Goldgräberstimmung: Die (Pop-)Kulturgeschichte des lange belächelten Audiomediums „Podcast“ nimmt seit Jahren rasant an Fahrt auf. Die Überschreitung ihres kommerziellen Zenits ist nicht in Sicht. Noch nicht.

Jedes neue Medium braucht ein paar Neugierige, die es benutzen und für eine möglichst breite Masse benutzbar machen. Bei der Verbreitung des Buches half Johannes Gutenbergs Erfindung eines neuen Druckverfahrens. Kein Hyperlink-Internet ohne Tim Berners-Lees World Wide Web. Kein Social Media ohne unseren ersten Online-Freund Tom Anderson, Co-Gründer von MySpace. Einer der zumindest in der deutschen Digitalbranche bekanntesten Early Adopters des Mediums „Podcast“ heißt Tim Pritlove. Er hat die Technik nicht erfunden, aber ihre Vorteile als einer der ersten in Deutschland erkannt und damit experimentiert. Seinen Podcast „Chaosradio Express“, anfangs eine Ergänzung seiner Radiosendung „Chaosradio“, rief er 2005 ins Leben. Und damit zwei Jahre, bevor Apple das erste iPhone vorstellte und damit die eigentlichen Weichen – Stichwort Nutzungsveränderung durch mobiles Internet – für die Verbreitung von Podcasts stellte.
2004 ging der Podcasts-Boom schon los
Die (Kultur-)Geschichte von Podcasts, wie wir sie kennen, begann im Jahr 2003. Der New Yorker Software-Entwickler Dave Winer erfand den ersten RSS-Feed für Audiodateien – eine Technik, mit der User über neue Blogposts oder News von abonnierten Quellen informiert wurden. Als weltweit erster Podcast im selben Jahr gilt „Radio Open Source“ vom „New York Times“-Journalisten Christopher Lydon. 2004 folgte die erste Gratis-Software zum Empfang und Konsum der neuen Kulturtechnik. „iPodder“, so ihr Name, wurde nach rechtlichem Druck von Apple in „Juice“ umbenannt.
Plötzlich ging alles ganz schnell: Während erst ein Jahr zuvor Googles Suchmaschine die ersten Treffer zum Suchbegriff „Podcasts“ landete, sollen es im September 2005 schon über 100 Millionen gewesen sein. Der ehemalige MTV-Moderator Adam Curry, der sich als Early Adopter übrigens schon 1993 die Domain mtv.com sicherte, gründete im selben Jahr mit „PodShow“ ein Podcast-Netzwerk, in dem er auch seine eigenen Sendungen vertrieb; Apple implementierte Podcasts – ein Kofferwort aus dem tragbaren Musikabspielgerät iPod und „Broadcasting“, also „senden“ – in seine iTunes-Software. Im April 2006 fand sogar ein erster deutscher Podcast-Kongress in München statt, zwei Monate darauf startete Bundeskanzlerin Angela Merkel als erste Regierungschefin weltweit einen eigenen Video-Podcast.
Verbreitung von Podcasts: Danke, Merkel!
Der Weg zum Durchbruch als Massenmedium war damit geebnet, doch der Mainstream blieb skeptisch. Es brauchte neben Comedy wie „WTF with Marc Maron“ und frühen Talkformaten wie dem trotz oder wegen zunehmendem Konservatismus und Trump-Nähe im Jahr 2024 reichweitenstärkste Podcast der Welt „The Joe Rogan Experience“ noch zeitlosere Geschichten und Inhalte, die sich auch Nicht-Nerds anhören wollten.
Den Boom auf ein neues Level hoben die us-amerikanische Investigativ-Journalistin Sarah Koenig im Jahr 2014 mit dem True-Crime-Podcast „Serial“ und die seit demselben Jahr ab Werk vorinstallierte eigene Podcast-App auf iPhones (2015 erweiterte Spotify seine App entsprechend). Staffel 1 führte drei Monate lang die iTunes-Charts an und wurde schneller als jeder andere Podcast zuvor fünf Millionen Mal heruntergeladen. Der britische „Guardian“ erkannte darin ein „new genre of audio storytelling“, während Tim Pritlove die von Sendern und Verlagen noch immer als Nerdnische belächelten Podcasts schon auf der Digitalkonferenz re:publica 2012 als „Wiederentdeckung der Langsamkeit“ pries. Der Podcastboom in Deutschland sei danach dreistufig gewachsen, sagt Produzentin und „Pool Artists“-Co-Geschäftsführerin Maria Lorenz-Bokelberg. Zuerst durch „Fest & Flauschig“ 2016, dann durch ihre eigene Produktion „Faking Hitler“ über die gefälschten Tagebücher 2019 und schließlich durch die Corona-Pandemie, Angela Merkel und Christian Drosten, habe jede*r Bürger*in von dieser gar nicht mehr so neuen Kulturtechnik gehört.
True Crime bleibt Podcasts-Treiber
Man kann indes behaupten: So wie die Pornoindustrie als Treiber des Breitband-Internets funktionierte, verdanken wir dem bis heute beliebtesten Format „True Crime“ die Qualität und Vielfalt von allen Podcasts, die über „Talk“ hinausgehen. Allein im Januar 2025 zählten vier der zehn in Deutschland meistheruntergeladenen Podcasts zum „True Crime“-Genre, der Klassiker „ZEIT Verbrechen“ mit 7,95 Millionen Downloads unangefochten auf Platz 1. Am beliebtesten danach sind Podcasts der Kategorien „Nachrichten und Politik“ sowie „Comedy“.
