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Warum Kettcars „Sommer ’89“ der wichtigste Song des Jahres 2017 ist

Wohltuend, wichtig und überfällig: Kettcar kehren zurück, wenn die deutsche Popmusik sie am meisten braucht. Ein Kommentar.

Kettcar aus Hamburg im Jahr 2017 (Foto: GHVC/Andreas Hornoff)
Kettcar aus Hamburg im Jahr 2017 (Foto: GHVC/Andreas Hornoff)

Was für ein Comeback: Über fünf Jahre hinweg machten Kettcar sich rar. Sende- wegen Familienpause, Labelarbeit, Soloprojekte. Was Männer jenseits der 40 halt so machen, um nicht selbst an den Stammtischen oder in der Spießigkeit zu landen, gegen die sie einst ansangen. Hätten sie sich, wie ihre Freunde von Tomte, still und leise getrennt, weil sie vielleicht nicht mehr genug zu sagen haben – es wäre schade gewesen, es hätte ihnen aber keiner wirklich übel genommen. Dann aber das: Am 11. August 2017 – ziemlich genau 56 Jahre nach Beginn des Mauerbaus – veröffentlichten Kettcar ihr erstes neues musikalisches Lebenszeichen seit 2012. „Sommer ’89 (Er schnitt Löcher in den Zaun)“ ist die erste Single ihres neuen Albums ICH VS. WIR und nicht weniger als ein Storytelling-Kommentar zur Flüchtlingskrise.

Vordergründig geht es um einen jungen Aktivisten, der Wochen vorm Mauerfall sächsischen Familien bei der Flucht in den Westen hilft. Hintergründig geht es aber um die ganz grundsätzliche Aussage, die Schriftsteller Benedict Wells so zusammenfasst: „Gut, dass es immer schon Menschen gab, die anderen Menschen einfach halfen – und erst danach darüber diskutierten.“ Kurzum: Kettcar haben noch genug zu sagen und brechen mit „Sommer ’89“ das Schweigen viel zu vieler anderer deutschsprachiger Musiker zwischen Flüchtlingskrise 2015 und Bundestagswahl 2017. In jeder dringlichen Sekunde der 4:58 Minuten langen gesungenen Geschichte machen Kettcar deutlich, warum darüber verdammt nochmal gesprochen werden muss.

Kettcar waren schon immer eine politische Band. Bekannt, geliebt und manchmal auch kritisiert wurden sie seit ihrem maßgeblichen Debüt DU UND WIE VIEL VON DEINEN FREUNDEN (2002) zwar zuerst wegen ihrer sogenannten Befindlichkeitsfixiertheit – ein Etikett, das sie durch eine Zeile in ihrem Song „Ich danke der Academy“ selbst schufen und durch so aufrichtig-nahbare Lieder wie „Balkon gegenüber“, „Balu“ und „48 Stunden“ verstärkten. Selbst darin blitzten aber immer auch die Parolen und die Punksozialisation ihrer Mitglieder auf, etwa durch Slime-Zitate wie „1/3 Heizöl, 2/3 Benzin“ („48 Stunden“). Dann aber gab es auch Songs wie „Deiche“, musikalisch ein Indierocktanzbodenhit, inhaltlich eine Zustandsbeschreibung von Deutschland nach der Wende. Es folgte mit SYLT ein dezidiert wütendes Album, mit ZWISCHEN DEN RUNDEN ein persönliches und eine lange Pause, in der viel geschah: Flüchtlingskrise und Rechtspopulismus auf der politischen und gesellschaftlichen Ebene, nichtssagende „Deutschpoeten“ wie Giesinger, Bendzko und Co. auf der popmusikalischen. Es brauchte mehr als einen Satiriker wie Jan Böhmermann, der all diese chartstauglichen Allgemeinplätze als Beobachter zerlegt. Es brauchte wen, der die Blase von innen zum Platzen bringt. Es brauchte eine Band wie Kettcar, deren Sänger Marcus Wiebusch in der Zwischenzeit ein Soloalbum aufnahm und in einem der wichtigsten Songs seiner Karriere von einem Tabubruch träumte: In „Der Tag wird kommen“ kritisierte er so öffentlich wie keiner vor ihm Homophobie im Profifußball und entwarf eine Szenario, in dem ein Coming-Out kein Thema mehr sein wird. Es müsste nur einer mal den Anfang machen.

Wie auch in „Der Tag wird kommen“ widmen sich Kettcar mit „Sommer ’89“ einem Thema, das eigentlich gar keines mehr sein sollte. Ein flüchtiger Blick in die Kommentarspalten irgendeiner Nachrichtenseite auf Facebook zeigt beeindruckend, dass das Gegenteil der Fall ist. Ebenda, in dem sozialen Netzwerk, das für Kettcars Ü30-Hörer am relevantesten ist, ernten Marcus Wiebusch, Reimer Bustorff, Erik Langer, Lars Wiebusch und Christian Hake viel Lob für dieses Comeback und ihr Statement. Message und Meinung statt Marketing – wie gut das auch abseits von HipHop tut, wie sehr man Kettcar dafür eben doch vermisst hatte! Weitere Songs auf ICH VS. WIR tragen übrigens Titel wie „Ankunftshalle“, „Das Gegenteil der Angst“ und „Den Revolver entsichern“. Es deutet vieles darauf hin, dass Kettcar auch über „Sommer ’89“ hinaus ein relevantes Comebackalbum aufgenommen haben.

Nichts tun ist auch keine Lösung

Natürlich sind Kettcar nicht die ersten und einzigen Personen, ob privat oder des öffentlichen Lebens, die sich für mehr Menschlichkeit und Mitgefühl einsetzen. Als Band schaffen sie es jedoch, ihre Aussage dank der Kraft ihrer Musik zu emotionalisieren. Gut, das schaffen dümmliche Rechtsrock-Kapellen auch. Aber Kettcar als Mainstream unter den deutschsprachigen Indiebands erreichen abseits der eigenen, eher linksorientierten Blase mit etwas Glück auch ein paar der Wutbürger da draußen, die noch nicht an den rechten Rand verloren sind. Wäre schön, wenn im Wust des Populismus andere Personen des öffentlichen Lebens ihre Reichweite ähnlich sinnvoll nutzen würden, es muss ja nicht gleich Kunst werden. Soll jeder tun, was er oder sie am besten kann: leise Spenden sammeln. Laut Solikonzerte spielen. In Interviews, die nicht vorher von ihrer PR-Abteilung egalisiert wurden, Klartext reden. Mit Fans und Kritikern diskutieren. Zuhören. Auf Facebook dagegen halten. Oder eben, wie Kettcar, einen der wichtigsten Songs des Jahres schreiben. Nur gar nichts zu tun, das war noch nie die beste Lösung.

Kettcars neues Album ICH VS. WIR erschien am 13. Oktober 2017. Dieser Kommentar erschien zuerst am 16. August 2017 auf musikexpress.de.

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