„Es werden viel zu viele mutlose Platten gemacht“

Popmusik, eine Gratwanderung: Virginia Jetzt! veröffentlichen ihr neues Album „Blühende Landschaften“ und sprechen im Blind Date mit dem Musikexpress über Jochen Distelmeyer, die Münchener Freiheit und den Mut zu Kitsch und Indieschlagern. Was zu dieser Zeit noch niemand wusste: Im Mai 2010 würden sich Virginia Jetzt! auflösen.

Blumfeld – „So lebe ich“

Alle (vorm ersten Ton): Blumfeld!
Mathias Hielscher: „So lebe ich“. „Old Nobody“, Lied neun. Wegweisendes Album für uns. Auf unseren letzten drei Platten war immer ein Blumfeld-Moment drauf.

Thomas Dörschel, Mathias Hielscher und Nino Skrotzki. Nicht am Tisch: Drummer Angelo Gräbs.

ME: Wie klingt der?

Thomas Dörschel: Nur eine bestimmte Textzeile, eine Akustikgitarre, Schlagzeug, weicher Gesang. Seit „Old Nobody“ war ich nie mehr richtig aufgeregt, eine neue Platte das erste Mal zu hören.
Nino Skrotzki: Früher habe ich immer meine Eltern belächelt, die ständig sagten, das klänge doch wie die und die Band. Heute denke ich das oft selbst.
Thomas: Blumfeld kam bei uns gerade so rausgeschossen, weil wir damit gerechnet haben. Und wenn bei uns ein Blumfeld-Moment drauf ist, dann beim ersten Lied „So schlägt mein Herz“.
Nino: Bei der Platte mussten sich Blumfeld ja auch viel Kritik anhören wegen des weichen Sounds.

War es nicht Jochen Distelmeyer, der daraufhin gegen Deutschpopbands wie Euch gewettert hat?

Mathias: Eher gegen eine allgemeine Deutschtümelei. Das bezog sich im Nachhinein gar nicht auf uns direkt. Ein Bekannter, der mit Distelmeyer aufgenommen hat, sagte neulich zu mir: „Ach, der mag Euch ja richtig.“

Herbert Grönemeyer – „Halt mich“

Mathias: Elton John?
Thomas : (Gesang setzt ein) Herbert! Wegen „Halt Dich an mich“?

Und weil dieser Song ein Paradebeispiel für die hohe Kunst des unpeinlichen Liebeslieds ist.

Mathias: Gänsehaut. Unfassbar echt. Der sitzt nicht auf einem Turm, sondern macht Fehler wie wir alle.
Thomas: Grönemeyers Saxophonist Frank Kirchner hat übrigens auch auf unserem Album gespielt.

Element Of Crime – „Death Kills“

Mathias (noch vorm Gesang): Element Of Crime? Neue Platte? Nein?
Thomas: Ach, das ist von einer der beiden englischen Platten von früher. Auch nicht? B-Seite?

Vom letztjährigen Soundtrack „Robert Zimmermann wundert sich über die Liebe“. Regeners erste englischen Songs seit rund 20 Jahren.

Thomas: Was deutschsprachige Texte angeht, sind Element Of Crime – mit einigen anderen – das Maß aller Dinge. Seine eigene Art hat Regener auf den letzten 25 Alben konsequent durchgezogen, großartig.

Waren englische Texte für Euch jemals eine Option?

Mathias: Wir haben englisch angefangen. Oder eher mit dem, was im Osten als englisch durchgewunken wurde.
Nino: In Poptexten ging es hauptsächlich um Phonetik, kaum um Inhalte. Es ging um Popmusik und Wohlklang.
Thomas: Es gab keine Poesie. Man spielt ja auch das, womit man aufwächst. Wir haben immer auch viel deutsche Musik gehört. Ich könnte mir uns auch auf englisch vorstellen. Aber wir sind nicht vermögend darin, das zu leisten.
Nino: Wir sind mit der Hamburger Schule aufgewachsen, wo vieles sehr kryptisch und sperrig war. Vieles ist in die Alltagssprache übergangen. Wegen Tocotronic. Empfindungssachen wurden rausgerufen. Dann kam HipHop. Und wenn du heute eine Band gründest, ist es nicht mehr sehr unique, deutsche Texte zu machen.

