Warschauerstr., Eintritt 6, mit Flyer 4 Euro, www.bootieberlin.com

(erschienen in: zitty 2/2011, 13. Januar, Seite 58)

Eine Blase für sich

So einfach ist das auch nicht: Jetzt werden die Zugezogenen schon per Steckbrief gesucht
Was wäre Berlin ohne seine Gentrifizierungsdebatten. Drüben beim Medienpiraten diskutierten sie zwischen den Jahren erschöpfend über das gute alte und eventuell nicht mehr so gute neue Prenzlauer Berg, und auch Neukölln lebt ja seit geraumer Zeit von Existenzängsten der zugezogeneren Art. Im Sommer wurde ein ehemaliger Puff in meiner Straße in eine Kneipe umfunktioniert, und jetzt, kaum ein halbes Jahr später, hat die Pigalle Bar nach offenkundigen anhaltenden Anlaufschwierigkeiten und wegen mangelndem Charme, Schaumweinabenden und PR-Veranstaltungen schon wieder geschlossen. Vielleicht machen sie ja wieder einen Puff auf, wahrscheinlicher aber eine neue Bar oder ein Restaurant. Ich werde das noch früh genug in Erfahrung bringen.

In der Zwischenzeit sind hier aber auch andere Dinge passiert. Der verschneite Winter konnte Kreuzkotze nicht von den Dächern schmelzen. Allein die Sanderstraße verzeichnete mit einem „Vintage Coffee & Clothes“-Laden namens Sing Blackbird, dem zu einer Clubbar umfunktionierten Heartbreaker und dem Restaurant Pika Pika gegenüber vom Sanderstüb’l mindestens drei Neueröffnungen. In der Friedelstraße gibt es mit Aapka (vorher: Mona Lisa) und Chelany nun ein indisches und ein pakistanisches Restaurant innerhalb von 200 Metern und einen neuen Galerieraum (Soy Capitan), im richtigen Nord-Neukölln hat Barry Burns von der schottischen Postrockband Mogwai aus dem Donau-Eck den Hipstertreffpunkt „Das Gift“ gemacht. Und in der Hobrechtstraße gibt es jetzt einen Hipstery Store.

„Mit Hipstern hat das nichts zu tun“, sagt der 27-jährige Geschäftsführer Adam Fletcher. Fletcher ist Brite und möchte lieber Dr. Willem genannt werden, und der Laden, für dessen Anmietung er und sein Team die 90-jährige Vermieterin nach eigener Aussage sehr lange überzeugen mussten („Keine Kneipe, keine Spielothek, kein Lärm“), ist Büro sowie Ausstellungs- und Lagerfläche für seinen Mystery Shirt-Onlineversand Hipstery.com. Für die zitty hatte ich mit Fletcher und seinem Kollegen Manuel Meurer/Mad Dog über die Beweggründe zur Geschäftsidee dahinter gesprochen – und am Rande natürlich auch über die Wahl des Viertels.

Hipstery Store, Hobrechtstraße, Neukölln

Adam, Manuel: Warum Neukölln?

Dr. Willem: Wir hatten bereits ein Büro in der Nähe, in der Friedelstraße. Außerdem wohnen Mad Dog und ich am Schlesischen Tor und unser Programmierer in Schöneberg, also suchten wir irgendwas dazwischen. Wir mochten die Gegend und fanden das Objekt, eine bewusste Vorab-Entscheidung für diesen Kiez gab es aber nicht. Außerdem bin ich erst seit März 2010 in Berlin und kenne mich kein Stück aus. Meine Freundin und ich haben uns 35 Wohnungen angesehen, jeweils mit rund 50 Mitbewerbern. Wir hätten also auch ganz woanders landen können. So aber kamen wir an unser erstes Büro in der Friedelstraße und haben dort den Kiez schätzengelernt. Es passierte dort seitdem soviel, wir überlegen bereits, noch näher an unser Büro zu ziehen.