Neben dem Inhalt unterscheiden sich die unzählbaren aktiven deutschsprachigen Podcasts – Schätzungen variieren zwischen 40.000-70.000 Angeboten – grundlegend in ihrer Machart: In sogenannten „Always On“-Laberpodcasts sprechen Hosts, ob Promis, Medienfuzzis oder Journalist*innen, allein, unter sich oder mit Gäst*innen mit oder ohne vorherige Recherche über Themen, die sie beschäftigen. Andere Podcasts führen die Grundidee ad absurdum: Besonders öffentlich-rechtliche Sendeanstalten setzen (wegen Bildungsauftrag und ausreichender finanzieller Ressourcen) zunehmend auf Storytelling, Reportagen und umfangreiche Recherchen und Produktionen als abgeschlossene Mini-Staffeln, die früher™ im Kulturradio gelaufen wären und bei denen es fast wie Verschwendung wirkt, dass nicht gleich noch ein Kamerateam mit dabei war.
Radiomacher*innen sehen (noch) keine Gefahr durch Podcasts
Der Mainstream hat längst Vertrauen geschöpft: Nach aktuellen Umfrageergebnissen im Jahr 2024 konsumieren 45 Prozent der Menschen in Deutschland zumindest selten Podcasts. Im Jahr 2016 waren es noch 14 Prozent. Verweil- und Nutzungsdauer nehmen weiter zu. Mehr als die Hälfte aller Befragten gaben dabei an, dass Spotify die Plattform ihrer Wahl sei. Auch die Werbebranche hat erkannt, dass ein sogenannter Hostread einer möglichst reichweitenstarken Podcast-Stimme, also ein von ihr persönlich eingesprochener Werbeblock, mittlerweile zielgruppengerichteter funktioniert als vergleichsweise unpersönliches Social-Media-Targeting oder breite Radiowerbung.
Bringt das gerade unter jüngeren Menschen beliebte Podcast-Format also das gute alte Radioprogramm zunehmend in Bedrängnis? Statistiken belegen diese Tendenz. Die Gefahr sehen Macher*innen selbst noch nicht. (Mittlerweile Ex-)RBB-Chefredakteur David Biesinger etwa spricht im „Radio Eins“-Medienmagazin, auch im Hinblick auf die eigenen Produktionen und On-Demand-Angebote, vielmehr von einer „friedlichen Co-Existenz“.
Klar ist, dass im Unterschied dennoch der Reiz und das Erfolgsgeheimnis liegt: Erstens basiert die Grundidee von Podcasts in der von unabhängigem Radio durch zum Beispiel Hosts und Themen, die in etablierten Sendeanstalten einst keinen Platz fanden. Zweitens kann ich sie, so wie Netflix und Co. gegenüber dem linearen Fernsehprogramm, hören, wann und wie und mit welcher Unterbrechung ich möchte. Drittens erkannten Adopter wie Pritlove früh, was sich bis heute nicht geändert hat: Viele Zuhörer*innen haben mehr Zeit, als man denkt – beim Einschlafen, beim Sport, auf der Arbeit, im Haushalt – sowie Bedarf daran, gewöhnliche Stimmen in einer intimen Atmosphäre und dabei echten Meinungsaustausch zu hören.
Audio-Podcasts werden zu Video-Formaten
Die „Unique Selling Points“ von Podcasts – jede*r kann einen aufnehmen, jede*r kann dieses Nebenbei-Medium zu einer Zeit und an einem Ort nach Wahl konsumieren – schwinden indes durch zunehmende Professionalität und Zahlendruck: Von Big Playern wie „Gemischtes Hack“ (exklusiv auf Spotify) und „Hotel Matze“ (YouTube) setzen reichweitenstarke Podcasts neben Audio-Verbreitung zunehmend auf Video-Aufnahmen ihrer Gespräche. Fast so, wie die jüngsten Jahrgänge der Gen-Z sich eine Liveversion von Sprachnachrichten wünschten und damit scheinbar das gute alte Telefonat erfunden haben, erfinden andere gerade vielleicht das Format „Talkshow“ neu, vielleicht aber auch bloß die weitere Monetarisierung und Verbreitung eines einst so basisdemokratischen und unverkrusteten Mediums.
Denn klar ist: Wirklich unabhängige Shows so wie Podcasts in ihrer Ursprungsform funktionieren nur dann weiterhin, wenn ihre Hosts mit ihrer Arbeit keinen Cent verdienen wollen oder müssen. Gleichzeitig keine bleibende, steigende oder irgendeine Qualität ohne Etat. Wo die Werbeeinnahmen oder der Drang zur Selbstausbeutung nicht weiter reichen, setzen besonders Indie-Podcasts, die sich dem Mainstream nicht weiter anbiedern wollen, neben Spenden auf Bonusfolgen für zahlende Abonnent*innen. Der Lauf ist trotzdem unaufhaltbar: Podcasts bleiben, doch eines Tages wird die Revolution einmal mehr von ihren eigenen Kindern gefressen worden sein. Und dann, irgendwann, kommt wieder etwas Neues, vielleicht so noch nie oder anders Dagewesenes. Vielleicht ja Speakers‘ corners? Nein, die gibt es schließlich auch schon wieder. Sie heißen Comedyclubs oder Poetryslams.
+++ Dieser Text erschien zuerst in der Musikexpress-Ausgabe 04/2025 als Aufmacher eines Podcast-Specials. Dafür führte ich ferner ein Interview mit Maria Lorenz-Bokelberg und Nilz Bokelberg und listete diverse deutschsprachige Podcast-Empfehlungen für Einsteiger*innen auf. Siehe auch mein Post zum Thema auf Instagram. +++