The Killers – „I can’t stay“

Alle: Killers.
Mathias: Der Mut auf ihrer neuen Platte war tatsächlich auch für uns ein Ansporn. Ein Ansporn zu Saxophonsolos, zu Mike Oldfield-Glocken. Was die sich trauen!
Nino: Die wollten auf ihrer zweiten Platte viel zu viel.
Mathias (lacht): Wir wollten aber auch viel zu viel!
Nino: Das klang wie Wolle Petry, nur besser produziert. Und dann den Mut zu haben, sich dem zu stellen, war analog für uns.
Mathias: Es werden viel zu viele mutlose Platten gemacht.
Thomas: Der Mut, kitschige Sachen zu machen, die erst einmal über die Grenzen des guten Geschmacks hinausschießen, finde ich stark.

Ist “Blühende Landschaften” mutig?

Nino: Auf jeden Fall für uns. Es gab Stellen, an denen wir uns fragten, ob man das wirklich bringen kann. Vor zwei Jahren hätten wir mit “nein” geantwortet.
Mathias: Wir haben uns lange gegen den Begriff Indieschlager gewehrt. Bis andere Bands sagten, wie cool das ist, einen eigenen Begriff zu etablieren. Seitdem versuchen wir nicht mehr, jemand anderes zu sein.
Nino: Pop ist unsere Stärke. Nicht Rock. Früher waren wir Everybody’s Darling in Indieland. Mit “Ein ganzer Sommer” dann kam all der Hass. Im Endeffekt hätten wir es nicht anders machen sollen.
Mathias: Wann kommen denn die Beatles?

Münchener Freiheit – „Ohne Dich“

Thomas: Logisch!
Mathias: Wahnsinn. Unsere Lieblingsband, noch vor Blumfeld, vor Tocotronic, vor den Ärzten. Ich sehe mich noch als Achtjähriger mit meiner Cousine im Wohnzimmer stehen und das Lied kommt im Radio. Schon wieder Gänsehaut. 20 Jahre später spielt Stefan Zauner, der Typ also, den ich damals total super fand, auf unserer Platte mit, wir arbeiten mit ihm. Die haben ja selber gesagt: „Solange man Träume noch leben kann“.
Thomas: Diese Band ist ja eindeutig mit dem Schlagersegment behaftet. Aber es muss etwas dran sein, wenn alle Menschen die Augen weiten, die Mundwinkel nach oben ziehen und das Radio lauter drehen. Wahnsinns-Songwriting, Hut ab vor den Texten, auch wenn die manchmal, das muss auch ich sagen, übers Ziel hinausgeschossen sind. Was sie von vielen anderen Schlagerpopbands der Achtziger unterscheidet: Sie haben sich nicht an mittelmäßigen Bands orientiert, sondern an den Beatles, den Bee Gees, Beach Boys, das hört man. Ausgefuchste Arrangements, die Chöre, Wahnsinn. Harmonisch eine Offenbarung.
Nino: Mit 20 hätten wir auch nicht gesagt, dass die Münchener Freiheit das Maß aller Dinge sind. Das kommt erst aus einem gewissen Selbstbewusstsein heraus. Wenn du so was sagst, sagst du ja vermeintlich mehr über dich aus. Dass du auch Heinz-Rudolf Kunze magst und so.