Mad Dog: Hier ist es noch nicht so überflutet von Touristen, Hipsters und Spaniern. Es fühlt sich noch so an wie das frühere, entspannte Kreuzberg.

Dr. Willem: Wenn wir richtig Geld machen wollten, hätten wir den Laden nicht hier eröffnet. Sondern in Mitte. Aber dann müssten wir auch härter arbeiten – worauf wir keine Lust haben!

Mad Dog: Oder auf in den Bergmannkiez. Und dann aber doppelte Miete bezahlen.

Warum heißt das Geschäft dann Hipstery?

Dr. Willem: Auch das war, wie die Idee zum Geschäft an sich, keine bewusste Entscheidung, was jetzt klingen muss, als hätten wir ein Geschäft ohne einen einzigen Gedanken aufgebaut. Ich fuhr mit dem Rad Richtung Kneipe und sprach mit einem Kumpel über die Idee. „Hip“ sollte es sein, im Sinne von alter englischer Hipness, aber auch Mystery musste eine Rolle spielen. Eine hippe Mystery. Hipstery. Als wir in der Bar ankamen, sind wir gleich ins Internet und haben uns die Domain gesichert. Das war im Juni oder Juli 2009 in Leipzig, im August sind wir online gegangen mit der englischen Version. Die deutsche folgte im Mai 2010. In Leipzig gibt es keine Hipsters, da war der Name kein Problem.

Hier in Berlin provoziert er gleich ein ganz bestimmtes Bild im Kopf.

Dr. Willem: Ja, hier in Berlin. Das ging so richtig letztes Jahr los, diese Hipsterwelle, mit entsprechenden Blogs und Büchern dazu. Gentrifizierung und Hipsters, die zwei großen Wörter hier. Wir werden auch ständig gefragt, ob wir ein Service für Hipsters seien.

Mad Dog: Das Wort bekam erst in den letzten fünf Jahren diese negative Konnotation.

Dr. Willem: Das Wort „hip“ mag ich eigentlich sehr gerne. Es kommt, glaube ich, ursprünglich aus den 1940ern. Erst nachdem wir das Geschäft starteten, wandelte sich das Wort wirklich zum Schlechten. Das ist schade. Berlin ist da aber eine Blase für sich.

„Offending the Clientele“, Freies Neukölln, Pannierstraße Ecke Weserstraße

via Mit Vergnügen

Die Berliner Gentrifizierungsdebatten werden weitergehen. Ich mag diese Stadt.

„Verbraucher wissen nicht, was sie wollen“: Adam Fletcher im Interview

Adam Fletcher verkauft Mystery-Shirts, die er für seine Kunden aussucht – und sieht in Überraschung und Entmündigung ein Geschäftsmodell, das dem Verbraucher sein Leben erleichtern soll

Des Rätsels wegen möchte er, dass man ihn Dr. Willem nennt. Der 27-jährige Brite Adam Fletcher zog 2007 nach Deutschland. Zwei Jahre, eine Reise und verschiedene Jobs in der T-Shirt-Branche später zog er nach Berlin und gründete im August 2009 den T-Shirt-Online-Shop Hipstery.com. Im Mai 2010 launchte er die deutsche Version, im Dezember dieses Jahres eröffnete der dazugehörige Hipstery Store in Neukölln. Unter dem Motto „liberating you from the burden of choice“ hält er ein Plädoyer für ein bisschen mehr Mysterium beim Einkauf – und denkt die Wundertüte aus dem Spielwarenladen weiter.

Dr. Willem und Kollege Mad Dog: Diese T-Shirts würden sie Angela Merkel, Wash Echte und Klaus Wowereit verkaufen (v.l.)

zitty: Herr Fletcher, nein, Dr. Willem, freuen Sie sich auf Weihnachten?

Dr. Willem: Oh, ja. Weil es natürlich auch für unser Geschäft eine gute Zeit ist. Wer bei uns Geschenke kauft, minimiert sein Risiko: Wenn du dir nicht sicher bist, welches T-Shirt zu der zu beschenkenden Person passt, dann lässt du uns entscheiden. Und wenn es schlecht ankommt, schiebst du die Schuld auf uns.

Glaubt man Ihrem Motto „liberating you from the burden of choice“, müsste sich jeder Konsument freuen, dass Sie ihm die Qual der Wahl abnehmen.

Hinter unserer Idee steht keine rationale wirtschaftliche Entscheidung. Wir haben nie versucht, eine Martktlücke zu finden und zu schließen. Die Idee kam auf einer Party. „Wer war doch gleich Fußball-Weltmeister 1990?“, fragte einer. Ein anderer griff zu seinem Smartphone, googelte die Antwort – und schon war das Interesse an der Frage verloren. Wir finden das praktisch und traurig: Es gibt kaum noch Mysterien, fast jedes Wissen ist zu fast jeder Zeit verfügbar. Die Faszination bei Zauberern aber ist auch nicht die Erklärung des Tricks, sondern dessen Vorführung. Also gründeten wir ein Unternehmen, das ein bisschen Mysterium wiederbelebt. „Fight the demise of surprise“ – bekämpfe den Untergang der Überraschung – lautet unser anderes Motto.

Und das funktioniert?

Die Herausforderung ist, Leute davon zu überzeugen, dass Sie Hilfe bei Dingen brauchen, von denen sie gar nicht wussten, dass sie dort Hilfe bräuchten oder bekommen könnten. Es gibt so viele T-Shirt-Anbieter mit so vielen verschiedenen Stilen und Produktionswegen, da braucht es einen, der diese fragmentierte Welt für einen vorsortiert.

Wo dürfen Ihre Kunden noch mitreden?

Sie dürfen die sechs Fragen unseres Psychotests beantworten. Sie bestimmen Größe, Geschlecht und nennen eine Farbe, die sie auf keinen Fall wollen. Wir fragen auch, wo sie in der Regel einkaufen. Wenn das Europa ist, geben wir ihnen ein Shirt aus den USA und umgekehrt. Sie sollen nach Möglichkeit immer was bekommen, das sie und ihr Umfeld vorher noch nicht gesehen haben. Einer unserer deutschen Lieferanten ist Yackfou. Deren Shirts verkaufen wir bewusst nicht an deutsche, mindestens aber nicht an Berliner Kunden. Weil sie die Marke wahrscheinlich kennen.

Sie behaupten auch über T-Shirts hinaus: Der Verbraucher möchte entmündigt werden.

Ob Schokolade, Websites oder T-Shirts, er kommt um individualisierte Massenanfertigung kaum noch herum. Jeder kann sich heute alles selbst gestalten. Nur: Der durchschnittliche Verbraucher weiß nicht, was er will, er ist damit überfordert. Das habe ich bei meinem vorherigen Job gesehen. Sie können ihm ein weißes T-Shirt hinlegen, und er fragt Dinge wie: „Kann ich vielleicht einen Hund oder so drauf haben?“

Ist das Anhören des mündigen Verbrauchers nicht eine der großen Errungenschaften unserer heutigen Konsumgesellschaft?

Nicht überall. Bei meiner Freundin oder bei Politikern zum Beispiel will ich die Wahl haben, klar. Aber nehmen wir Starbucks, den Vergleich verstehen die Leute immer: Dort hast Du soviel Auswahl und musst eine neue Sprache lernen, um all die Kaffeesorten und Größen zu verstehen. Dabei willst Du nur einen verdammten Kaffee! Viele Anbieter brüsten sich damit, Millionen Produkte im Sortiment zu haben. Diese Auswahl will ich nicht. Also brauche ich jemanden, der mir ein paar Vorschläge macht oder mich in die richtige Richtung lenkt. Das ist die Idee von Hipstery: „Du willst ein T-Shirt? Lass uns die Wahl für Dich treffen. Wir sind Experten, wir sichten den ganzen Tag hunderte, wir arbeiten mit zahlreichen Lieferanten. Vertraue uns und entspanne Dich in der Zwischenzeit.“ T-Shirts sind es übrigens geworden, weil welche sammle, seit ich 16 bin, über einen Vertrieb meine Abschlussarbeit schrieb und zuletzt bei einem großen Versandhandel arbeitete.