Jupiter Jones – „Nordpol/Südpol (feat. Jana Pallaske)“

Nino: Kettcar? Muff Potter? Ist aber deutsch? (Gesang setzt ein) Heinz-Rudolf Kunze? Die Stimme klingt ja nicht so indie. Eher so Laith Al-Deen-mäßig.
Thomas: Doch die ist schon indie… aber wer das ist?

Ihr habt garantiert schonmal mit denen gespielt. Fangen mit J an.

Nino: Jupiter Jones?! Wirklich?

Mit „Holiday In Catatonia“ sind sie gerade in die Charts eingestiegen.

Mathias: Wenn die nicht tätowiert sind… Jeder Punk entdeckt, dass da ein vierter Akkord ist!
Nino: Man kann ja auch nicht ewig Punkrock machen.
Thomas: Kann man schon! Der einzigen Band, der ich diesen Wandel nicht verzeihen würde, wären Motörhead.

Rio Reiser – „Junimond“

Mathias: Schon wieder Gänsehaut.
Nino: Viele finden den Song ja so verheizt. Aber der ist unkaputtbar. Ich fand auch die Version von Echt super.
Thomas: Auch Reiser hat seine Steinwerfersongs irgendwann gegen Liebeslieder eingetauscht.

Ist er der beste Songschreiber Deutschlands?

Nino: Nein. Einer von denen. Aber dazu gehört auch Stefan Zauner.
Thomas: Grönemeyer. Regener. Holofernes. Udo Jürgens. Stephan Sulke.

Olli Schulz – „Bloß Freunde“

Mathias: Oliver Schulz.
Thomas: Ich muss dringend pinkeln, hat aber nix mit Oliver Schulz zu tun.
Mathias: Ich auch! Zugegeben: Ich finde Schulz persönlich sympathisch, habe aber mit der Musik Probleme. Ich weiß nicht, was das alles soll. Natürlich ist das Leben genauso lustig wie traurig, so verstehe ich auch seine Musik. Für mich hat er sich mit „Bibo“ beim Bundesvisionsongcontest selbst auf den Punkt gebracht. Das ist die Olli Schulz-Essenz. Konsequenterweise müsste er zwei Bands machen. Die würde ich dann auch beide hören.
Nino: Olli hat damals unseren Spruch geklaut: „Ohne proben ganz nach oben“. Da hatten wir sogar Patent drauf angemeldet. Haben uns aber bereits gerächt dafür…
Mathias: Kommen jetzt die Beatles?

Virginia Jetzt! – „Das Beste für Alle“

Mathias: Endlich! Die Beatles des Ostens! Lange nicht mehr gehört.

Könnt Ihr Euch gut Eure alten Songs anhören?

Thomas: Den hier nicht. Das ist kein Lied mit einem großen Haltbarkeitswert. Dafür mit vielen Fehlern.
Nino: Ich war beeindruckt, wie anders Mieze das damals eingesungen hat. Bei uns herrschte Aufbruchsstimmung.

Ihr singt: „In jedem Falle wär‘s das Beste für alle wenn endlich was geschieht auf dem Gebiet der Rockmusik“. Was ist seitdem passiert?

Mathias: Es sind verdammt gute Platten rausgekommen: Tomtes „Hinter all diesen Fenstern“, Wir Sind Helden, zum Beispiel. Auch bei uns ist was passiert.
Nino: Natürlich war das damals augenzwinkernd. Wir waren keine harte Rockband, wir kamen aus bürgerlichen Verhältnissen. Es ging um ein anderes Selbstverständnis. Wir nahmen unsere Musik ernst, aber nicht uns.
Thomas: Wie Nino sang: Schluss mit diesen Eitelkeiten, diesen Ellbogen, diesem Szenedenken.
Mathias: Was haben Tocotronic im Osten nur angerichtet?


Virginia Jetzt! – „Blühende Landschaften“ (Motor/ RoughTrade), 28. August 2009.


www.virginia-jetzt.de

(in gekürzter Fassung erschienen in: Musikexpress, 08/2009, Seite 26)

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