Bevormunden Sie nicht die Konsumenten, wenn Sie von Vornherein behaupten, dass man Ihnen die Entscheidung abnehmen müsse?

Nein, wir sprechen ja nur die Kunden an, die ein bisschen Mysterium in ihr Leben zurückbringen wollen und uns, den Experten, vertrauen. Das ist nicht jedermanns Sache. Ich persönlich aber fühle den ständigen Druck, ein bewusster Konsument sein zu müssen: Arbeitet diese Firma ethisch korrekt? Ist es umweltfreundlich, wenn ich dieses Waschmittel kaufe? Ist das T-Shirt kohlenstoffneutral? Soll ich in dieses Flugzeug steigen? Die Unternehmen laden all ihre Informationen bei den sogenannten mündigen Verbrauchern ab, die sich dort durchschlagen und irgendwie die richtige Entscheidung treffen müssen. Wir nehmen den Kunden diese Entscheidungslast ab und können sagen: Wir haben genügend Auswahl, unsere Shirts wurden nicht in chinesischen Sweatshops hergestellt, die Designer wurden fair bezahlt.

Der sieht nur aus wie Adam Fletcher: Dr. Willem, Fan von T-Shirts und Rätseln

Mit dieser Idee sind Sie nicht der Erste.

Es gibt ein Buch namens „The Paradox Of Choice – Why More Is Less“ von Barry Schwartz, das war auch unser Anstoß. Für einfache Entscheidungen ist zuviel Auswahl schädlich. Mit der getroffenen Auswahl wirst Du nie zufrieden sein, weil Du ahnst, vielleicht doch die falsche Wahl getroffen zu haben. Einen anderen Anstoß gab uns der Produzent der so erfolgreichen TV-Serie „Lost“, J.J. Abrams. Für das Wired Magazine schrieb er ein Essay über die Wichtigkeit von Mysterie und ihren maßgeblichen Anteil bei „Lost“. Ich selbst war großer Fan und kann mich an keine andere Sendung erinnern, die dem Bewusstsein seiner Zuschauer so sehr zugesetzt hat und dabei so wenig verriet. Wir waren also fasziniert von den Gedankenkomplexen „The Importance Of Mystery“ und „The Burden Of Choice“ und wollten beides zusammenbringen – ohne dass es eine allzu bewusste Entscheidung gewesen wäre.

Und damit wird man reich?

Wir arbeiten momentan mit rund 45 Zulieferern zusammen und haben mittlerweile über 4000 Kunden und ständig über 1000 Shirts auf Lager. Aber wir werden nie ein Mainstream-Angebot wie Amazon oder Zalando werden. Wir alle bei Hipstery haben auch andere Jobs, mit denen wir unser Geld verdienen.

Wo fühlten Sie sich selbst zuletzt zu Unrecht entmündigt?

Wo ich gerne mehr Auswahl gehabt hätte? Gute Frage. Mir fällt gerade nichts ein.

Und zu Recht?

Meine Eltern besuchten mich neulich in Berlin. Ihr Hotel fanden sie über eine Website, auf der man nur eine Preisklasse und die ungefähre Lage angibt. Sie landeten in Tiergarten und waren sehr zufrieden. So funktioniert auch Hipstery: Erst kauft Du es, und dann erfährst Du, was Du gekauft hast. Den Rest erledigt die Mund-zu-Mund-Propaganda im Internet. Heutzutage kann man sich nicht erlauben, schlechte Arbeit zu machen, das weiß sofort jeder. In Zukunft wird es mehr Geschäfte wie unseres geben, die vorher keine Chance gehabt hätten. Weil nun jeder sehen kann, ob einer gute Arbeit macht oder nicht.

Hipstery Store, Hobrechtstr. 18, 12047 Berlin-Neukölln, www.hipstery.com

(erschienen in: zitty 24/2010, 15. Dezember 2010)